Macrons Wette könnte scheitern (Statista + Kommentar) | Briefing 571 | Geopolitik, Europa, Frankreich, France, Macron, Neuwahlen

Briefing 571 Geopolitik, PPP, Politik, Personen, Parteien, Frankreich, France, Macron, Neue Volksfront, Rassemblement National, Ensemble pour la République, zwei Wahlgänge, Parlamentswahlen, Marine Le Pen

Nur drei Wochen nach der Europawahl kommt es schon wieder zu einer Abstimmung, die für uns in Deutschland sehr wichtig sein wird – obwohl niemand von uns an ihr teilnehmen wird. Und beide Vorgänge hängen miteinander zusammen.

Nach der Europawahl am 9. Juni hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angesichts des schlechten Abschneidens seiner „REM“-Bewegung (République en Marche), jetzt Bestandteil des „Ensemble pour la République“ (ENS), Neuwahlen in Frankreich verkündet. Sieger bei den Europawahlen war eindeutig der rechtspopulistische RN („Rassemblement National“, früher „Front National“) von Marine Le Pen geworden.

2019 waren noch beide Lager, das Rechte und das Liberale, etwa gleich stark mit jeweils um 25 bis 26 Prozent, 2024 verlor Macrons Bündnis 10 Prozent, der RN gewann fast 7 Prozent hinzu und ist seitdem doppelt so stark im Europäischen Parlament vertreten (31,47 Prozent der Wählerstimmen in Frankreich gegenüber 14,56 Prozent).

Macrons Kalkül: Gegen Le Pen könnten sich alle anderen mehr oder weniger zusammenschließen und ihm damit ein halbwegs vernünftiges Weiterregierungen für den Rest seiner Präsidentschaftszeit (bis 2027) ermöglichen. Doch die Stimmen mehren sich, die dies für eine mögliche Fehlspekulation halten. Zunächst zeigen wir hier eine Statista-Grafik, sie beinhaltet eineaktuelle Umfrage für die Nationalratswahlen in Frankreich, die Werte wurden vom 24. bis 27. Juni ermittelt:

Macrons Wette könnte scheitern

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Nach dem massiven Rechtsruck bei der Europawahl hat der französische Präsident Emmanuel Macron umgehend Neuwahlen angekündigt. Damit ist er ein hohes Risiko eingegangen, wie die Statista-Infografik mit Daten des Institut français d’opinion publique (IFOP) zeigt. Die aktuellen Umfragen vom Juni 2024 deuten demzufolge auf einen erheblichen Stimmenvorsprung für den Rassemblement National (RN) vor allen anderen Parteien hin. Das Macron-Lager Ensemble muss sich demnach abgeschlagen mit Platz drei begnügen.

Die Nationalversammlung ist das Unterhaus des französischen Parlaments. Sie hat laut Artikel 24 der französischen Verfassung maximal 577 Sitze, was der Zahl der Wahlkreise entspricht. Gewählt wird nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen. In der ersten Runde erhalten jene Kandidaten Sitze in der Nationalversammlung, die eine absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und mindestens 25 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigter in ihrem Wahlkreis erhalten haben. Ist eine zweite Runde erforderlich, treten jeweils die beiden Erstplatzierten sowie sämtliche Kandidaten noch einmal an, für die mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten gestimmt haben. Es gewinnt derjenige Kandidat, der die meisten Stimmen auf sich vereinen kann.

Die rechtspopulistische Rassemblement National (RN) und Parteichefin Marine Le Pen versprechen, Migration und damit auch finanzielle Leistungen an Migranten zu reduzieren, Frankreich abzuschotten, auch gegen die EU. Das neu entstandene linke Bündnis will den Mindestlohn erhöhen und Preise einfrieren.

Beide Seiten wollen Macrons Rentenreform rückgängig machen, die das Eintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anhebt. Und sie versprechen milliardenschwere Sozialprogramme, weil viele Franzosen mit der abnehmenden Kaufkraft hadern. Das wäre eine Belastung für den Staatshaushalt. Viele bezweifeln, dass die Finanzierungsvorschläge, die von rechts oder links gemacht werden, für die Versprechen reichen.

Es ist noch nicht entschieden, ob wir für die französischen Wahlen wieder eine Sonderberichterstattung etablieren, wie zuletzt für die Europawahlen. Sicher nicht in diesem Maß, mit insgesamt zehn Artikeln alleine am (deutschen) Wahltag und den beiden Folgetagen sowie einiger Vorberichterstattung. Letztere sehen Sie nun aber hier auch.

