Jagdrevier – Tatort 29 #Crimetime 928 #Tatort #Kiel #Finke #NDR #Jagd #Revier

Crimetime 928 - Titelfoto © NDR, Sachse

Alle, die nach Torf stinken, vortreten!

Der dritte Tatort mit dem Kieler Kommissar Finke, insgesamt der 29. Film der Reihe, bezeugt, dass damals jede Form von Plotanlage noch etwas wie Anfangszauber aufwies – zumindest, wenn man es auf die Tatorte beschränkt. Aber ein Regisseur wie Wolfgang Petersen, ausgestattet mit dem Gen, großes Kino zu machen, blickte ohnehin über das Krimigenre hinaus und so schrieb Drehbuchautor Herbert Lichtenfeld, sein Partner bei fast allen Finke-Tatorten, eine Handlung, die dem Westerngenre  entnommen ist. Genauer gesagt, einer Mischung aus klassischem US-Western und Italo-Western. Und wie kann man so etwas in Norddeutschland machen? Es ist nachzulesen in der -> Rezension.

Handlung

Dieter Brodschella, der nur noch kurze Zeit seiner Haft zu verbüßen hatte, ist bei Außenarbeiten entwichen. Er will Kresch umbringen. Kresch ist der König von Niederau. Ihm gehören fast alle Grundstücke und Häuser in dem kleinen, abgelegenen Dorf in Schleswig-Holstein. Nach einer Silvester-Party bei Kresch wurde Brodschellas Freundin tot aufgefunden. Kommissar Finke soll nun Brodschella einfangen und Kresch beschützen. Nur: Brodschella will sich nicht einfangen lassen, und Kresch will sich nicht beschützen lassen.

Heise, Ortspolizist in Niederau, kurz vor der Pensionierung, soll Finke helfen. Aber: „Sie werden bei den Leuten hier, schätze ich, wenig Hilfe finden. Also wir sind hier eigentlich alle irgendwie miteinander verwandt,“ meint Heise. Er ist der Schwager von Brodschella.

Oberrat Mertens, Finkes Vorgesetzter, ist auch nicht sehr glücklich. Er wirft Finke vor: „Sie verwechseln vielleicht ganz einfach die Personen“. Es sei zwar bedauerlich, dass eine alte Frau sich das Leben genommen haben, weil Kresch ihr die Miete heraufsetzte. Und die minderjährige Heide Borcherts habe vor der Polizei ausgesagt, dass ein Landstreicher sie vergewaltigt habe. Aber: „Für unseren Fall, Herr Finke, ist das gänzlich unerheblich.“

Rezension

++ Das flache, weite Land eignet sich hervorragend zur Inszenierung einer geradlinigen Geschichte, die stark an „Django“ erinnert, dem Rächerfilm von Sergio Corbucci, deren Ästhetik und deren Rächerfigur aber Sergio Leone geschuldet sind – Jürgen Prochnow kommt dabei Clint Eastwood, dem Star der „Dollar-Trilogie“ näher als Charles Bronson, dem Typ mit der Mundharmonika aus „Spiel mir das Lied vom Tod“, inhaltlich aber ist „Jagdrevier“ etwas dichter an letzterem angesiedelt. Was Dittsche zusätzlich hebt, ist der Umstand, dass ein Mädchen ihn anhimmelt und sich richtiggehend an ihn heranschmeißt, ihm treu ergeben hilft – die Schwester seiner früh zu Tode gekommenen Freundin. Man nimmt das erst einmal nur wahr und macht es sich erst im Verlauf bewusst, dass die Schlichtheit und das Zutrauen von Charakteren zu anderen diese manchmal mehr adelt als ein nachvollziehbares Motiv für ihre Taten.

Leider kann ein Fernsehfilm, und das wusste Petersen natürlich, nicht das Pathos nachbilden, das insbesondere „Spiel mir das Lied vom Tod“ aufweist und diese Wucht entfalten, also müssen andere Elemente den Film besonders charakterisieren, die man mit einfacheren Mitteln zeigen kann. Und da kommt der US-Western traditioneller Machart mit seinen kleinen Dörfern und dem Konflikt zwischen Farmern und Ranchern, die möglicherweise auch noch Frauen der Farmer an sich bringen, genau recht. Der Rancher ist hier ein Grundstücksmakler, der Kampf um Land und Boden wird also sozial ein wenig umgemodelt und natürlich hat der Angehörige dieses wenig geliebten Berufsstandes sowohl Schuld am Tod der Freundin des Rächers als auch das Mädchen vergewaltigt, das Finke schlussendlich im Auto vernimmt. „Mit dem Fall hat das nichts zu tun“, sagt Finkes Vorgesetzter gemäß obiger Handlungsangabe – aber hat es natürlich doch. Nicht, was das Einfangen des Rächers angeht, aber in einer anderen Hinsicht.

