„Von Gaza nach Manhattan“ (Verfassungsblog) + Leitkommentar: Vom Bildungsministerium zur Demokratie, von den Wahlen zur AfD und zurück | Briefing 554 | #DiG #Demokratie in #Gefahr #Gesellschaft #Israel #Palästine #Palestine #StarkWatzinger #TUBerlin #Antisemitismus #Antisemitism #Geopolitics #Grundgesetz #Wissenschaftsfreiheit #Meinungsfreiheit

Briefing 554 Geoplitik, Gesellschaft, Israel, Palästina, Universtitäten, New York, Berlin, Proteste, Meinungsfreiheit, Antisemitismus, Wissenschaft, FDP-Neoliberalismus, Klassismus

„Unter der Woche“ ist ein Artikel wie dieser die Ausnahme. Ohne einen aktuellen Vorgang im Bildungsbereich wäre er möglicherweise gar nicht zustande gekommen.

Wir hatten uns ursprünglich entschieden, mit der Veröffentlichung bzw. Republikation zu warten, bis die Diskussionen um das Thema nicht mehr ganz so heiß sind. Unser erster Impuls war deutlich ein anderer, und dann kamen die Proteste auch an den deutschen Unis. Zu ihnen gab es Reaktionen, auch dazu haben wir geschwiegen. Aber dieser neue Vorgang ist eine Herausforderung an alle, die sich gegen immer weitere Einschränkungen der Meinungs- und hier auch der Wissenschaftsfreiheit zur Wehr setzen. Deswegen haben wir diesen Beitrag auch mit #DiG #Demokratie in #Gefahr getaggt. Wir veröffentlichen erst den Beitrag, unterhalb kommentieren wird. Es geht um diese Angelegenheit, das Bundesministerium für Bildung und Forschung betreffend. Stark-Watzinger unter Druck: Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit? | WEB.DE

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Von Gaza nach Manhattan und zurück

Ein Brief aus New York / Karin Loevy

– Juristische Beobachter waren nicht erlaubt.

– Presse in der Hamilton Hall war nicht erlaubt, einschließlich WKCR.

– Der Student, der die Treppe hinuntergestoßen wurde, musste über eine Stunde auf medizinische Hilfe warten, obwohl der Rettungsdienst in Bereitschaft sein sollte. Als sie anriefen, wurde ihnen gesagt, dass kein Rettungsdienst verfügbar sei.

– Sie haben wahllos Menschen im John Jay verhaftet, die nicht beteiligt waren.

– Studenten hatten geschwollene Gesichter, nachdem sie wiederholt getreten wurden, hatten Schnittverletzungen, wurden zu Boden und die Treppen hinuntergestoßen.

– Mehrere Studenten wurden so schwer verletzt, dass sie direkt ins Krankenhaus gebracht werden mussten.

– Rettungssanitäter des jail support behandeln hier viele vor Ort. Das war letztes Mal nicht passiert. Offensichtlich brutalere Verhaftungen.

Eine Notiz von einem Fakultätsmitglied der Columbia University, die den NYPD-Einsatz am 30. April 2024 gegen das Protestlager von Columbia-Studenten beschreibt.

In den letzten Tagen, als Universitätsverwaltungen in den USA auf Methoden der Aufstandsbekämpfung gegen ihre Studierenden setzten, als sie Hunderte ohne ordnungsgemäßes Verfahren suspendiertendie Polizei holten, um Versammlungen aufzulösen und Massenverhaftungen friedlicher Demonstranten durchzuführenals sie Studierende aus ihren Wohnheimzimmern auswiesen und Mauern errichteten, um öffentliche Räume abzuschneiden, da musste ich immer wieder an ein Video denken, das ich im Januar mit meinen Studierenden gesehen habe. Das Video zeigt die Zerstörung der Israa-Universität in Gaza. Zu dem Zeitpunkt, als das Video veröffentlicht wurde, stand keine der 17 Universitäten Gazas mehrLaut Euro-Med Human Rights Monitor wurden 4327 Studenten und 90 Universitätsprofessoren getötet, einige davon gezielt. Gazas entwickeltes System universitärer Bildung ist nicht mehr existent, seine 88.000 Studierenden haben keine Aussicht mehr auf eine Fortsetzung ihrer Ausbildung.

