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Crimetime 717 - Titelfoto © NDR / Telepress

Die Kommissare Nagel und Zufall bringen es an den Tag

Der einzige Tatort-Fall, den Diether Krebs als Kommissar Nagel gelöst hat, ist „Alles umsonst“ aus dem Jahr 1978. Auch die Stadt Braunschweig wurde kein weiteres Mal Schauplatz eines Tatorts. Der 97. Tatort erzählt das Schicksal eines Bäckermeisters, der sein Leben ändern möchte und dabei auf ein wichtiges Hindernis stößt. War der Film so schlecht, dass man diese Schiene nicht fortführen wollte? Dies und mehr klärt sich in der -> Rezension.

Handlung

Erich Schmidt betreibt in einem Großstadtvorort eine gutgehende Bäckerei. Sein Leben verläuft in geordneten, normalen Bahnen. Er ist nicht unzufrieden, wenn ihn auch die Bevormundung durch seine Frau gelegentlich ärgert. Und daß ihm diese Ehe nichts bringt, ja nicht einmal eine Zweckgemeinschaft ist, damit hat er sich abgefunden. Man kennt es ja und hört es auch von Freunden und Bekannten.

Anni Klein arbeitet seit einigen Tagen als Aushilfe in seiner Bäckerei. In den Arbeitspausen plaudert er gelegentlich mit ihr, sie finden sich immer sympathischer. Aber es wird eine mörderische Begegnung. Durch Anni Klein erfährt Erich Schmidt, daß er am Leben vorbeigelebt, daß er eigentlich gar nicht richtig gelebt hat.

Klar, daß unter diesen Umständen das Zusammenleben mit seiner Ehefrau noch unerträglicher wird. Seine Gedanken, sich zu befreien, dieses Hindernis Ehefrau aus dem Weg zu räumen, werden immer konkreter und reifen schließlich, angeregt durch Zeitungsmeldungen zu einem Mordplan – natürlich der perfekte Mord. Und es hätte auch alles prima geklappt, wäre da nicht so ein dummer Zufall gewesen.

Rezension

Die Ausgangslage war gut, denn es fand sich im Jahr 1978 eine Menge an Talent zusammen, um diesen Fall Nr. 97 zu gestalten. Regisseur Hartmut Griesmayr ist mit 26 Tatort-Inszenierungen einer der Frühenden Filmer der Reihe in den Jahren 1979 bis 2007, hinzu kommen fünf Polizeirufe aus den 2000ern. Interessanterweise hat Griesmayr besonders häufig mit den Hamburger Ermittlern Stoever und Brockmöller und mit dem Stuttgarter Bienzle zusammengearbeitet und das Gepräge dieser beiden Schienen ist ja doch recht verschieden voneinander. Unter anderem hat Griesmayr „Bienzles schwerster Fall“ inszeniert, der nach Ansicht der Fans als der vielleicht beste mit dem Schwaben-Kommissar gilt. Außerdem hat er 50 Episoden für die neuere Staffel von „Der Alte“ und seit den 1980ern viele weitere Fernsehfilme gemacht.

Aber „Alles umsonst“ war sein erster Tatort und es könnte ja sein, dass ihm damals noch die Routine gefehlt hat. Oder aber, dass es gerade besser ist, noch nicht so viel Routine zu haben und sich daher mehr zu trauen. Die Musik stammt von Nils Sustrate, der den Finke-Tatorten ihren unverwechselbaren Sound gegeben hat – und mit Diether Krebs, Horst Michael Neutze, Katharina Tüschen und Monica Bleibtreu stand ein hochkarätiges Ensemble vor der Kamera. Die Wahrheit ist: Dieser Tatort ist gelungen.

Nicht alle, deren Meinungen ich gelesen habe, fanden Diether Krebs als Kommissar Nagel glaubwürdig. Ich bin dezidiert anderer Ansicht. Zusammen mit Günter Heising als Kriminalhauptmeister Henkel bilden die beiden ein Duo, das ganz leise, aber unglaublich druckvoll agiert. Sie sind scharfe Denker und gerade diese etwas weiche Optik von Krebs und auch Heising lässt die beiden nachgerade unheimlich wirken. Der Komödiant Krebs verkneift sich hier fast jede Ironie, obwohl man sich ausmalen kann, dass gerade dieses Vermeiden, diese etwas dröge Spielart, für ihn auch vegnüglich gewesen sein dürfte. Die passende Marotte zu dieser Gesamthaltung ist das permanente Anspitzen von Bleistiften.

