Auf der Sonnenseite – Tatort 709 / #Crimetime 445 // #Tatort #HH #Hamburg #NDR #Batu #Sonnenseite #Tatort709

Crimetime 445- Titelfoto © NDR, Georges Pauly

Der Mann, der in die Milieus eingeschleust wurde

Cenk Batu, der LKA-Sonderermittler mit türkischen Wurzeln, liegt noch Jahre nach seiner Außerdienststellung auf dem vierten Platz der ewigen Tatort-Ermittlerliste (von 94). Zugrundegelegt haben wir das Ranking des Tatort-Fundus. Selbst das aktuelle Spitzenreiter-Team Lannert-Bootz rangiert einen Platz dahinter. Das klingt herausragend, aber warum hat der NDR den Mann dann nach sechs Folgen nicht weitermachen lassen? Wir haben in der Vorschau einiges dazu geschrieben und auch, was wir davon halten, besonders angesichts seines Nachfolgers Nick Tschiller. Allerdings besagt „nur sechs Filme“ auch, dass es nicht allzu viele Ausrutscher nach unten geben konnte. Ermittler, die Dutzende von Fällen lösen mussten, bekamen es immer auch wieder mit schwächeren Drehbüchern zu tun. Innerhalb des Batu-Halbdutzends steht „Sonnenseite“ derzeit auf Rang vier, auf Platz eins der unteren Hälfte. Es ist schon einige Zeit her, dass wir den letzten Batu-Film besprochen haben, daher sind wir, anders als in der Vorschau und in dieser Einleitung, wenig vergleichend unterwegs in der -> Rezension zu diesem Batu-Startfilm.

Handlung

Cenk Batu arbeitet seit Monaten in einer riskanten verdeckten Mission bei dem scheinbar seriösen Unternehmer Petermann. Doch als er endlich in den engeren Zirkel vorzudringen scheint, scheitert er an einer brutalen Feuerprobe. 

Ausgerechnet jetzt kommt sein VE-Führer Uwe mit einem neuen Auftrag: In der Rolle eines türkischen Kleinkriminellen soll Cenk ins Krankenhaus, um dort über den durch eine Messerattacke verletzten Deniz Kontakt zum nach außen hermetisch abgeriegelten Nezrem-Clan herzustellen. Deniz ist der Neffe von Tuncay Nezrem, offiziell Restaurantbesitzer und Gemüsegroßhändler, inoffiziell ein aufstrebender Clanfürst. Und tatsächlich erlangt Cenk Batu quasi über Nacht das Vertrauen von Tuncay Nezrem. Schnell wird ihm klar, dass hinter der Fassade des harmlosen Geschäftsmannes Hochstapeleien stehen, bei denen Nezrem offenbar vor nichts zurückschreckt. Nicht einmal vor dem Verrat seiner eigenen Landsleute, dem auch sein Neffe Deniz zum Opfer fällt. Und plötzlich ist Petermann wieder im Spiel.

Rezension

Ein großes Kompliment an die Macher des Films vorab: Man hat der Versuchung widerstanden, aus einer verdeckten Ermittlung einen besonders verschachtelten Plot zu konstruieren. Dadurch konnte man sich auf die Figuren konzentrieren und in aller Ruhe Cenk Batu einführen und natürlich seinen VE-Offizier Uwe Kohnau. Den Namen des Darstellers, Peter Jordan, als Rollenname, hätten wir übrigens viel cooler gefunden. Denn in gewisser Weise geht ein verdeckter Ermittler über den Jordan, wenn der Einsatz beginnt. Er gibt seine bisherige Identität auf, sie verlischt zumindest für Außenstehende, er lernt eine neue auswendig und hofft, sie funktioniert. Das ist sehr, sehr spannend und kommt dem Film-noir-Muster nah, in dem Menschen versuchen, der Vergangenheit mit einer neuen Identität zu entrinnen, meistens klappt’s nicht, sonst würde es sich ja nicht um einen Film noir handeln.

Darin liegt auch der Unterschied. Die Vergangenheit von Batu wird nicht sehr deutlich, nur, dass er mit dem Vater per Telefon Schach spielt, kommt am Ende heraus dass die Mutter früh verstorben ist, wird wohl nicht nur eine Idee für sein Profil als „Mehmet“ sein – und dass er Migrationshintergrund mindestens mit Einwanderung zwei Generationen zurück hat, weil er ein sehr integrierter Türkischstämmiger ist, hier aufgewachsen, der die Sprache seiner Vorfahren nicht mehr richtig kann.