Und falls Sie meinen, Deutschland sei mit der AfD sehr weit nach rechts gewandert, dann müssen Sie sich die französischen Umfragen anschauen, damit klar wird: auch diese Ansicht ist relativ. Allerdings ist der RN nicht die AfD, sondern versucht gerade, sich von dieser abzugrenzen, indem Marine Le Pen maßgeblich dafür verantwortlich war, dass die AfD aus der Fraktion „ID & D“ (Identitäre und Demokraten) des Europäischen Parlaments ausgeschlossen wurde. Trotzdem ist das RN nach wie vor rechtsnationalistisch. Die wenigen oben erwähnten Programmpunkte lassen keinen anderen Schluss zu.

In Kommentaren wird davor gewarnt, dass der Euro zusammenbrechen wird, wenn Deutschland die Schuldenbremse aufhebt. Wir halten diese Ansicht für Unsinn, denn die vielen Sondervermögen und Ausnahmelagen der letzten Jahre, die deklariert wurden, um mehr Kredite aufnehmen zu können, hatten einen solchen Effekt auch nicht. Im Gegenteil, man wird vermutlich anerkennen, dass Deutschland sich aus der aktuellen Maroditätsfalle mit Zukunftsinvestitionen befreien will.

In Frankreich sieht die Lage allerdings anders aus. Der Staat ist fast doppelt so hoch verschuldet wie der deutsche, auch Macron hat daran nichts geändert, im Gegenteil. Es ist ein Desaster, dass dabei nicht einmal eine sozialere Politik herauskam, sondern wiederum das Gegenteil, wie die Rentenreform bewiesen hat. Ob man ihre Rückgängigmachung finanzieren kann, hängt von vielen Faktoren ab, die wir hier nicht ausleuchten können, aber es ist bezeichnend, dass nur noch die (Neo-) Liberalen am gegenwärtigen Stand der Dinge festhalten wollen.

Macrons Spekulation zielt darauf, dass die „Neue Volksfront“ mit seiner liberalen Gruppe zusammengehen könnte, um einen Durchmarsch des RN zu verhindern. Ob das wirklich so kommt und damit eine echte Volksfront gegen rechts wie in den späten 1930er Jahren entsteht, bleibt abzuwarten. Macron hat die Neuwahlen so rasch angesetzt, dass keine Zeit bleibt, sich strategisch abzusichern. Recht ungewöhnlich für einen ENA-Absolventen, der darin geschult ist, diplomatisch immer das Beste für sich, seine politische Gruppe und natürlich auch für Frankreich herauszuholen.

Die Abwesenheit einer solchen Schulung bei deutschen Politikern haben wir in früheren Jahren häufig als Mangel bezeichnet. Der Mangel bleibt und zeigt sich permanent: Frankreichs Präsident schafft es, sich als besonders starker Unterstützer der Ukraine darzustellen, während Deutschland viel mehr für die Ukraine tut und trotzdem, anders als Frankreich, ständig in der Kritik steht, es sei nicht genug.

Für einen Repräsentanten der klassischen französischen Politik-Elite geht Macron also einen sehr offensiven und riskoreichen Weg, wenn er einen rasanten Erfolg der Rechten in Kauf nimmt, um die Rechten damit von der Regierung fernzuhalten. Nach unserer Ansicht ist dieser Weg generell ein Fehler und dabei zeigen sich nun auch ein Mängel im Politikverständnis von Menschen wie Macron.

Seine Strategie ist auf eine Manipulation und Um-die-Ecke-Denken ausgerichtet, sie ist international recht wirksam, aber wenn es den einfachen Menschen im Land damit zu viel wird, kann auch dieser Glanz gefestigter diplomatischer Exzellenz die Alltagsprobleme nicht mehr verdecken, die von der Mehrheit wahrgenommen werden. Wir werden diesem Artikel mindestens ein Update folgen lassen, in dem eine frappierende Ähnlichkeit zwischen Deutschland und Frankreich etwas mehr beleuchtet werden wird, hier schon das Grundsätzliche:

Noch während Corona waren die generell kritischen Franzosen und Französinnen zumindest zu etwa gleichen Teilen optimistisch und pessimistisch, die Zukunft ihres Landes und ihre eigene betreffend. Seit 2022 hat sich das Bild stark eingetrübt und die Stimmung ist genauso schlecht wie hierzulande. Das hilft hier der AfD und jetzt auch dem BSW, in Frankreich dem RN.

