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Pünktlich zum Start des 9-Euro-Tickets hatte Statista eine Grafik zur Pünktlichkeit der Deutschen Bahn AG im Fernverkehr herausgegeben. Mittlerweile ist das 9-Euro-Tickt vier Wochen alt, sorgt wegen der überfüllten Züge für viel Gesprächsstoff und höhere Corona-Infektionszahlen, ebenso wie der Tankrabatt ins Gerede gekommen ist, weil sich die Mineralölkonzerne die Steuererleichterungen in die Tasche stecken.

Mit anderen Worten: Das Chaos wird immer größer, die Menschen immer unzufriedener. Jahrzehntelange Misswirtschaft anstatt strategischer Wirtschaftspolitik schlagen jetzt voll zu Buche. Und ab 2024 geht es nicht mehr anders, das marode Schienennetz der Bahn muss saniert werden, dann wird wohl fast gar nichts mehr funktionieren. Erinnert Sie das an etwas anderes? Es nennt sich Bundeswehrsanierung und soll 100 Milliarden Euro extra kosten. Wir äußern uns zu alldem ausführlicher im Kommentar, hier zunächst die Grafik:

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Mit der heutigen Einführung des 9-Euro-Tickets sollen die Regio-Angebote der Bahn attraktiver gemacht und die Mehrkosten durch die unter anderem aufgrund des Krieges in der Ukraine steigenden Benzinpreise ausgeglichen werden. Das Konzept scheint aufzugehen: Bereits vor zwei Tagen hatte die Deusche Bahn etwa 2,7 Millionen Tickets verkauft. Welche Auswirkungen die voraussichtlich höhere Auslastung auf die Pünktlichkeit des Nahverkehrs hat, ist bislang noch nicht abzusehen. Die derzeit unterdurchschnittlichen Werte des Fernverkehrs dürften allerdings nicht erreicht werden.

Wie unsere Grafik auf Basis von eigenen Auswertungen der Bahn zeigt, kamen im April lediglich 69 Prozent aller ICEs, ICs und ECs mit einer Verspätung von weniger als sechs Minuten an. Auch die Pünktlichkeit im Nahverkehr ging im Vergleich zum Jahresanfang zurück, lag allerdings immer noch bei etwa 94 Prozent. Spätestens 2024 dürfte allerdings auch dieser Wert deutlich einbrechen. Ab diesem Jahr ist eine Generalsanierung des Streckennetzes geplant, die sämtliche Zugverbindungen betreffen und voraussichtlich zu einer verstärkten Nutzung anderer Verkehrsmittel führen wird. „Wir müssen dieses Thema grundsätzlicher und radikaler angehen“, so DB-Vorstandschef Richard Lutz gegenüber der dpa. „Lieber eine große statt vieler kleiner Sperrungen.“

Laut der Deutschen Bahn finden pro Monat etwa 800.000 Bahnfahrten statt. Davon entfallen 20.000 auf den Fernverkehr, 780.000 auf den Nahverkehr. Der Pünktlichkeitsanteil lag 2021 auf der Langstrecke bei etwa 75 Prozent.

Das große Grauen wird also erst noch kommen. Oder das noch größere Grauen gegenüber den seit vielen Jahren unbefriedigenden Zuständen bei der Bahn. Angefangen hat es, wie so oft, mit dem Privatisierungshype, mit dem angeblich alles besser werden sollte. Erstaunlich, wie es Lobbyist:innen immer wieder verstehen, den Leuten einzutrichtern, der Service, die Wartung, die Pünktlichkeit könnten besser werden, wenn auch noch Gewinne für Aktionär:innen aus einem ohnehin auf Kante genähten System gequetscht werden. Gar nicht zu reden von der negativen Veränderung der Arbeitsbedingungen im Vergleich zu der Zeit, als Bahn-Mitarbeiter:innen noch Beamt:innen waren. In Wirklichkeit geht es nicht um Verbesserungen, sondern um die Mobilisierung der letzten Finanzialisierungsreserven für ein gieriges System, dessen Kapital nicht weiß, wo es noch sinnvoll investieren soll, ohne in eine Blase zu rennen, die irgendwann platzen muss. Blöd allerdings, das bei Unternehmen wie z. B. der ebenfalls mit einem riesigen Hype privatisierten Telekom zu tun, die zu allem Überfluss auch noch von Beginn an eine Geldvernichtungsmaschine darstellte. Das nennt man eine Loss-Loss-Situation und könnte sich bei der Bahnprivatisierung wiederholen. Die Voraussetzungen sind längst geschaffen worden, aber die Befürchtung, dass ein Börsengang angesichts der häufigen Negativmeldungen von der Bahn ein Desaster werden könnte, sind nicht unbegründet.