Damit ist er auch eine Projektionsfläche: Diejenigen, die Integration auch als Assimilation verstehen, werden sich an dieser im Staatsdienst arbeitenden Figur erfreuen; jene, die auf ihrer Ausgangsidentität bestehen, ihn viel zu vewestlicht finden. Die Mehrzahl der Tatortzuschauer*innen dürfte zu ersterer Gruppe zählen und für diese hat man sich einen Mann mit Migrationshintergrund ausgedacht, der von der Musik, die er hört, über die Einrichtung, die er für seine Wohnung gewählt hat bis hin zu der Art, seinem gesamten Style und wie er mit Beziehungen umgeht, westlicher ist als viele Menschen ohne Migrationshintergrund – und natürlich eine Bude hat, die für seine Gehaltsstufe etwas übertrieben wirkt. Er ist im Grunde ein Hipster im V-Mann-Format. Diese schlaue Form der Werbung für den Kapitalismus durch übertrieben dargestellte Wohlständigkeit sehen wir in Tatorten häufig.

Batu ist aber nicht nur so ausgelegt, dass er „mehrheitsfähig“ bezüglich seines Hintergrunds und Auftritts rüberkommt, sondern er ist auch sehr, sehr nett. Vielleicht etwas zu nett für den Job, den er hat, aber es hilft selbstverständlich dabei, die Figur zu akzeptieren und sich mit ihr zu identifizieren. Damit in diesem Sinne nichts schiefgeht, wird gleich zu Beginn gezeigt, dass er nicht bereit sit, einen Mann zu erschießen, was man ihm als Loyalitätstest auferlegt hat. Dadurch verliert er den Zugang zu seinem ursprünglichen Ziel, dem Industriellen Petermann – und landet am Ende doch wieder bei ihm. Wie sich das fügt, ist eine typische Konstruktion, die in der Fiktion wesentlich glaubwürdiger rüberkommt, als das in der Realität der Fall wäre, aber es ist in sich schlüssig.

Man muss auch berücksichtigen, dass Batu nicht etwa auf die beliebten Stoever und Brockmöller folgte, die 2002 ihren Abschied nahmen, sondern auf Casstorff, allen Ernstes mit zwei „s“ und zwei „f“ geschrieben, der betont auf arrogant und unzugänglich getrimmt wurde. Offenbar wurde Batu vor dem Start mit „Der härteste Ermittler seit Schimanski“ oder ähnlich beworben – das ist er definitiv nicht, sondern eher sensibel. Dadurch kann er sich gut in Milieus und Menschen einfühlen, aber riskiert auch das Scheitern, wenn es tatsächlich dazu kommt, dass er hart und rücksichtslos agieren muss. Niemand ist perfekt, und das ist gut so.

Von der erwähnten Anfangsszene abgesehen, kommt er aber in diesem Film nicht mehr in die Verlegenheit, die eigenen Grenzen überschreiten zu müssen, denn der Film ist für einen solchen V-Krimi erstaunlich ruhig inszeniert. Es bleibt vor allem Zeit für schön geschnittene Bilder von einer Hamburger Hochhaussiedlung, die, falls Inneres und Äußeres tatsächlich dieselben Häuser zeigen, aber kein sozialer Brennpunkt ist, sondern eher das Gegenteil. Wir meinen seine eigene, oben schon als ziemlich hip beschriebene Wohnung, nicht das „andere“ Hochhausmilieu, das er als vorgeblicher Ex-Strafgefangener bewohnt, der gerade neu anfängt und die Bude von seinem Bewährungshelfer vermittelt bekam.

Finale

Die Annäherung an den jungen Mann, zu dem Batu im Krankenhaus gelegt wird, geht etwas schnell, Rettung von dessen Leben hin oder her – und wie der vorgeblich Kranke, der gerade operiert wurde, flitzen kann! Auch der Onkel vertraut Batu etwas rasch und niemand kann sich vorstellen, dass Batu ein U-Boot ist. Vielleicht aber kann man es dadurch erklären, dass ja tatsächlich nichts Geschäftliches, sondern eine simple persönliche Angelegenheit hinter den Anschlägen auf Deniz Nezrem steckt, auf die kein normaler Mensch kommen kann: Petermann sollte schlicht seine Tochter nicht in einer Beziehung mit einem Türkischstämmigen sehen. Puh. Wir nehmen es mal so hin, aber Sonderpunkte gibt’s für diese Auflösung nicht. Leider kommt Deniz doch ums Leben, nachdem man ihn, wie Batu, schon zu mögen begann, aber dafür werden gleich zwei riesige geschäftliche Sauereien aufgedeckt. Ermittlungstechnisch kann’s nicht viel besser laufen.

Allerdings zeigt auch schon die erste Folge ein gewisses Problem des Konzepts auf: In wie viele Milieus soll Batu glaubwürdig eingeschleust werden und wie viele Plotvarianten sind dabei maximal denkbar? Es ist schon eine enge Festlegung, die man da von Beginn an getroffen hat. Trotzdem kein Grund, nach nur sechs Fällen schon Schluss zu machen. Für das Doppelte hätte diese immer wieder neu erzählbare V-Geschichte locker ausgereicht.

