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Unser heutiger Info-Artikel beschäftigt sich mit einer der größten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Zeit, die von den USA ausgingen. In Gottes eigenem Land darf jeder jeden mehr oder weniger ungehindert erschießen, aber wenn es um das „ungeborene Leben“ geht, wird ein Kampf geführt, den man als gesellschaftlichen Kreuzzug gegen die liberale Demokratie bezeichnen muss.
Dass unter Präsident Biden nicht wirklich ein demokratisches Zeitalter angebrochen ist, bemerkt man auch an dieser Entwicklung. Jederzeit kann der Wind sich politisch wieder drehen und uns damit auch in Europa direkt ins Gesicht wehen. Noch haben wohl die meisten Frauen weltweit ein Recht auf Selbstbestimmung in Bezug darauf, ob sie ein Kind bekommen möchte, und es gibt durchaus bemerkenswerte Aspekte, auf die wir unterhalb der Grafik und des Statista-Erkärungstextes kurz eingehen werden:
Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0 erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
In den USA, hat der Supreme Court in der vergangenen Woche das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Wenige Tage später sind Schwangerschaftsabbrüche laut Wikipedia bereits in über zehn Bundesstaaten illegal – laut Medienberichten könnten insgesamt 26 Bundesstaaten Abtreibungen komplett verbieten oder stark einschränken. Weltweit leben laut Center for Reproductive Rights rund 601 Millionen Frauen (36 Prozent) im gebärfähigen Alter in Ländern, in denen ein Schwangerschaftsabbruch auch ohne Vorhandensein gesundheitlicher oder sozialer Gründe möglich ist. Dazu zählt auch Deutschland. Europaweit gibt es aktuell nur ein Land, in dem Abtreibungen vollständig verboten sind. Gemeint ist Malta, das erst kürzlich in den Schlagzeilen war, weil eine US-Touristin dort nach Komplikationen bei der Schwangerschaft um ihr Leben fürchten musste. Deutlich erschwert ist der Zugang außerdem seit der Verabschiedung eines neuen, restriktiven Abtreibungsgesetztes in Polen.
Ja, es gibt in Europa vor allem in Kleinstaaten eine Art unter dem Radar laufende Rigidität, sichtbar an den kleinen Kreisen, die nicht grün gefärbt sind. Was uns gewundert hat: Dass das ansonsten sehr liberale Finnland keinen freien Schwangerschaftsabbruch bis mindestens Woche 12 kennt, in Großbritannien sind ebenfalls Einschränkungen zu beachten. Polen hingegen?
Es handelt sich um das gesellschaftpolitisch konservativste Land in der gesamten EU, da muss man auch mit einem Rückwärtsdrall in Sachen Abtreibungsrecht kalkulieren. Damit einhergehend die allgemeinen Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit, die in den letzten Jahren immer wieder für Ärger in der Gemeinschaft gesorgt haben, aber es gibt einen Aspekt, den Polen zwar nicht exklusiv zu verzeichnen hat, aber eine Relevanz ist nicht abzuleugnen: Die Geburtenrate ist sehr niedrig und seit der EU-Freizügigkeit für Polen sind viele Menschen ausgewandert, u. a. nach Deutschland. In Wirklichkeit ist manches, was sehr moralisch daherkommt, utilitaristisch: Die Auffüllung der eigenen Bevölkerung mit vielen Geflüchteten aus der Ukraine und auch ein rigides Abtreibungsrecht, das möglichst viele Kinder bis zur Geburt „durchbringen“ soll, damit Polen nicht doch noch verloren geht.
Sarkastisch könnte man sagen, einige Länder sind auch deshalb so abtreibungsfeindlich, weil es dort derart gewaltvoll zugeht, dass die vielen Leben, die dadurch vorzeitig enden, ersetzt werden müssen, und da käme es ungünstig, wenn Frauen sich massenhaft entschließen würden, in eine Welt, in der dem Nachwuchs vom ersten Atemzug an die Kugeln um die Ohren pfeifen, auf ebenjenen Nachwuchs zu verzichten.