Meine Studierenden und ich schauten das Video mit Schrecken und Wut. In weniger als einer Minute wurde ein Gebäude, das einst hunderte von Doktoranden und Studierende, Fakultätsmitglieder, Verwaltungsmitarbeitende, Seminarräume, Bibliotheken, Labore, Cafeterias und Museen beherbergte, dem Erdboden gleichgemacht. Wenn es so einfach ist, eine Universität in Gaza zu zerstören, waren wir wirklich sicher in unseren eigenen Universitäten hier zu Hause? Was macht uns so sicher, dass die Bildungseinrichtungen, die wir schätzen, unsere schönen, freien und lebendigen Campusse, die vermeintlichen Heiligtümer von Wissenschaft und Kultur, des freien Austauschs von Ideen, eines Tages nicht genauso zusammenbrechen werden wie ihre Schwester-Campusse in Gaza-Stadt?

Einen solchen Zusammenhang zwischen Gaza und universitären Institutionen in den USA und Europa herzustellen mag den Lesern des Verfassungsblogs seltsam vorkommen. Doch für viele Studierende und junge Menschen auf der ganzen Welt ist der Zusammenhang völlig klar. Aus ihrer Perspektive sind die Grausamkeiten des Krieges in Gaza nicht so weit entfernt und es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der völligen Zerstörung universitärer Bildung in Gaza (von einigen als „educide“ und „scholasticide“ bezeichnet) und anderen Angriffen auf politische Äußerungen palästinensischer Studierender und ihrer Verbündeten weltweit; einen Zusammenhang zwischen den häufigen Angriffen, Verhaftungen und der Folter von palästinensischen Studierenden und Dozierenden im Westjordanland, der radikalen Unterdrückung politischer Rede, der Zensur und  der Aufwiegelung gegen palästinensische Studierende in den israelischen Universitäten, den Polizeieinsätzen gegen Demonstrationen, Zwangsräumungen und Suspendierungen an Universitäten in Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA.

Was diese Wellen von Angriffen auf die Meinungsfreiheit, das Wohlergehen und das Leben von Studierenden kennzeichnet, ist eine Politik der Securitization und des Otherings. Von Gaza bis zur UCLA, von der IDF bis zu Polizeieinheiten und den Universitätsverwaltungen werden Studierende, die sich für die Verhinderung eines Genozids in Gaza einsetzen, nicht als Studierende behandelt, geschweige denn als Träger und Multiplikatoren von freier Meinungsäußerung, von Wissen oder von Werten. Ihre Rechte werden nicht geschützt, ihre Sicherheit nicht priorisiert. Stattdessen werden sie als Bedrohungen markiert: als Antisemiten, als Terroristen, als gewalttätig, ständig unter Verdacht stehend, mit einem Status unter Vorbehalt – und all dies unter verschiedenen Bedingungen der Prekarität. Sie können jederzeit suspendiert werden (wenn sie auf US-Campussen auf einer falschen Demonstration erwischt werden). Sie könnten verhaftet und gefoltert werden (wenn sie Aktivisten an Universitäten im Westjordanland sind). Sie können wegen milde-kritischen Äußerungen suspendiert, festgenommen und verhört werden (wenn sie palästinensische Studierende und Dozierende an israelischen Universitäten sind). Sie könnten bombardiert und ihre Universitäten zerstört werden (wenn sie Studierende in Gaza sind). Sie können verhaftet und geräumt werden und ihren Status verlieren (wenn sie auf US-Campussen demonstrieren). Gesetze, Protokolle und Verfahren können sie kaum schützen – tatsächlich werden sie ständig und willkürlich von Verwaltungsbeamten und anderen öffentlichen Angestellten umgeschrieben, um vermeintliche Risiken zu managen. Universitätspräsidenten geben Erklärung um Erklärung ab, die „Sicherheit und Schutz“ betonen, bleiben jedoch stets vage, was die Natur der wahrgenommenen Bedrohung ist und wessen Sicherheit wichtig ist (siehe beispielsweise hier und hier).