Dieses Lakonische und gleichzeitig so Drängende ist natürlich nicht besonders sympathisch, aber es ist bei weitem weniger übrgriffig als das, was heutige Ermittler*innen bieten und trotzdem dabei die Identifikation der Zuchauer*innen einfordern. Das tut Krebs nicht, denn die Identifikationsfigur soll der geplagte Bäckersmann Erich Schmidt sein.

Er ist einer der vielen Schmidts in Deutschland, von denen ich persönlich auch ein paar kenne oder kannte, die sich arrangiert haben. Nach dem Krieg war er in den Westen geflüchtet, kam mit nichts und ging ein Ehearrangement mit der ortsansässigen Bäckereibesitzerin ein, um voranzukommen. Liebe war von Beginn an nicht im Spiel, sondern der Wunsch nach Sicherheit. Und mit der Zeit wurde diese Ehe zur Hölle.

Die beiden Polizisten Nagel und Henkel sind nicht nur vom Namensklang einander ähnlich, sondern sehr symmetrisch angelegt – damit das schrecklich dissonante Eheleben der Schmidts noch deutlicher hervortritt. Diesen Kniff beherrscht man heute bei der Inszenierung von Tatorten kaum noch: Durch ein zurückhaltendes Drumherum wenige Menschen noch mehr ins Zentrum zu stellen und ihre Charaktere in aller Ruhe zu entwickeln, auch wenn es für die Zuschauer*innen zuweilen schmerzliche Trigger auslöst.

Diese Szenen: Frau Schmidt sagt zu ihrem Mann, er bekommt auch zunehmend graue Haare. Er antwortet, das wäre noch zu zeigen, wer mehr graue Haare hat. Die bessere Antwort, die sicher auch den Drehbuchautoren hier eingefallen ist: „Denk mal darüber nach, woran das liegen könnte.“ Beides ist keine sehr zielführende Kommunikation, aber rituelle Whataboutismen oder Rückgaben sind die noch schlimmere, verfahrener wirkende Variante, aus der es kein Entkommen gibt, keine verbale Befreiung gibt. Dass die Frau den Mann auch deshalb dominieren kann, weil ihr die Bäckerei gehört und er immer Angst hat, dass sie sich scheiden lässt und ihn rausschmeißt, so wie von einem auf den anderen Tag die Verkäuferin Anni, spielte sicher bei der Entwicklung des Verhältnisses der beiden eine Rolle.

„Alles umsonst“ hat auch viel von den Polizeirufen der DDR-Zeit, die Ende der 1970er auch immer mehr zu Psychodramen wurden – oder er hatte sogar Vorbildfunktion. Auffällig ist, dass das Handlungsmuster der DDR-Reihe entspricht, nicht der damals schon eingeübten Tatort-Variante, in der alles mit einer Leiche beginnt. Vielmehr wird wie in vielen Polizruf-Episoden die Entwicklung hin zum Verbrechen gezeigt und die Ermittler kommen dadurch erst recht spät zum Einsatz, gefühlt nach etwa 50 Prozent der Spielzeit. Auch dadurch wirkt ihr Einsatz freilich zurückgenommener als bei Cops, die von Beginn an Spielzeit bekommen. Was man aber nicht getan hat: Dieses Problem des späten Ermittlereinsatzes, falls man es als eines ansieht, mit Hilfe von Rückblenden lösen, wie es in einigen Polizeirufen sehr schön zu sehen ist. Man wollte offenbar die Chronologie wahren und dadurch eine einen leisen Suspense aufbauen, der in thrilligen Szenen immer vom hohen Zirpen der Streicher unterlegt wird, die Nils Sustrate als beinahe pschomäßiges Motiv in seinen Score integriert hat. Apropos „Psycho“: Auch Hitchcock hat meist strikt chronologisch gefilmt, um die Spannung nicht durch Retrospektiven zu mindern – Ausnahmen waren z. B. „The Wrong Man“ oder die von Salvador Dali gestaltete Traumsequenz in „Spellbound“, die eine Kindheitserinnerung in surrealistische Bilder transformiert.