Wir sind keineswegs der Ansicht, man soll Leben leichtfertig „wegwerfen“, aber die Entscheidung darüber, ob es gewollt ist oder nicht, muss die Frau treffen, die es austragen und sich später viele Jahre lang damit befassen muss, ob es die Chancen in der Welt hat, die es haben sollte. Eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass die Eltern ökonomisch in der Lage sind und auch die kinderfreundliche Mentalität haben, das Beste aus „Familie“ zu machen. Wer in prekären Umständen steckt oder nicht bereit ist für die Verantwortung, die mit Kindern verbunden ist, sollte die Möglichkeit haben, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Aber vor Leichtfertigkeit und Dummheit, die Schwangerschaften verursacht und doch werdendem Leben keine Chance gibt, graut uns ein wenig, das geben wir gerne zu. Wir glauben gleichwohl nicht, dass die Mehrzahl der abtreibenden Frauen sich die Entscheidung der Nichtaustragung leicht gemacht hat. Sollte das bei einigen der Fall sein, spiegelt es unsere Gesellschaft und deren Werte und ist nicht durch Verbote, die neues Leid hervorbringen, sondern durch Nachdenken über diese Werte zu verändern.
Deshalb ist es uns umso wichtiger, festzuhalten, dass es auch um die Gesamtmaßstäbe einer Gesellschaft geht. Wo sehr, sehr sorgsam mit jedem einzelnen Leben verfahren wird, können wir verstehen, dass auch die Verhinderung von dessen Entstehung ernsthaft hinterfragt wird und der große Wert des Lebens im gesellschaftlichen Diskurs eine Rolle spielt.
Aber schauen Sie sich die Weltkarte an. Gerade in Ländern, in denen Menschenrechte besonders häufig und hart mit Füßen getreten werden, sind bezeichnenderweise auch Abtreibungen verboten. Je rudimentärer und gewaltvoller eine Gesellschaft, desto rigider das Abtreibungsrecht, kann man es zusammenfassen, mit Ausnahmen selbstverständlich. Ein Paradebeispiel für die Regel ist Mexiko, das eine der höchsten Mordraten der Welt aufweist, aber in dem eine Frau nicht abtreiben darf. Der Gegensatz ist noch krasser als in den nördlich davon gelegenen USA. Da stimmen die Maßstäbe einfach nicht. Die Sicherheit der Bevölkerung ist gering, ein Leben billig, aber die Hürden für die Entscheidung, unter den Umständen lieber doch keine Kinder haben zu wollen, sind nicht nur hoch, es gibt prinzipiell keine Möglichkeit, legal abzutreiben.
Was ebenfalls auffällt: Nicht alle Diktaturen sind in Sachen Abtreibung auf dem sehr einschränkenden Pfad. Am interessantesten hier sicher China. In vieler Hinsicht zählt das Land zu denen mit besonders wenig Freiheiten, aber trotz der Panik der Führung vor Überalterung nach jahrelanger Ein-Kind-Politik zieht seit deren Aufhebung weder die Geburtenrate stark an, noch wurde bislang das Abtreibungsrecht verschärft, es ist ähnlich geregelt wie im überwiegenden Teil von Europa. Offensichtlich sind in diesem Bereich tatsächlich noch Spuren eines früheren sozialistischen Weltbildes anzutreffen, ebenso wie in Russland, das mittlerweile ebenfalls wieder mit niedriger Fertilität kämpft. In den muslimischen Ländern geht es in etwa so zu, wie es zu erwarten war, nämlich schwierig, wie allgemein bei den Frauenrechten. Doch auch hier eine bemerkenswerte größere Ausnahme: Die Türkei. Trotz Freund Erdogans Hang dazu, alles selbst und allein für alle zu entscheiden, hat die Türkei diesbezüglich noch „europäisches“ Recht. Das rührt von ihrer laizistischen Prägung nach der Gründung der Republik im Jahr 1923 her, die lange Zeit das Gesellschaftsbild der maßgeblichen Schichten in den Städten geprägt hat.
Im Großen und Ganzen spiegelt sich auch im Umgang mit dem Thema Abtreibung, dass westliche Demokratien die am weitesten entwickelten Frauenrechte haben. Wenn jetzt mit den USA, die größte dieser Demokratien, einen Riesenschritt rückwärts macht, hat das Auswirkungen auf die Entwicklung in anderen Ländern, darauf können wir uns einstellen. Besonders dort, wo rechtsgerichtete Regierungen an die Macht kommen, ist nicht sicher, dass erreichte Standards erhalten bleiben, auch nicht auf diesem Rechts- und Lebensgebiet. Im Grunde sehen wir hier eine weitere Gefahr für die Demokratie, auch wenn nicht bei diesem Gegenstand liberalen Länder Demokratien sind. Bei uns geht es sehr wohl um das demokratische Selbstverständnis und dessen Umfang.
TH