Die Unterdrückung und Einschränkung von Leben, Rechten und Freiheiten in einem solchen globalen Ausmaß ruft jedoch auch Solidarität hervor und stiftet politische Einheit. Studierende auf der ganzen Welt setzen sich füreinander ein. In den USA wurden Dutzende von Protestcamps aus Solidarität mit Gaza, mit der palästinensisch geführten BDS-Bewegung und zur Unterstützung des Columbia-Camps errichtet, das bereits frühzeitig brutal angegriffen wurde. Studierende aus Gaza loben die US-Studentenprotestbewegung. Fakultätsmitglieder schützen Studierende und zivilgesellschaftliche Organisationen zeigen ihre Unterstützung. Natürlich sind Protestbewegungen komplexe Allianzen. Es kann Vorfälle geben, in denen sich antisemitische Ansichten und aggressive Meinungsäußerungen zeigen. Aber diese sind selten und ein Randphänomen. Häufig werden diese Vorfälle instrumentalisiert, um die gesamte Bewegung zu delegitimieren, Misstrauen gegenüber ihren Mitgliedern zu schüren und den Prozess des Otherings und der Securitization noch zu verstärken. Die Tatsache, dass es solche Ausreißer gibt, sollte nicht dazu genutzt werden, eine Bewegung zu delegitimieren, die ein grundlegend gerechtes Anliegen verfolgt. Genau wie Trump-Anhänger gewalttätige Vorfälle und Plünderungen während der George-Floyd-Proteste überbetonten, heben rechte Israel-Unterstützer anstößige Äußerungen hervor, um die Anti-Apartheid- und Anti-Genozid-Bewegung der Studierenden zu untergraben.

Studierende auf der ganzen Welt beobachten all dies genau. Sie zählen die Toten in Gaza, die Schulen und Universitäten, die in Trümmern liegen, die Verwüstung und Zerstörung. Sie sind wütend und trauern, und sie akzeptieren die Behauptung ihrer Universitäten nicht, neutral zu sein. Sie fordern Verantwortung. Auf eine Weise sind sie damit die wahren Beschützer der Universität – ihr Kampf, ihre Aufregung machen die Idee der Universität von einer freien und furchtlosen Institution, die für das Wohl der Menschen errichtet wurde, anstelle einer exklusiven, konservativen Institution, die Unternehmensinteressen bedient, während sie heuchlerisch von Demokratie und Menschenrechten spricht, greifbar. Sie wollen Veränderung, und sie sind bereit, ihre Zukunft und manchmal ihr Leben zu opfern, um Druck auf Universitäten auszuüben, damit diese sich zurückziehen, um Druck auf die Behörden auszuüben, damit diese die Finanzierung der Zerstörung von Gaza und des Lebens in Gaza stoppen. Damit folgen sie nicht nur einer stolzen Tradition von Studentenbewegungen für Gerechtigkeit und Freiheit in den USAin Palästina und auf der ganzen Welt. Sie arbeiten auch für uns alle: Wenn wir alle die Verantwortung tragen, Genozid zu verhindern, ist die globale Studentenbewegung derzeit die einzige Gruppe, die echten Druck auf Regierungen ausübt, um ihn zu verhindern.

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Kommentar

Die Proteste an den deutschen Unis gab es noch nicht, als der Artikel im Verfassungsblog erschien und wir gehen nicht davon aus, dass er sie maßgeblich in Gang gesetzt hat. Es war zu erwarten, dass die Proteste in Deutschland umgehend als antisemitisch bezeichnet werden. Wir waren nicht dabei und können nicht sagen, was konkret die Protestierenden geäußert haben. Deshalb gilt, was wir im Folgenden schreiben, unter der Prämisse, dass wir tatsächliche antisemitische Äußerungen nicht billigen.

