Auge um Auge – #Tatort 1035 / #Crimetime 449 // #MDR #Dresden #Sieland #Gorniak #Auge #Schnabel

Crimetime 449 - Titelfoto © MDR, Gordon Muehle

These, Antithese und ein Schnabel?

Vorwort 2019

Diese Rezension wurde 2017 verfasst, aber bisher nicht gezeigt. In jener „Zwischenphase“ (zwischen dem „ersten“ Wahlberliner und der Neueröffnung im Juni 2018) gab es das Magazin „Rote Sonne 17“, in dem wir aber nur wenige Beiträge für in der Rurbik „Crimetime“ veröffentlichten. In der Regel waren es besonders gelungene Fernsehpremieren.

Besprechung 2017

Nach vier Fällen kann man über das neue Dresden-Team schon die eine oder andere allgemeine Aussage treffen: Ein symathischer kleiner Haufen mit hohem Entwicklungspotenzial, was auch heißt, das Potenzial ist nicht ausgeschöpft. Sicher wird die weitere Steigerung auch davon abhängen, wie sich die Darstellerinnen Alwara Höfels und Karin Hanczewski in ihren Rollen entwickeln, während man bei Martin Brambach davon ausgehen kann, dass er nicht noch mehr zeigen wird als bisher schon. Wie der Film unter diesen Voraussetzungen auf uns gewirkt hat, beschreiben wir in der -> Rezension.

Handlung

In der Versicherungsfirma „ALVA – Ihr Partner für Ihre Sicherheit“ wird am helllichten Tag vom gegenüberliegenden Gebäude aus ein Mitarbeiter erschossen. Scharfschützen in Dresden? Das Ermittlerduo Sieland und Gorniak und ihr Vorgesetzter Schnabel geraten bei der Befragung der Versicherungsangestellten in ein Geflecht aus Intrigen und Drohungen. Die neue Konzernstrategie verlangt von ihren Mitarbeitern weniger Versicherungsleistungen auszuzahlen und zugleich Personal abzubauen. Um den eigenen Arbeitsplatz nicht zu verlieren, wird innerhalb der Belegschaft großflächig gemobbt und Kollegen leichtfertiges Bewilligen einer Prämie oder anstößiges Verhalten unterstellt.

Unter den ALVA-Kunden stoßen die Ermittlerinnen auf unzufriedene Kunden und zerstörte Existenzen wie die von Harald Böhlert, der nach einem Arbeitsunfall und jahrelangem Rechtsstreit von der ALVA um seine Entschädigung gebracht wurde. Doch mancher Betrogene entpuppt sich auf den zweiten Blick selbst als Betrüger. Als auf dem Weihnachtsfest der ALVA mit Rainer Ellgast ein weiterer Mitarbeiter angeschossen wird, geraten die Ermittlerinnen zunehmend unter Druck.

Rezension

Falls Brambach doch mehr täte, wäre das schlecht. Das gesamte Ensemble hat etwas Künstliches und Überdehntes, aber wir wissen ja, dass das heute State oft he Art ist. In der Tatort-Reihe. Aber vor allem Brambachs Rolle hat man nun im vierten Fall wirklich übertrieben. Seine Tatterigkeit in Verbindung mit einer rückwärtsgewandten Rechtslastigkeit gehen eine zweifelhafte Verbindung mit dem Zweitanliegen dieses Films ein.

Dieser Film kommt vom MDR. Dieser war nach der Wende sehr damit befasst, die Befindlichkeit Ost durch die Figuren Ehrlicher und Kain ans Publikum zu vermitteln und man hatte für vieles Verständnis, auch wenn’s nervte und so trist wirkte, wie es sich vermutlich auch anfühlte, wenn man dort leben musste. Speziell in Dresden, die späteren Leipziger Tatorte des Sachsenduos waren etwas weniger dem Tristen zugeneigt.

Wie das alles mit den heutigen Zuständen in Dresden zusammenhängt, darüber kann man eine Abhandlung schreiben. Nach unserer Ansicht war es zumindest keine gute Idee, einen Thesentatort à la Köln zu machen und Schnabel (Brambach) ganz nach rechts zu stellen, wo er zwar die eigentliche Antithese vertreten darf, aber dabei eben sehr gestellt rüberkommt.

Schlimm genug, dass er so übertrieben nerdig und fahrig wirkt und damit als Chef des Kommissariats unglaubwürdig, es gibt einige Szenen im Büro, die sind psychologisch, sagen wir mal, nur dann denkbar, wenn sich daraus eine umgehende Autoritätsverschiebung ergeben würde, aber nicht, wenn das alles jahrelang so laufen soll. Das ist allerdings in vielen Tatorten zu beobachten – gruppendynamische Prozesse sind kein Ponyhof und an Standorten, die einen bis zwei Fälle im Jahr zeigen, offenbar schwer unterzubringen. Gab es allerdings auch schon, vor allem, wenn man die Oberen in der Hierarchie nicht so underperformen lässt.