7,5/10

Vorschau: Got missing Link

Es gab leider nur sechs Film mit dem V-Sonderermittler Cenk Batu, zwei davon konnten wir nach dem Start der „TatortAnthologie“ im Jahr 2011 anlässlich ihrer Fernsehpremiere rezensieren, drei weitere nachträglich. Mit dem Startfilm für den ersten Cop mit türkischem Hintergrund, der als Hauptermittler arbeitet, schließen wir nun die Lücke. Der erste Polizist mit MH und einer Hauptrolle war und ist übrigens Ivo Batic aus München.

Leider waren die Einschaltquoten für dieses besondere Konzept niedrig und der NDR hat zu schnell die Geduld verloren – dass man Batu dann durch Tschiller ersetzt hat, ist das vermutlich größte Verbrechen, das Tatortverantwortliche in fast 50 Jahren selbst begangen haben. Am Anfang brachte Tschiller ja auch die Quote, aber wie nie zuvor bei einem Wechsel aus ebenjenem Grund haben wir uns gefragt, ob der öffentlichrechtliche Rundfunk keine anderen Maßstäbe anlegen darf. Mittlerweile hat es sich gerächt, dass Qualität eben doch nicht gar keine Rolle spielt und die Hamburg-Schiene steckt fest. Der NDR hat mit Falke und Lorenz, dann Falke und Grosz, glücklicherweise ein zweites Eisen im Feuer, auch wenn Falke aus Hamburg weichen und zur Bundespolizei gehen musste, weil in dieser Stadt nur Platz für einen war: Nick Tschiller. Diese Tatsache führt dazu, dass es in der einstigen Krimihochburg ziemlich öde geworden ist. Gentrifizierung hat eben viele Seiten, und sie sind alle negativ.

Mehmet Kurtulus verkörperte den verdeckten Ermittler des LKA Hamburg nur sechs Tatort-Folgen lang, nach „Die Ballade von Cenk und Valerie“ quittierte der Schauspieler 2012 den Dienst. Dabei spielte Kurtulus den türkischstämmigen Kommissar überzeugend und glaubwürdig. Dennoch war der Darsteller nach drei Jahren und sechs Folgen unzufrieden mit dem ständig wechselndem Team, immer neuen Produzenten und Redakteuren. Er vermisste nach eigener Aussage gegenüber dem „Spiegel“ den roten Faden in der Geschichte rund um Cenk Batu: „Ein Head-Autor wäre toll gewesen, der die gesamte Entwicklung überwacht und koordiniert.“

Der Schauspieler, der mit Filmen wie „Gegen die Wand“ berühmt wurde, hat nach dieser Version für sein frühes Ausscheiden aus der Reihe, die bei den Tatort Fans nachzulesen ist, selbst gesagt, er mag nicht mehr, aber die niedrigen Quoten sind belegt. Einen Head-Autor haben aber wohl die meisten Tatortschienen nicht und die oft wenig konsistente oder nicht vorhandene Figurenentwicklung eher die Regel als die Ausnahme. Einige Schienen werden sowieso in der „permanenten Gegenwart“ erzählt. Ein klassisches Beispiel dafür war Münster, bis endlich Nadeshda Krusenstern befördert wurde.

Es gibt natürlich weitere Überlegungen, die man anstellen kann – handlungsseitig war das Batu-Konzept ziemlich eng begrenzt, weil er immer nur verdeckt und das wiederum nur in einem Milieu arbeiten konnte, in dem er authentisch wirkt. Aber ist es auch glaubwürdig, dass Außenstehende so schnell an die Spitzen von Clans herankommen, ohne gründlich gecheckt worden zu sein? Ein weiterer Aspekt: Dass man vielleicht heute beim NDR ganz froh ist, nicht mehr diese Sonderschiene an der Backe zu haben, aus Gründen der politischen Korrektheit.

Ob die sechs Filme von Cenk Batu sich zu Klassikern entwickeln werden? Immerhin liegen zwei davon unter den Top 100 von gegenwärtig fast 1.100 Produktionen in der Rangliste des Tatort-Fundus und nur einer, „Vergissmeinnicht“, gilt bei den Fans, die Bewertungen abgegeben haben, als unterdurchschnittlich.

Wir werden „Auf der Sonnenseite“ aufzeichnen und in den nächsten Tagen eine Kritik schreiben.

© 2019 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

Besetzung und Stab

Cenk Batu – Mehmet Kurtulus
Uwe Kohnau – Peter Jordan
Tuncay Nezrem – Aykut Kayacik
Deniz Nezrem – Burak Yigit
Andreas Petermann – Michael Wittenborn
Anja [Nachbarin] – Patrycia Ziolkowska

Regie – Richard Huber
Kamera – Martin Langer
Buch – Christoph Silber und Thorsten Wettcke
Musik – Dürbeck & Dohmen


Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER

Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

Hinterlasse einen Kommentar