Wir sind jedoch davon überzeugt, dass nicht alle Protestierenden solche Äußerungen vorgenommen haben. Schon der Fall „Palästina-Konferenz“, den wir ebenfalls bisher nicht kommentiert haben, hat zu Eingriffen in die Versammlungsfreiheit geführt, die über das Notwendige und Richtige hinausgehen, ebenso wurde dann an den Universitäten verfahren. Es ist unmöglich, bei größeren Protesten komplett auszuschließen, dass einzelne Personen sich rechtswidrig verhalten. Dafür dürfen nicht alle Teilnehmenden in Regress genommen werden. Wir kennen diesen Drang des Staates, alle über einen Kamm zu scheren und immer rigider zu werden, leider auch von sozialen Protesten, während rechte Aufmärsche geradezu hingebungsvoll toleriert werden. Diese Erkenntnisse und Beobachtungen sind ein Grund, warum wir uns heute doch mit den Protestierenden solidarisieren, soweit sie sich verfassungsgemäß verhalten. Ein Protestcamp ist für uns nicht per se verfassungsfeindlich, das gilt auch für die Besetzung von Räumen an Universitäten, um ein politisches Anliegen vorzutragen, das so dringlich ist wie der Gazakrieg, der uns alle angeht. Kommt es dabei zu Sachbeschädigungen oder größeren Störungen des Betriebs, ist das gesondert zu betrachten, wie bei jeder Veranstaltung. Wir werden das bald wieder bei der Fußball-EM sehen. Es wird zu Sachbeschädigungen durch randalierende „Fans“ kommen und auch zu verfassungswidrigen Parolen, wenn Menschen aus vielen Ländern hierherkommen, in denen die Stimmung politisch aufgeheizt ist. Niemand denkt darüber nach, deshalb die Fußball-EM ausfallen zu lassen.

Es tut uns leid, so basic werden zu müssen, aber offenbar gehen auch in der Politik immer mehr die Maßstäbe für die Eingriffe in grundlegende Bürger- und Menschenrechte verloren. Dass Wissenschaftler:innen Angst haben, sich noch frei zu äußern, können wir gut nachvollziehen. Dass eine politische Haltung gerade bei den vielen marginalisierten Akademiker:innen im „befristeten Mittelbau“ zu Karierreabbrüchen führen kann, ist für uns plausibel. Die heutige Art, Studierende auszubilden, ist ohnehin darauf ausgelegt, ihnen möglichst wenig Spielraum für die Herausbildung einer eigenen politischen Persönlichkeit zu lassen und somit demokratieschädigend. Wir sind geradezu heilfroh, dass wir noch nicht Opfer des Bologna-Prozesses waren.  

Nun haben junge Menschen aber doch noch politische Meinungen. Es sind nicht immer die „richtigen“, wie sich gerade bei der EU-Wahl gezeigt hat, aber genau diese Tatsache kann man zu einem Teil auch der fatal schlechten politischen Bildung zuschreiben, die heutzutage üblich ist. Daran sind alle Parteien im Bundestag beteiligt. Sie haben den Bildungsabsturz zu verantworten. Außer der Linken, sie hatte nie Einfluss auf die Bildungspolitik, und die AfD, für die das Gleiche gilt.

Dass aber gerade eine Bildungsministerin von der FDP, die bisher nicht dadurch aufgefallen ist, dass sie der Bildung in Deutschland einen Ruck verschafft hat, sich dermaßen aus dem Fenster lehnt, wie das im verlinkten Beitrag deutlich wird, ist grotesk und demokratieschädlich. Die Neoliberalen sind durch ihre klassistische, rigide Sparpolitik, die vielen Menschen keinen dem Gleichheitsgrundsatz entsprechenden Bildungszugang mehr ermöglicht, ideologisch keine Mitläufer, sondern Antreiber der Zersetzung des Bildungsbetriebs. Wenn gerad die FDP in Wahlkämpfen mit Bildung plakatiert, dann mag das bei ein paar jungen Menschen, die das System noch nicht so lange kennen, verfangen, aber nicht bei jenen, die miterleben durften, wie es erst langsam niederging und nun geradezu in die Tiefe stürzt, auf ein Qualitätsniveau, das eines führenden Industrielandes komplett unwürdig ist.

Selbst, wenn die Ministerin nicht persönlich in den Vorgang involviert gewesen sein sollte, sie verantwortet ihn. In anderen Ministerien mussten deswegen mindestens Staatssekretäre gehen. Den Anstand, dass Frau Stark-Watzinger die Betreiber dieses Anschlags auf die Wissenschaftsfreiheit benennt und Konsequenzen zieht, ist das Mindeste, was nun zu erwarten ist.

