Europawahl-Special 2019: 1. Wählen – was wählen, überhaupt wählen? Kommentar #EuropeanElection2019 #GehtWählen #Wahlsonntag

Es ist 9:30 Uhr. Die Wahllokale haben seit eineinhalb Stunden geöffnet. Viel haben zuvor schon per Brief gewählt, auch Freunde von uns, die inzwischen in Urlaub gefahren sind. Wie werden wir uns selbst verhalten? Das klären wir später.

Aber wen sollte man wählen? Wir können das heute ziemlich schnell durchgehen, nicht alphabetisch:

FDP: Wer sich zum Großkapital rechnet und sicher ist, diese Position über Generationen  hinweg erhalten zu können bzw. sie unbedingt erhalten und um jeden sozialen und ökologischen Preis ausbauen möchte, der sollte heute FDP wählen.

CDU/CSU: Wer in Berlin Mieter_in oder Arbeitnehmer_in oder beides ist und CDU wählt, hat offenbar nicht mitbekommen, dass diese Partei sich nur noch für die paar Prozent Vermieter und Eigentümer zuständig fühlt und welche rückwärts gewendete Wirtschaftspolitik sie auf Bundesebene und in Europa macht.

Europäische Politik, die derzeit von den neoliberal-konservativen EVP-Parteien dominiert wird, hat direkte Auswirkungen auf uns in dieser Stadt, das haben wir in unseren Beiträgen vielfach erklärt.

SPD: Hat jemals die SPD die Interessen der Arbeiter_innen nicht verraten? Vielleicht in der kurzen Zeit der ersten Brandt-Regierung von 1969 bis 1972 nicht, aber das ist etwas wenig, um sie 47 Jahre später noch zu wählen. Hingegen hat sie unter Kanzler Schröder den größten Sozialabbau der deutschen Nachkriegsgeschichte organisiert, ökologisch kein Profil und jede neoliberale EU-Wendung mitgetragen, dafür steht auch und insbesondere Martin Schulz. Mit Katarina Barley schickt die SPD immerhin nicht die letzte Reihe ins EU-Parlament, aber als Justizministerin hat sie vor allem bewiesen, wie man den Mieter_innen in sehr kleinen Schritten nicht wirklich hilft.

GRÜNE: Es liegt in der Zeit, grün zu wählen, ohne gute Klima- und Umweltpolitik geht nichts mehr, aber bisher konnte mir dort niemand erklären, wie man gleichzeitig gegenüber der jetzigen, hier vor Ort und auch weltweit krass ungerechten und Ressourcen zerstörenden Wirtschaftsordnung nur mäßig kritisch bis affin sein und doch eine beherzte ökologische Wende organisieren kann.

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass ist zu wenig und Fahrrad fahren und vegan essen als persönliches Statement ist zwar okay, aber kann die Welt allein nicht retten.

Dass hingegen in Berlin grüne Politiker mit hohen Einsätzen Mieter_innen retten müssen, liegt auch daran, dass auf höherer Ebene die Grünen nicht gerade mit Erklärungen des Zusammenhangs zwischen ungezügltem Kapitalismus, ökologischer Zerstörung und Enteignung der Mehrheit hervortreten. Die Grünen weisen einen inneren Bruch auf, der durch ihren sozial- und friedenspolitischen Bankrott in der Ära Schröder entstanden ist. Das angenehme derzeitige Spitzenpersonal kaschiert diesen Bruch recht gut, aber er bleibt.

Grün kann man wählen, wenn man nicht zu sehr hinterfragen möchte, warum die Grünen die Vision nicht stärker herausarbeiten, was Europa wirklich für uns alle sein sollte und warum die EU mit ihrer konzernorientierten Politik und warum einzelne Länder in der EU und deren Egoismen seit Jahren mit dafür sorgen, dass wir ökologisch und sozial nicht vorankommen, hingegen viele Menschen auf diesem Kontinent ärmer werden, unter anderem, z. B., weil die Mieten explodieren.