Das Hauptproblem von in „Auge um Auge“ ist aber, dass der Thesentatort à la Köln anhand des Themas Geflüchtete eingerichtet wird, also jeder im Kommissariat eine eigene Meinung dazu hat, von linksglobalistisch (Sieland) über pragmatisch, weniger engagiert oder aufgeregt (Gorniak) bis altkonservativ mit Einschlag dorthin, wo über 27 Prozent der wählenden Wähler*innen in Sachsen bei den gerade erfolgten Landtagswahlen ihr Kreuz gemacht haben (Schnabel).

Schon mit zwei Personen ist das Pingpong mit These und Antithese überraschenderweise nicht immer einfach, aber mit dreien wird es konfus, weil irgendjemand dabei mäandern muss, anstatt dass nur klare Pole sichtbar sind. So ist denn auch die Haltung des Films. Wem soll der Zuschauer nun folgen, Sieland, Gorniak, die sich auch im Lauf der Handlung meinungsmäßig etwas bewegt – oder doch Verständnis für Schnabel, der hier alle „Abgehängten“ vertreten darf, aber dafür die falsche Position hat?

Wer von den wirklich Abgehängten, denen er, verstärkt durch Versicherungsmann  Ellgast, hier nach dem Mund redet, soll sich durch eine solche Figur vertreten fühlen? Die wenigsten davon werden auf einem Chefsessel gelandet sein. Und wenn, sind sie eher Glückskinder, wie es sie vor allem im Öffentlichen Dienst wohl wirklich gibt, aber darum auch eher dort in einer Schutzzone verortet als sozial marginalisiert.

Jedenfalls hätte man gerade bei einem Tatort aus Dresden viel eindeutiger sein und den Mut haben müssen, sich auf die Seite der Geflüchteten zu stellen. Das tut not, da kann man nicht alles, was wichtig ist, dadurch in Frage stellen, dass man Schnabel so weit nach rechts rücken lässt und ihn dann noch sympathisch darstellt, als sei Rassismus eine Art charakterlicher Betriebsunfall minderen Schweregrades, der aus kognitiven Beschränkungen resultiert, aus subjektiver Wahrnehmung, Eine subjektive Wahrnehmung haben wir schließlich alle, auch die „Gutmenschen“ unter uns (war es 2017, als der Entwurf entstand, als das Wort zu Unwort des Jahres erkärt wurde?).

Mit solchen Tatorten wird jedenfalls nicht Stellung gegen den sächsischen Rechtsdrall, speziell den Dresdner Rechtsdrall bezogen, sondern jedem noch so rückwärts gewendeten Meinungsbild eine Ankermöglichkeit und eine Rechtfertigung geboten. Den vorherigen Satz haben wir nicht 2019 angehängt, obwohl er so aktuell ist wie nie zuvor.

So gesehen, ist der MDR, wie Christian Buß im SPIEGEL schreibt, wirklich nur eine Versicherungsanstalt, in der die schwarzen Schafe offensichtlich die Herde bilden. Denn so unsubtil, wie der Vergleich der gesellschaftlichen Positionen hier abläuft – das müssen sie doch beim MDR gemerkt haben, dass dies ein trojanisches Pferd in Sachen Gesellschaftskritik ist. Besonders diejenigen mit DDR-Vergangenheit, die  zwischen den manchmal hölzernen Dialogzeilen lesen können.

Der Fall Menschen vs. Versicherung hingegen ist sehr konventionell, wenn auch gut gespielt. Arnd Klalwitter gibt wieder einmal eine gute Darstellung, in seiner Rolle als Versicherungsmanager, der vielleicht einen Tick zu wenig dezidiert auftritt für jemanden, der das Ganze leiten will, ansonsten aber gelungen ist.

Seine Mentalität wirkt in etwa so, wie man sie im Geschäftsleben wirklich beobachten kann, eine Mischung aus sarkastischer Gleichgültigkeit und übergrifig-verdruckstem Humor, hinter der sich ein fundamentalistischer und egozentrischer Nihilismus eingenistet hat. Auch hier haben wir den vorausgehenden Satz nicht etwa wegen unseren Beobachtungen des Mietenwahnsinns hinzugefügt, die wir seit 2018 machen.