Wie Sie bemerken, beziehen wir uns bisher gar nicht auf den Gazakrieg selbst, sondern auf einen Vorgang, der wieder einmal zeigt, von wie vielen Seiten die hiesige Demokratie unter Druck steht. Ausgerechnet eine Angehörige der „Freiheitlichen“ überschreitet nicht nur ihre Kompetenzen gegenüber politisch aktiven Bürger:innen, sondern erlaubt sich auch, intern darüber urteilen zu dürfen, ob ein nach unserer Ansicht ebenfalls nicht verfassungsfeindlicher offener Brief genau dies ist, nämlich verfassungsfeindlich. Uns kommen die Radikalenerlasse der 1970er in den Sinn. Der Vergleich ist nicht vollständig, das ist uns klar, aber sie waren die erste Eintrübung in einer bis dahin aufblühenden, sich fortschrittlich entwickelnden demokratischen Kultur in der alten BRD. Die Proteste an den Unis waren damals übrigens bei Weitem radikaler als derzeit und jeder staatliche Übergriff löste erhebliche weitere Proteste aus. Wir sind weit entfernt von diesen progressiven Zeiten, in denen vor allem der Vietnamkrieg der Aufhänger für ideologische Konfrontationen war, aber selbst das Anliegen einer menschlichen Katastrophe wie der in Gaza wird mittlerweile grundsätzlich als nicht zu tolerieren angesehen.

Jeder Vorgang wie der im Ministerium von Frau Stark-Watzinger ist ein Schritt in Richtung Entdemokratisierung des Landes. Wenn man genauer hinschaut,  passt das besser zur angeblich freiheitlichen FDP, als man auf den ersten Blick denken sollte. Sie profitiert gerade bei Angehörigen der älteren Generationen noch davon, dass sie auch einmal einen „Bürgerrechte-Flügel“ hate. Den gibt es aber nicht mehr.

Dafür tritt das ursprüngliche Gepräge der FDP nach dem Krieg wieder deutlich hervor, als viele Nazis in der Partei Zuflucht gefunden hatten. Freiheit ist vor allem die Freiheit des Kapitals, das mit jedem System leben kann und am besten mit Systemen, die nicht zu – sic! – freiheitlich im Sinne demokratischer Rechte sind.

Und damit doch zum Gazakrieg. Die Menschen in Gaza interessieren die FDP einfach nicht. Sie sind, anders als Israel, keine ökonomische Position, die erhaltenswert erscheint. Die FDP stellt alles, was sie tut, ausschließlich unter die Prämisse: Dient es unserer kleinen hochkapitalistischen Klientel oder nicht? Dass sie dabei mittlerweile in ihrer Regierungsfunktion das ganze Land beschädigt, folgt der kurzsichtigen Logik, die rein ökonomisch orientierte Menschen gerne verfolgen, sofern es nicht sogar Absicht ist, um die „Massen“ weiter zu marginalisieren und damit die Reichen weiter zu privilegieren.

Neoliberales Gedankengut beherrscht die Unis heutzutage, wenn auch nach Fachrichtung – ebenfalls logisch – in unterschiedlichem Ausmaß, die Inhalte betreffend. Es ist aber auch für die Art verantwortlich, wie das System gestaltet und geführt wird. Diesen Prozess hatte noch die Union-FDP-Regierung in den 1990ern in Gang gesetzt, nach der Unterzeichnung der Bologna-Erklärung dann von der nicht anders tickenden Schröder-Regierung vollendet.