Horst Michael Neutze hat in vielen Fernsehfilmen auch Polizisten oder Ganoven verkörpert, aber in „Alles umsonst“ spielt er einen Täter, der den Zuschauer geradezu verführt. Selten habe ich einem Mörder so gewünscht, dass er mit der Tat davonkommt, aber es ist relativ früh zu erkennen, dass dies nicht der Fall sein wird. In den 1970ern waren nihilistische Endings noch keine Option und außerdem ist der Mann auch irgendwie ein Pechvogel, man spürt, es wird ihm der Ausbruch nicht vergönnt sein. Weder auf die einfache Art, per Neuanfang mit der hintergründigen, dunkeläugigen Anni, indem beide aus der Vorstadt weggehen, in der jeder jeden kennt und der Kegelclub den sozialen Ankerplatz des Bäckers darstellt – noch durch die mörderische Variante, in welcher er die Bäckerei behalten und allezeit glücklich mit Anni, die er dann wieder einstellen wird, leben kann. Horst Dieter Neutze war übrigens 55 Jahre alt, als er den Bäcker Schmidt spielte. Das ist so eine Wechseljahre-Phase und wenn man erkannt hat, dass das bisherige Setting auserzählt ist, sollte man ernsthaft überlegen, was mit dem Rest des Lebens geschehen soll. Man muss ja nicht gleich den bisherigen Lebenspartner umbringen, um noch einmal durchzustarten und nicht jeder ist finanziell so abhängig, wie es der Bäckermeister leider immer geblieben ist.

Seine Frau, gespielt von Katharina Tüschen, wird allerdings auch richtig schlimm dargestellt. Gäbe es nicht die Geliebte, die sogar bei der Tat mitwirkt, könnte man den Film als frauenfeindlich bezeichnen. Aber selbstverständlich gibt es Megären wie jene Frau Schmidt tatsächlich und es versteht sich, dass der Psychoterror, den sie ausübt, auch eine Art von häuslicher Gewalt darstellt. Aber dann: Der liebenswerte, betagte Uhrmacher von nebenan, in dessen Laden es so herrlich tickt, der erzählt den Polizisten davon, wie sie einst als junge Frau den Nachbarn über die Hungerzeit hinweggeholfen hat, indem sie Backwaren spendete. Das ist nur eine kleine Szene: Auch mit ihr, die nie eine Schönheit war, hat die lange Zeit an der Seite eines Mannes, der sie nie geliebt hat, deutliche Spuren der Verbitterung hinterlassen. Deswegen ist diese Szene, die zwar keine Rückblende darstellt, aber ein Schlaglicht auf die Vergangenheit wirft, so wichtig dafür, dass dieser Film nicht platt wirkt, sondern man sich als Zuschauer*in Gedanken darüber machen darf, wie es eben zu solchen dysfunktionalen Verhältnissen kommt und welchen Anteil die Beteiligten daran haben. Auch durch die Verweigerung von Zuwendung, wie man sie bei einem traumatisierten Geflüchteten, der einfach nur igendwie im Westen ankommen will, durchaus zurechnen kann, kann dabei durchaus eine Rolle spielen.

In seinen besten Momenten ist „Alles umsonst“  zwischen dem Neuen Deutschen Film mit seinem Hang zum Sezieren der Gesellschaft und den erwähnten Kammerspiel-Polizeirufen der 1980er angesiedelt.

Und wie gut ist der Plot? Also, der Zufall, dass der Lover von Frau Schmidt sich wenige Minuten nach dem Mord ins Haus begibt und dabei einen Schlüssel vewendet, von dem Herr Schmidt gar nichts weiß, ist schon krass und auch etwas ärgerlich – aber wenn man sagt, so selten sowas auch vorkommen mag, logisch aufgebaut ist es durchaus. Die Irritation von Schmidt ist herrlich, als Kommissar Nagel ihm sagt, hinten sei gar nicht abgeschlossen gewesen und warum habe jemand trotzdem die Scheibe eingeschlagen? Schmidt weiß natürlich, dass er abgeschlossen hatte oder vielleicht zweifelt er auch daran, jedenfalls hat er den „Fehler“ nicht begangen. Mit der Aussage des Eindringlings kann der Todeszeitpunkt der Frau nun auch so eingegrenzt werden, dass klar ist, das Telefonat in der Kneipe fand statt, nachdem der Mann sie tot gesehen hat, sie kann also nicht am Apparat gewesen sein. Wie gut, dass sich in diesem Film alle Menschen so genau daran erinnern, wann sie was gemacht haben. Es gibt Möglichkeiten, diese Indizienkette in Zweifel zu stellen, aber dazu hätte man mehr Figuren einführen müssen, bei gegebener Konstellation hätte da an den Haaren herbeigezogen gewirkt. Gar nichts bewirkt hingegen die Kriminaltechnik – es muss alles durch Befragungen gelöst werden und eben dadurch, dass ein wirklich seltener Zufall die Ermittlungen voranbringt und ihre Ende zuführt. Was ist also ein perfektes Verbrechen? Eines, das so ausgeführt wird, dass die Tat als solche nicht nachgewiesen werden kann oder eines, das auch alle Zufälle ausschließt?