++ Sicher gibt es für alle Arten von Tatorten viele Spielarten, wie man sie inszenieren kann. Aber wenn wir „Jagdrevier“ mit den heutigen Dorftatorten, die ebenfalls im Norden spielen, vergleichen, bemerkt man eine deprimierende Rückentwicklung. Bei Finke werden die Dörfler nicht beschönigt dargestellt, aber sie sind Menschen in ihrem eigenen Recht, mit ihrem Gefühlen, ihrem Zusammenhalt, ihrer kleinen Welt, die sie gegen überlegene Gegner verteidigen. Das Stoische ist das Heroische. Und Finke lässt das alles gelten und weiß, was er als Ermittler erreichen kann und was nicht. Es gefällt ihm natürlich nicht, dass die Leute mauern, aber er hat genug Zugang zu deren Mentalität, um zu wissen, dass es nicht mit der Brechstange geht, höchstens mal droht er einem Dorfpolizisten mit Pensionsverlust, der ebenfalls in das Geflecht – verwandtschaftlich, faktisch, psychologisch – eingebunden ist. Welch ein Unterschied zu den heutigen Lindholm-Tatorten, in denen die Dörfler als finstere, rückständige Deppen gezeichnet werden, damit die Ermittlerin umso heller strahlen kann. Die Demut und Bescheidenheit, das Gefühl, es mit echten Menschen zu tun zu haben, die man respektieren muss, diese tatsächliche Form von Toleranz und psychologischem Feingefühl, das ist mittlerweile vollkommen weg, bei der Stadt-Dorf-Kontrastschiene unter den NDR-Tatorten. Die Wertung, die negative, ersetzt die Beobachtung, der Kommentar von oben herab die Interpretationsmöglichkeiten. Kein Wunder, dass die Finke-Tatorte heute noch herausragende Wertungen bekommen, etwa von den Nutzern des „Tatort-Fundus“. Die Leute haben sehr wohl ein Gespür dafür, wie man ihnen gegenübertritt. Das gilt nicht zuletzt für die Zuschauer, denen man einstmals offenbar mehr eigenständiges Denken zugetraut hat.

++Die Besetzung ist ebenfalls superb. Jürgen Prochnow als „Dittsche“ und Klaus Schwarzkopf als Finke funktionieren als Verfolger, als Sheriff oder Marshall und entwichener Sträfling aus dem Arbeitskommando (eine Chaing Gang war es 1972 nicht mehr), die einander im Grunde mögen, hervorragend. Das wiederum erlaubt dem Zuschauer, sich nicht zwischen beiden entscheiden zu müssen, sondern es zu genießen, dass sich „Dittsche“ am Ende freiwillig stellt, nachdem er seinen Racheauftrag erledigt hat. Dass er den tödlichen Schuss nicht abgegeben hat, sondern dass Finke es war, ist psychologisch klasse gemacht, wegen der damit verbundenen Vielschichtigkeit. Dittsche hat Glück, denn er bekommt jetzt nicht noch einen Mord zusätzlich ins Strafregister, sondern nur das Entweichen und den versuchten Mord. Oder mindestens versuchten Totschlag, ohne minder schweren Fall.

Aber was ist mit Finke? Dieser wusste zum Zeitpunkt der Szene um die brennende Scheune herum, dass Kretsch für den Tod von Dittsches Freundin und für die Vergewaltigung der 15jährigen Heike verantwortlich ist. Gab er den letalen Schuss möglicherweise absichtlich ab, um Dittsche zuvorzukommen, und weil er vielleicht sogar findet, dass Kretsch es verdient hat? Natürlich wird man ihn dafür nie belangen, ihm die Absicht bei einem solchen Schusswechsel nie nachweisen können. Und der schweigsame, aufmerksame Polizist wird nie jemandem darüber berichten, was in diesem entscheidenen Moment in seinem Kopf vorging. Legt man seine Tötungshandlung an Kretsch als absichtlich aus, wäre „Jagdrevier“ einer der ersten Tatorte, in dem ein Polizist der Justiz vorgegriffen hat, weil er zum Beispiel keinen Nachweis dafür hat, dass Kretsch die Vergewaltigung wirklich begangen hat. Weil er Heike einen Auftritt vor Gericht ersparen will. Weil der als Unfall deklarierte Tod von Dittsches Freundin vielleicht dem Kretsch ebenfalls nie wird nachgewiesen werden können. Deshalb ist auch das Insistieren bei der 15jährigen Heike bzw. deren mehrmalige Befragung, für ihn notwendig, auch wenn er das Mädchen damit zum Weinen bringt. Er muss es wissen, ob Kretsch schuldig ist, bevor er sich entschließt, ihn nicht vor Dittsche zu schützen, sondern ihn selbst zu töten. So ergibt sich der Sinn des Nachforschens in Sachen Kretsch, um Dittsche wieder einzufangen, hätte Finke dieser Spur nicht folgen müssen. Das ist fantastisch, wie er auf diese Weise seinen Auftrag erweitert und für Gerechtigkeit sorgt. Womit wir nicht ausdrücken wollen, dass wir Selbstjustiz generell gut finden. Aber als Subtext eines Filmes, der sich Zeit lässt mit seinen Figuren und deren Motiven, ist das superb inszeniert. Eben, weil die Handlung so gestaltet ist, dass sie Zeit für dieses Nachdenken lässt.