Wir können uns gut vorstellen, wie es bestimmte Kreise stört, dass Menschen es überhaupt  unter diesen Bedingungen noch wagen und erübrigen können, sich politisch zu äußern. Ob die Berliner TU-Präsidentin Rauch der Sache einen Gefallen getan hat, falls sie tatsächlich antisemitische Inhalte gelikt hat, ist hingegen fraglich. Wie immer spielt hier eine Rolle, was im Einzelfall geschehen ist und ist insofern eine Einzelfallbetrachtung, keine Gruppenhaftungsfrage, wie der Staat sie bei Demos zugunsten der Menschen in Gaza offensichtlich etablieren möchte und die dem Grundgesetz fremd ist. Ob und ab welchem Punkt darf man das Verhalten Israels im Gazakrieg kritisieren, ohne einer sich immer mehr erweiternden Antisemitismus-Definition gegenüberzustehen, die ihrerseits demokratiefeindlich ist? Wir sind der Ansicht, man darf dieses Vorgehen kritisieren, sofern die Kritik den Kern des auf Israel bezogenen Antisemitismus, nämlich das in Abrede stellen des Existenzrechts des Staates Israel in seinen völkerrechtlich anerkannten Grenzen, also ohne die besetzten Gebiete Gazastreifen und Westjordanland, nicht ausdrückt. Sofern dieser eindeutige Tatbestand nicht zutritt, ist die politische Diskussion offenzuhalten.

Sie werden vielleicht den obigen Artikel, den wir nun republiziert haben, für einseitig halten, weil er die getöteten Menschen in Israel und die Geiseln des 7. Oktober 2023 nicht erwähnt. Nach unserer Ansicht ist es nicht die Aufgabe von Menschen, die die Katastrophe in Gaza adressieren, zu sagen, es geschieht dies, weil jenes geschah, also eine radikal rechte Politik zu billigen, die jedwedes Maß vermissen lässt. Die Ausgewogenheit, die uns in Deutschland immer abverlangt wird, kann sehr wohl zu der Erkenntnis führen, dass im Gazakrieg keine Verhältnismäßigkeit mehr herrscht und viele Menschen getötet werden, die genauso unschuldig sind wie die Opfer in Israel, sofern man erwachsenen Menschen generell Unschuld unterstellt, was wir angesichts des politischen Rechtstrends sowohl in Israel wie in Gaza für schwierig halten. Nur sind die Positionen ganz unterschiedlich, denn auf der einen Seite liegt die Macht, die andere ist ohnmächtig seit vielen Jahrzehnten. Letzteres ist es vor allem, was viele Menschen, die ein Gerechtigkeitsgefühl haben, zu Protesten treibt.

Der Artikel ist ganz aus der Sicht einer Studierenden geschrieben, die vor allem eine Bildungskatastrophe beschreibt, die dazu beiträgt, die Palästinenser in Abhängigkeit zu halten. Wie sich das in Gaza nun ausgewirkt hat, wissen wir spätestens nach dem Lesen des Artikels von Frau Loevy, aber es gibt ja auch viele Palästinenser:innen, die im Ausland leben, und denen möchte man auch in Deutschland jedwede Protestform untersagen.

Wenn junge Menschen so aktivistisch schreiben, wie das in diesem Brief der Fall ist, hat das eine für den Verfassungsblog ungewöhnlich drastische und unjuristische Sprache zur Folge. Wir schätzen die Herausgaber aber so ein, dass sie genau prüfen, was verfassungsrechtlich in Deutschland vertretbar ist und lassen auch Kritik zu, wenn zum Beispiel ein Artikel im Zusammenhang mit dem Gazakrieg Fehler aufweist, wie es bei einem früheren Beitrag der Fall war, den wir auch beinahe republiziert hätten. In dem Fall war es gut, es nicht zu tun, sonst hätten wir seriöserweise auch die folgenden Einlassungen dazu zumindest in einem Update erwähnen müssen. Außerdem werden auf diesem Blog auch verschiedene Meinungen in gesitteter akademischer Rede und Gegenrede geäußert – mit der klaren Tendenz pro Demokratie und Rechtsstaat, und das ist der Grund, warum wir uns immer wieder mit Beiträgen von dieser Seite befassen und sie als gewinnbringend empfinden.