Finale

Heute gibt es doch diese schönen nicht nachweisbaren Substanzen, mit denen die Mordrate niedrig und die Ermittlungsquote hoch gehalten wird. Ältere, vermögende Menschen sollten generell obduziert werden, wenn sie versterben; vor allem, wenn sie vorher gar nicht so krank waren, aber vielleicht auch dann, denn er weiß, woher der Verfall kam und vielleicht auch die nicht so Reichen, weil auch in der Pflege gerne mal Platz durch aktive Sterbehilfe ohne Zustimmung der Betroffenen geschaffen wird.

Mir hat der Bäckermeister Schmidt leid getan. Es kam alles, wie es kommen muss, es war vorgezeichnet, außerdem hat es der Kegelbruder sowieso geahnt, nachdem die Täterschaft Schmidts indiziert ist – aber „Alles umsonst“ soll ja auch nicht zeigen, wie Ermittler das Recht beugen oder dass Verbrechen lohnt, sondern zum Nachdenken anregen. Zum Beispiel über die eigenen eingeschliffenen Verhaltensweisen in der Familie und ob es nicht Möglichkeiten gibt, eine Neuorientierung zu gestalten, ohne dass am Ende alles umsonst ist.

8/10

© 2020 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Vorschau: Krebs am Tatort

Die Tatort-Folge 097 „Alles umsonst“ gehört zu den sogenannten Eintagsfliegen in der ARD-Krimi-Reihe. Der Braunschweiger Kommissar Nagel, dargestellt von dem bekannten Schauspieler und Kabarettisten Diether Krebs, löste nur einen einzigen Fall im Jahr 1979. Vielleicht wurde dem Komödianten Krebs die Rolle als Kommissar vom Publikum nicht so recht abgenommen. Offiziell heißt es allerdings, er sei nur als Ersatz eingesprungen und es habe niemals Überlegungen gegeben, ihn zu einem festen Bestandteil der Serie zu machen.

(Redaktion Tatort Fans)

Die Fans, die sich auf der Plattform Tatort-Fundus versammeln, um die Filme der Reihe zu bewerten, sind gar nicht so negativ und stufen den einzigen Fall mit Diether Krebs derzeit auf Rang 407 von 1149 ein – für eine „Eintagsfliege“ finde ich das beachtlich, denn gegenüber den „Legenden“ ist es für jene Ermittler*innen, die nur wenige Einsätze hatten, strukturell schwerer – heißt, ihre Filme müssen nach meiner Ansicht etwas besser sein, um auf gleich hohe Punktzahlen zu kommen wie die Produktionen mit den Stars der Reihe.

(…) 1978 wechselte der Schauspieler ins Krimi-Ressort: Acht Jahre lang (1978 bis 1986) gab er neben Werner Kreindl und Bernd Herzsprung den stets mürrischen Kriminalobermeister „Dieter Herle“ in der Serie SOKO 5113. Ein Auftritt als Tatort-Kommissar 1979 blieb bei einer Episode; nur einmal verkörperte Diether Krebs in der Folge Alles umsonst unter der Regie von Hartmut Griesmayr den Ermittler Nagel[3]. Als Gaststar war er jedoch häufiger im Tatort zu sehen, später auch im Polizeiruf 110[4] und in Der Alte.

Zumindest heute sollten die Zuschauer Diether Krebs, der leider 2000 im Alter von nur 53 verstarb, auch als Schauspieler in Krimis in Erinnerung haben, außerdem ist der Film sehr gut besetzt und viele der erwähnten Fans Nutzer des „Tatort-Fundus“ heben auch die Darstellung Horst Michael Neutze hervor. Wir haben den Film aufgezeichnet und demnächst wird bei uns die Rezension dazu erscheinen.

Besetzung und Stab

Kommissar Nagel – Diether Krebs
Anni Klein – Monika Bleibtreu
Seine Frau – Katharina Tüschen
Paul Rickert – Michael Gahr
Ilse – Paola Schoene
Erich Schmidt – Horst Michael Neutze
Herr Mielke – Robert Naegele
Witwe Scherzer – Gisela Zülch
Schulrat a. D. – Helmut Malik

Drehbuch – Theodor Schübel
Regie – Hartmut Griesmayr
Produktionsleitung – Günter Handke
Kamera – Frank A. Banuscher
Schnitt – Karin Baumhöfer
Kostüme – Dore Clemens

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