++ Humor ist auch vorhanden. Humor der feinen Sorte, die sich immer besser erschließt, je genauer man auf bestimmte Szenen einsteigt. Wie Finke in der Kiesgrube dem Dittsche nachstellt, von ihm eins auf die Stirn bekommt und dann später ohne Fremdeinwirkung in die Grube stürzt, vermutlich noch etwas benommen von dem Schlag, und wie Dittsche ihn dann rettet bzw. die Rettung organisiert, ihm später sogar seine Dienstwaffe zurückschickt, das ist echter Westernstyle und hat zusätzlich etwas von den Duellen unter Ehrenmännern, die es in Mantel- und Degenfilmen zu beobachten gibt. Das gibt dem Film eine besondere Würze, einen hintergründigen  Humor, auch wenn es nicht sehr realistisch ist und damit der trockenen, für heutige Verhältnisse sehr lakonischen Art der Inszenierung entgegensteht. Um den Humor auf die Spitze zu treiben, lässt man die Dorfgemeinschaft in der Dorfgaststätte einen Kressin-Tatort schauen.

Eine ganz frühe Tatortkneipe, wie es in Berlin viele gibt. Und alle, die damals aber vermutlich dort geguckt haben, weil sie zuhause noch keinen Fernseher hatten (und natürlich in Schwarz-Weiß, obwohl alle Tatorte von Beginn an in Farbe gedreht wurden), hängen gebannt vor dem Bildschirm und verfolgen Kressins Aktionen. Der Film heißt „Kressin und die Frau des Malers“ und in ihm agiert der Zollfahnder, der immer in Mordfälle hineinkommt, besonders actionmäßig und schlägt sich mit Verdächtigen und gewinnt die Schlägerei. Sein Image als Mini-Bond und als am wenigsten realistischster unter den Tatort-Ermittlern der ersten Stunde drückt sich in dieser Szene besonders gut aus. Unter den Zuschauern also Finke mit seinem Pflaster an der Stirn, der sich von einem Kleinganoven hat klaglos austricksen lassen. Herrlich. Finkes Miene lässt oft mehrere Deutungen zu, so auch hier: Ist er sauer, weil die Fernsehmacher einen Polizisten zeigen, der im Alleingang eine ganze Bande erledigt, und weil er das für Quatsch hält, oder ärgert er sich über sein eigenes Versagen? Vermutlich von beidem etwas. Und das wirkt gleichermaßen humorig wie anrührend. Dass die Dorfgemeinschaft so fasziniert ist von einem Tatort, obwohl sie selbst gerade in einen Fall verstrickt ist und die beiden Dinge prima voneinander  trennen kann, dieser Rekurs auf unsere Fähigkeit, uns abspalten zu können, damit wir im Alltag nicht unter der Summe negativer Einwirkungen zusammenbrechen und das Große und Ganze nicht zu sehr  unser Handeln im Kleinen negativ beeinflusst, hat hier auf nonchalante Art einen Platz in einem Tatort bekommen. Und damit solche Szenen möglich waren, konnte man die Handlung nicht zu komplex anlegen. Nur, wenn man nicht zu hastig ist, kann man solche Szenen wirkungsvoll gestalten.

+ Die Fluchthandlung als solche ist sehr stilisiert. Dass Dittsche immer wieder abhauen, sich ein neues Versteck suchen und sich sogar eine neue Waffe besorgen kann, wirkt etwas gedehnt und redundant, der Psychologie stark untergeordnet, aber auch da sind die großen Westernvorbilder oftmals nicht besser aufgestellt. Naja, vielleicht etwas besser.