Der Brief von Frau Loevy hat eher etwas Deprimierendes, weil er wir nicht sagen können, das ist so und dagegen kämpfen wir in Deutschland mit diesem oder jenem verfassungsmäßigen Mittel, wie etwa gegen die AfD. Wir haben auf all das, was im Nahen Osten passiert, keinen Einfluss. Wir haben als Demokrat:innen schon in Deutschland zu wenig Einfluss, aber bezüglich der Geopolitik ist er gleich Null. Das war bei den Protestierenden der 1968er-Generation noch anders. Sie glaubten an ihre Mission für eine besser Welt. Wir heben lediglich entsetzt die Hände und hoffen, dass die Menschen in Gaza wenigstens irgendwann die Hilfe bekommen, die ihnen wie jedem Volk in Bedrängnis gebührt.

Weil das so ist, weil wir nichts tun können, müssen wir wenigstens den Menschen, die es betrifft, den Raum geben, für ihre Sache einzutreten, denn sie haben oft Verwandte und Freunde in Gaza. Wir können uns in Deutschland für den Schutz jüdischen Lebens einsetzen, aber wir können nichts für die Menschen in Gaza erreichen. In diesem Sinne gibt es also keine Ausgewogenheit, und zwar zu Lasten der Palästinenser, nicht zu Lasten des Staates Israel, der immer mitgemeint ist, wenn man sich gegen Antisemitismus stellt. Gerade der Zentralrat der Juden und die israelische Politik setzen ja beides gleich, also werden für den Prosemitismus höhere Hürden aufgestellt, als wenn man uns erlauben würde, beides zu trennen und zu sagen: Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland  heißt nicht, dass wir die aktuelle Regierungspolitik Israels utnerstützten. Bei uns führt das zum Beispiel dazu, dass wir uns eben nicht nach dem Verständnis der Interessenvertreter Israels ausgewogen, sondern vor allem im Sinne der Menschenrechte äußern, deren Geltung für alle Menschen ohnehin für uns die zentrale Lehre aus dem Holocaust ist.

Ob man also Menschen aus ökonomischen oder aus rassistischen Gründen für weniger wert hält als die eigene Gruppe, ist im Ergebnis gleich, außerdem hängt das eine oft mit dem anderen zusammen. Wie es sich auf die ökonomische Überlebensfähigkeit des Gazastreifens auswirkt, wenn dort alle Universitäten zerstört werden, bedarf wohl keiner näheren Erklärung. Am Ende wird es aber wieder heißen: Da ist dieses blühende Land Israel, auf der anderen Seite ein armseliger Haufen, um es aus der Sicht von Rassisten auszudrücken. Wie ungleich die Voraussetzungen waren, wie sehr Israel von vielen westlichen Ländern auf seinem Weg unterstützt wurde und immer noch privilegiert wird, und wie wenig auch arabische Länder getan haben, um Palästina stärker zu machen, obwohl sie für die heutigen Verhältnisse aufgrund ihrer Angriffskriege gegen Israel und dem Dulden von Terrororganisationen auf ihrem Gebiet mitverantwortlich sind, wie noch ungleicher die Verhältnisse nach dem 7. Oktober geworden sind, das ist neben der akuten humanitären Situation ein Lehrstück der Unterdrückung und Ausgrenzung von jeder Teilhabe.

Es gibt keine komplette Gerechtigkeit in dieser Sache und die Forderung nach Ausgewogenheit zählt zu den tückischsten Forderungen gegen die Demokratie, weil diese gerade von Meinungen lebt, und nicht davon, dass ein einzelner Mensch unabhängig von seiner Herkunft und Prägung jedwede denkbare Meinung in sich vereinen muss. Selbst, wenn er das täte, würde er kritisiert, weil diejenigen, die von ihm Ausgewogenheit fordern, selbst nicht ausgewogen denken. Für uns ist es selbstverständlich, dass sich Juden für Israel einsetzen, auch wenn wir wiederum die – sic! – Unausgewogenheit dabei immer im Blick haben, wenn es um den Gazakrieg geht. Ebenso ist es aber für uns selbstverständlich, dass Menschen mit palästinensischer Herkunft sich für Palästina einsetzen dürfen. Die einen haben die Hamas geduldet und adressieren ihren Angriff nicht hinreichend, die anderen dulden aber auch eine rechtsextreme Politik in Israel. Beide Positionen haben sogar handfeste Unterstützer, wie die Hamas-Terroristen oder die Hisbollah einerseits oder die terroristischen Siedler im Westjordanland andererseits. Ist das jetzt eine ausgewogene Position? Wir meinen, ja.