Dass Europa durch diesen in Frankreich noch stärkeren und auch schon länger ausgeprägten Rechtstrend in Gefahr ist, hat sich das EU-Establishment auch selbst zuzuschreiben: Die EU ist kein Bollwerk gegen die Verarmung immer weiterer Bevölkerungsteile in wichtigen Ländern wie Frankreich und Deutschland, sondern privilegiert ein paar kleine Staaten, die sich auf Kosten anderer bereichern und insgesamt die Oberschicht, die sich auf Kosten der Arbeitenden bereichert.

In Frankreich geht die längere Lebensarbeitszeit, die Macron nun im x-ten Anlauf und gegen starken Widerstand durchgedrückt hat, einher damit, dass französische Superreiche noch schneller reicher werden als in anderen Ländern. Sinnbild dafür ist Bernard Arnault, der LVMH-Chef, der innerhalb weniger Jahre zu den US-Multimilliardären aufschließen konnte und sich großzügig beim Wiederaufbau von Nôtre-Dame de Paris nach dem Brand der Kathedrale gab.

In Frankreichs Bevölkerung herrscht ein anderes Verständnis davon, wie man mit den eigenen Interessen umzugehen hat als in Deutschland, und das hilft gegenwärtig leider den Rechten. Insofern ist dieses viel bewusstere Verständnis genauso falsch, als wenn man wegen der Zustände in Deutschland die AfD wählt, aber nicht falscher, als wenn man hierzulande die Unionsparteien oder die FDP wählt, ohne zu den Privilegierten im Land zu gehören.

Die Konsequenzen einer Rechtsregierung auf die EU und das Verhältnis zu Deutschland zu beurteilen, dazu ist es zu früh, aber wir sehen die hiesige Konzentration auf das Tandem Paris-Berlin schon länger als zu einseitig an, da sind wir gar nicht uneins mit dem RN. Wir sehen Frankreichs Politik ebenso kritisch wie das RN die deutsche. Wer nun wirklich von wem benachteiligt wird, ist also auch eine Frage der Sichtweise Es fehlt jedoch an einer positiven Erzählung über gemeinsame Vorteile, das ist offensichtlich und in Deutschland Teil des generellen Problems, dass die Politik kein mitnehmendes Narrativ zuwege bekommt.

Die daraus entstehenden, im Grunde uralten Friktionen konnten lange Zeit durch große proeuopäische Politiker in Grenzen gehalten werden. Solche gibt es aber mittlerweile nicht mehr und außerdem herrscht überall Abstiegsangst. Da verfestigen sich ohnehin niemals erloschene Feindbilder wieder, dringen nach außen, manifestieren sich in Wahlentscheidungen. Man muss verstehen, dass es in Frankreich nach wie vor zieht, mit antideutscher Rhetorik Wähler:innen einzufangen.

Dies befördert die aktuelle Regression. Anstatt zu sagen, wir schließen uns als Arbeitende und Mehrheitsbevölkerung aller Länder zusammen gegen das gemeinsame Ziel der Eliten in Deutschland, Frankreich und anderswo, uns ärmer und die Reichen reicher zu machen, geht man zui einer Haltung über, die im Grunde infantil ist und schon für viel Leid gesorgt hat.

Wir müssen uns den Film zu Didier Éribons „Rückkehr nach Reims“ noch anschauen, aber wir sind tendenziell auch in dieser Sache vorsichtig: Das direkte Wechseln vieler Wähler:innen von ganz links, was es in Frankreich, anders als in Deutschland, wirklich noch gibt, nach ganz rechts, erscheint uns zu schlicht erklärt und Linkspopulismus ist für uns nicht „links“, wenn er unzählige Elemente rechter Weltbilder übernimmt.

Die Wahlen in Frankreich werden spannend, zumal sie dramaturgisch geschickt aus zwei Wahlgängen bestehen, was taktische Aspekte mehr in den Vordergrund stellen wird als bei deutschen Bundestagswahlen, aber eines sagen wir voraus: Ein Sieg für Europa, für die Demokratie und die Mehrheit der Menschen in allen europäischen Ländern werden diese Wahlen nicht werden.

TH

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