Finale

Ein klasse gespielter Film, dessen Schlichtheit konzeptionell bedingt ist – lediglich der Großeinsatz am Ende fällt etwas aus dem Rahmen. Vielleicht dachte man, es ist doch dem Realismus geschuldet, ihn zu zeigen, und natürlich der Fähigkeit des Tatort-Formats, doch etwas mehr zu klotzen. In einem Western hätte es das nicht gegeben – dass Finke erst einmal alleine losziehen muss, um Dittsche zu fangen, ist ja schon unrealistisch, aber notwendig, damit sich eine solche, auf wenige Personen konzentrierte Handlung ergeben kann. Auch, um deren Fragwürdigkeit dieser Verfahrensweise nicht zu deutlich zu machen, wäre es besser gewesen, das Ende mit weniger Personal zu drehen.

Ansonsten aber haben wir an diesem Krimi nicht viel auszusetzen und sind immer wieder davon fasziniert, wie gut die Finke-Tatorte funktionieren. Das Hölzerne, zu sehr Unterspielte, das in manchen  Filmen der Reihe aus den 1970ern und 1980ern bei den Darstellern zu beobachten ist, wird hier zu einer stoischen, präzisen Figurenzeichnung, die Regie lässt es nicht zu, dass irgendwer abfällt oder gar das gesamte Szenario unstimmig wirkt. Die Geschlossenheit dieses Films ist sogar höher als die der meisten anderen Finke-Tatorten, weil man sich besonders mit dem Ort und seinen Menschen auseinandergesetzt hat und das Lokalkolorit so überragend ins Bild gesetzt wird. Dabei kann man feststellen, dass nicht nur bayerisch für Ohren, die es nicht gewöhnt sind, unverständlich klingt. Einige Sätze, welche die Leute miteinander sprechen, haben wir nur knapp sinngemäß verstanden – oder geglaubt zu verstehen.

8,5/10

© 2021 (Entwurf 2015) Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Kommissar Finke – Klaus Schwarzkopf
Jessner – Wolf Roth
Kresch – Walter Buschhoff
Dieter Brodschella – Jürgen Prochnow
Ina Lenz – Vera Gruber
Heise – Uwe Dallmeier
Heinz – Karl-Heinz von Hassel
Mertens – Werner Nippen

Drehbuch – Herbert Lichtenfeld
Regie – Wolfgang Petersen
Kamera – Nils-Peter Mahlau
Musik – Nils Sustrate

1 Kommentar

  1. Nee, da kann ich nicht sagen, daß ich diesen Finke Tatort für einen gelungenen halte!
    Da sind mir die Bösen doch einfach nur Böse und die Guten, auch wenn sie so einfach mal selbst das Gesetz in die Hand nehmen, doch einfach nur und trotzdem zu gut.

    Ganz allgemein finde ich die ersten zwei Drittel, in denen Kommissar Finke allein agiert, nicht überzeugend. Nicht nur so sehr wegen der eigentlich üblichen Polizeivorgehensweise sondern es fehlt dem Kommissar als Gegenpart bzw. als Ergänzung der Assistent. Fällt besonders auf bei der etwas süffisanten Bemerkung des Assistenten kurz vor Schluß des Films, daß sich ja nach des Kommissars Überlegungen jetzt der Täter stellen müßte.

    Der Böse ist ein wohlhabender Grundstücksmakler, der kann ja nur böse sein. Und damit es auch jeder auch so sieht, wird dem Zuschauer so holzhammermäßig dies dann auch durch eine vom Bösen kurz zuvor begangene Vergewaltigung eines jungen Mädchen klargemacht.

    Tja Dittsche (Jürgen Prochnow): Eigentlich bekommt er ja nichts richtig gebacken, kann aber im Macho Stil jungen Frauen Anordnungen zum Frühstücksbesorgen geben. Schießen kann er nicht und läßt sich so einfach mal das Gewehr abnehmen.
    Aber hochmoralisch ist er, Avancen der jungen Frau bügelt er rigoros ab.
    Ich frage mich schon, wieso diese Figur so deutlich unfähig dargestellt wird. Bei allen Schießversuchen ballert er nur herum, trifft aber kein einziges mal. Nur mit kleinen Steinchen ist er erfolgreich?!

    Zu Finkes letalem Schuß: Ich halte das für einen reinen Zufallstreffer bei der Herumballerei bei der Scheune. Zumindest fällt dieser Schuß, als der Kommissar den Kopf abwendet und seinem Assistenten etwas zuruft.
    Eine absichtliche Handlung hätte ich mir bei der Figur des Kommissars auch nicht vorstellen können.

    Nun gut, das ist nur ein Sonntagabend Krimi, so etwas soll ja auch kein epochales Werk sein,
    aber …

    Grüße

    Norbert

    PS: Bitte doch mal den Tippfehler mit der „Chaing“ gang korrigieren. Bin doch erst mal heftig drüber gestolpert und war verwirrt.

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