Das 9-Euro-Ticket ist eine Sondersituation, bei welcher der Bahn unter die Arme gegriffen werden wird, mit Steuermitteln. Aber wer die sonstige Entwicklung verfolgt, wird alsbald über ein weiteres Problem stolpern: Bahnfahren wurde im Zeitalter der Privatisierung nicht nur stressiger, das Netz immer lückenhafter, sondern auch sehr viel teurer – in einem Maße, das die Verkehrswende behindert, weil andere Verkehrsmittel, wie die Nutzung des eigenen Autos oder die zweifelhaften Fernbusse, trotz aller auch in diesem Bereich zu verzeichnenden Teuerungstendenzen günstiger sind, wie schlecht ihre Ökobilanz auch aussehen mag. Wäre das Verursacherprinzip bei der CO²-Belastung berücksichtigt, würde es anders aussehen, aber die wirklichen Marktpreise, die dann entstehen würden, werden von den Apologeten der unbegrenzten persönlichen SUV-Freiheit zu Recht gefürchtet.

Es macht aber auch keinen Spaß, Bahn zu fahren, und das ist ein Faktor, den man nicht unterschätzen darf, in einer Gesellschaft, die hohe Ansprüche an die Funktionalität der Welt stellt, aber nicht die Konsequenz ziehen will, Elemente der Daseinsvorsorge endlich zu vergemeinschaften, die von Knappheit geprägt und nicht, wie im Idealmodell des Marktes, beliebig vermehrbar sind, wenn die Nachfrage steigt. Diese Auseinandersetzungen werden in einer Zeit, in der wir mehr auf die begrenzten Ressourcen der Welt achten müssen, zunehmen und sie müssen auch zugunsten der dringend notwendigen Vekehrswende geführt werden. Die Bahn ist ein integraler Bestandteil dieser Verkehrswende, aber sie kann diesen Auftrag nicht erfüllen, weil sie im Zeichen kurzfristiger Schein-Marktpolitik kaputtgespart wurde. Einen freien Markt wird und kann es auf der Schiene sowieso nicht geben, denn der Netzbetrieb des Fernverkehrs wird in einer Hand verbleiben müssen, um nicht vollends im Chaos zu versinken.

Haben wir schon erzählt, dass in Japan die Zugführer sich aufs Gleis werfen und Harakiri begehen müssen, wenn sie sich um mehr als eine Minute verspäten? Hier die ganze Story dazu. Gut, ganz so schlimm ist es nicht und man kann eine an sich gute Servicekultur auch zum Fetisch entwickeln, aber so miserabel wie bei uns muss es nicht laufen. Einfach die Bahn so pampern wie alle möglichen Privatunternehmen und Privatleute, die alle möglichen Vergünstigen bekommen. Die Bahn hat eine zentrale Stellung für die Gemeinschaft. Wer Zusammenhalt in der Gesellschaft will, muss endlich damit aufhören zu signalisieren, dass ihm Gemeinschaftsaufgaben wurscht sind, wie etwa durch die Zerstörung von allem, was die Bahn einmal ausgemacht hat und die gesamte Faszination zerstört, die Zugreisen eine wichtige Rolle in der Literatur und im Film spielen ließ. Der heutige Bahnbetrieb lässt sich höchstens noch satirisch auswerten. Solange nicht durch die miserablen Zustände wieder ein größeres Zugunglück passiert, dann verschwindet auch das sarkastische Grinsen aus dem Gesicht.

TH

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