Und wir hoffen, dass die Anschläge auf die Meinungsfreiheit in Deutschland endlich aufhören. Die Politik muss langsam begreifen, dass es so nicht geht, es sei denn, sie will die Demokratie absichtlich ruinieren, was bei der heutigen FDP gar nicht so fernliegend ist, wie man bei einer solchen BRD-Traditionspartei denken sollte. Wir halten sie auch für die Partei, die ohne große Diskussionen an die AfD anschließen wird. Thüringen 2020 sagt alles darüber aus, was passieren könnte, wenn kein größerer zivilgesellschaftlicher Protest es noch gerade verhindert.

Es gibt also noch einen Grund, der auf den ersten Blick nichts mit dem Gazakrieg zu tun hat.

Die gerade abgehaltenen Europawahlen haben gezeigt: Solange Menschen frei wählen dürfen, lassen sie sich ihre Meinung nicht diktieren, vielmehr entwickeln sie aus Versuchen, die Meinungsfreiheit einzuschränken oder moralisch belehren zu wollen, eine Trotzreaktion. Dabei spielen auch Bildungsmängel eine Rolle, die die FDP mitzuverantworten hat. Dabei spielt ganz vieles eine Rolle, gerade in Ostdeutschland, aber man muss gute Politik machen, damit die Demokratie akzeptiert wird. Wir sind nicht sehr optimistisch diesbezüglich, die ersten Reaktionen der Wahlverlierer vom 9. Juni bestätigen auch, dass es keinen Grund zur Entspannung gibt, in dem Sinne „Jetzt haben sie es verstanden!“. Im Gegenteil. Wären nach diesen Reaktionen heute, nur drei Tage später, Wahlen, würde die AfD weiter zulegen.

Wir gehen hier zwei Wege. Wir unterstützen jedweden Versuch, die AfD verbieten zu lassen, aber wir wissen, dass das selbst im Erfolgsfall nicht ausreicht, um den Rechtstrend zu besiegen, sondern dass der Druck aus dem Kessel weichen muss, der sich durch unzählige Politikfehler der letzten Jahrzehnte angestaut hat. Das geht nur, indem wieder offen und ehrlich diskutiert wird, das muss ganz am Anfang stehen. Es wird nicht dazu führen, dass es in Deutschland keine Nazis oder Islamisten oder Antisemiten mehr gibt, aber es wird dazu führen, dass tatsächliche Verfassungsfeinde leichter erkannt werden, gegen die man konsequenter vorgehen muss, aber nicht, dass an Stelle echter Verantwortungsethik weiterhin ganze Gruppen stigmatisiert werden, weil sie sich für eine Sache einsetzen und einigen der Herrschenden das nicht gefällt, während die Politik weiterhin Maulaffen feilhält.

Schauen wir noch einmal kurz auf die USA, ohne sie heute in den Mittelpunkt zu stellen, unser Kommentar spiegelt ohnehin nicht die Zentrierung des republizierten Briefes an den Verfassungsblog. Wir sehen dort alles, was auch hier passiert, nur offener beschrieben und schon etwas weiter entwickelt. Dorthin zu schauen, hat den Vorteil, dass wir noch reagieren können, wir wissen aber auch, wie es bei uns bald ebenfalls aussehen kann. Hinzu kommt, dass die Meinungsfreiheit hierzulande ohnehin nicht so absolut ist wie in den Vereinigten Staaten und sich bestimmte Begriffe besser zur Stigmatisierung von Menschen eignen als dort.

Deutschland ist noch nicht für die Demokratie verloren, aber in einem kritischen Zustand, viele Gutwillige fassen sich nur noch an den Kopf, resignieren oder wählen, wie wir am 9. Juni, erstmals eine Partei, die keine Chance auf politische Gestaltung hat, und dann passieren immer wieder Dinge wie der Vorgang, der diesen Beitrag ausgelöst hat. Es ist im Grunde ganz einfach: Würde man nicht so viel antidemokratischen Druck erzeugen, würden wir nicht mit diesem Artikel in seiner vorliegenden Form reagiert haben.  

TH

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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