DIE LINKE: Ist DIE LINKE noch wirklich links oder versucht sie auch, sich immer mehr anzupassen und in die Mitte zu rücken, um ja bloß endlich vom Mainstream anerkannt zu werden und selbst dort anzukommen? Jüngst gab es in der Linken eine tektonische Verschiebung, die klar gemacht hat, dass die Partei nicht vorhat, noch systemkritisch zu sein. Ein sichtbares Zeichen dafür: Im Bundestagswahlprogramm 2017 wurde gefordert, dass die EU eine eigene Rating-Agentur aufbauen soll, um von den drei US-Agenturen und damit insgesamt unabhängiger zu werden. Das war ein gleichermaßen der EU zugewandter wie progressiver Vorschlag. Ausgerechnet diese Forderung ist aus dem Europawahlprogramm 2019, in dem sie ihren logischen Platz hätte finden können, verschwunden. Dieses Verschwinden ist kein gutes Zeichen.

Das einzige, womit DIE LINKE sich  positiv abhebt, ist die Friedenspolitik. Die ist auf europäischer Ebene wichtig, aber nicht ohne eine Systemkorrektur und eine eigenständigere EU denkbar. Wir haben nicht den Eindruck, dass dies vom gegenwärtigen Spitzenpersonal noch verstanden bzw. offensiv vertreten wird. Wen dieser Widerspruch nicht stört und wer vor allem eine pazifistische sowie Russland gegenüber verständnisvolle Haltung ausdrücken möchte, kann DIE LINKE wählen.

AFD & Co.: Niemand sollte die Absicht hegen, AFD oder irgendeine andere rechte Partei zu wählen. Rückwärts zurück in den Nationalismus ist keine Lösung – aber das ist denen, die unser Magazin lesen, eh klar.

Und sonst? Wer sich traut und ein sehr politischer Mensch ist, bereit, sich mit Programmen und Personen kritisch und intensiv auseinanderzusetzen: Es gibt weitere Angebote von links, die man ernsthaft prüfen sollte. Um den Rechtspopulismus zu verhindern, was wir in unserem eigenen Kreis oft als Grund hören, unbedingt zur Wahl zu gehen, selbst wenn man nicht so recht weiß, wen man eigentlich wählen soll, unzufrieden oder unsicher, wie man ist, muss man nicht eine der oben genannten Mainstream-Parteien unterstützen.

Es gibt in Deutschland bei der EU-Wahl 2019 keine Fünf-Prozent-Klausel und dergleichen Hürden für kleinere Parteien, wie etwa bei den Bundes- und Landtagswahlen (2024 wird das wohl schon anders sein und kleinere Parteien werden benachteiligt sein). 2019 kann  ein Blick auf die kleineren Parteien lohnen. Mit ca. 0,6 Prozent der Stimmen für ihre Partei wird die / der erste e Kandidat_in auf der Liste mit einiger Sicherheit einen der 96 deutschen Sitze im EU-Parlament erhalten – und wenn nicht: Niemand ist verpflichtet, wenig überzeugende Angebote zu wählen, wenn es bessere gibt, nur, um irgendetwas zu verhindern.

In Deutschland wird es nicht zu einem Rechtsruck über die bisherigen bundesweiten oder auf Landesebene erzielten Wahlergebnisse hinaus kommen und was in anderen Ländern geschieht, können wir nicht beeinflussen.

Wie haben wir optiert? Waren wir überhaupt wählen oder gehen wir zur Wahl? Wir haben uns im Vorfeld so geäußert, dass wir uns dieses Mal aus Protest gegen die perspektivlose Politik der herrschenden Parteien erstmals, seit wir über das aktive Wahlrecht verfügen, raushalten werden und dafür das zivilgesellschaftliche Engagement, das wir in Berlin zunehmend sehen, mehr unterstützen wollen.

Wir meinen, es ist durchaus ein demokratischer Willensausdruck, sich zu verweigern, wenn man keine politische Kraft findet, von der man sich repräsentiert fühlt. Das gilt auch dann, wenn man Parteimitglied ist und damit einmal eine Grundsatzentscheidung getroffen und sich als politisch denkender Mensch gezeigt hat. Diese Entscheidung kann bei jeder Wahl überprüft werden, ein kurzfristiges Abweichen aus guten Gründen ist immer möglich und legitim. Und noch kann niemand gezwungen werden, sich am Wahltag so oder so zu verhalten. Im nächsten Update kommt die Offenlegung, was wir heute gemacht haben und machen werden, außer dieses Special zu schreiben.

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