Man darf nach offiziellen Maßstäben guter Sprache andere nicht mehr so offen diskriminieren wie früher, aber an der Mentalität hat sich wenig geändert. Wie überhaupt „Die Versicherung“ einen durchaus nicht realitätsfernen Mikrokosmos darstellt. Die ganzen Linien und Verhältnisse rasch, aber einprägsam skizzierenn, das können Tatort-Drehbücher immer wieder und konstruieren daraus ihre Verdächtigen-Panoramen, wenn sie  klassische Whodunits sind, wie „Auge um Auge“.

Dafür laufen andere wichtige Komponenten eines Films häufig aus dem Ruder. Allein das Finale im Haus der Versicherung weist mehrere Sachfehler auf und dann noch der Twist mit dem Foto, der einer festgefahrenen Ermittlungssituation auf eine denkbar plumpe Weisen auf die Sprünge hilft. Es handelt sich wieder einmal um einen Baukastenfilm, dem man das Baukastenmäßige anmerkt.

Okay, der Tatort hat es nicht leicht. Personen wie wir bemängeln hier das Abgezirkelte und Konventionelle, andere stören sich an jeder Abweichung davon. Wir haben nichts gegen klassische Plots, wenn sie nicht mit so vielen Logikschwächen behaftet sind, denn dafür sind bestimmte Muster ja gut erprobt – damit sowas nicht passieren muss. Wir nennen nur den Umgang der Kommissarinnen im Versicherungshaus mit einer verdächtigen Person, die Sache mit der Tür, die man einfach mal blockiert, als sei diese hochmoderne Zenrale eines Konzerns ein Privathaus, also die einzige Objektklasse, die  überwiegend noch nicht elektronisch gesichert ist.

Dramaturgisch empfinden wir es als einen Mangel, dass man die Täterperson doch allzu gut versteckt hat. Auf dem Markt zeigt sich anhand der Figur unter dem Parka kurz, dass es sich um eine Frau handeln muss, das wirkt unabsichtlich, ist aber ganz gut gemacht – was man von deren Motiven dann wieder nicht sagen kann. Gewiss, ein auf den Tisch gespritztes Gehirn kann Depressionen auslösen, in dem Fall setzte der Selbstmord eines Versicherungskunden im Haus des Gegners Aggressionen bei ebenjenem, also einer Mitarbeiterin, frei, die sich dann gegen das eigene Unternehmen richten.

Was wir lernen, ist leider nicht, wie man sich Geflüchteten am besten annähert und ihnen hilft, wenn man eben nicht Staatseigentum dafür requirieren will, sondern, dass Versicherungen in 60 Prozent aller Fälle von Berufsunfähigkeit nicht zahlen wollen und nur 5 Prozent der Betroffenen klagen. Wenn man mit solchen Zahlen um sich wirft, müssen sie wirklich stimmen, deshalb wollen wir das hier unterstellen, obwohl es etwas verschoben wirkt. Nicht die erste Zahl, die trauen wir den Versicherungen zu, aber Letztere. Im Sozialrecht ist beispielsweise die Quote von Menschen, die gegen Bescheide Widerspruch einlegen und dann auch den Klageweg gehen, um einiges höher und die Erfolgsquote von ca. 30 bis 40 Prozent weist darauf hin, dass bei der Verwaltung etwas sehr im Argen liegt. Natürlich kann man einwenden, nicht jeder hat eine Rechtsschutzversicherung, die dann möglicherweise noch gegen das Unternehmen eingesetzt werden muss, für das man arbeitet – und Klagen sind teuer und langwierig.

Leider gibt es auch bei diesem Thema ein No-Go, das hier breitgetreten wird. Nämlich den Fall des Erwerbsgeminderten, der die Radlerhosen anhat. Dass es immer Missbrauch gab und immer geben wird, ist wohl klar, aber es erübrigt sich wirklich, den hier herauszustellen, weil dadurch die berechtigte Kritik an der Praxis der Versicherungen, gezeigt anhand des Rollstuhlfahrers, der sich umbringen will und dessen Firma seit seinem Unfall den Bach runtergeht, relativiert wird. War da nicht was? Genau, einige Absätze zuvor bei den Geflüchteten. In diesem MDR herrscht irgendwie ein seltsamer Geist und es wirkt beinahe, als habe die ARD den Sender dazu verdonnert, sich an den Aktionen gegen Rechts und gegen Klischees zu beteiligen und seinem öffentlichrechtlich-pädagogischen Auftrag nachzukommen und der Mitteldeutsche Rundfunk  hat sich dieser Sache auf seine geradezu hinterlistige Weise angenommen, nämlich durchblicken lassen, dass er das durchaus differenziert sieht und viel Verständnis für Pegida-Fans und ähnlich Orientierte hat. Man kann mit diesen Gegenständen tatsächlich differenziert umgehen und über Machbarkeitserwägungen diskutieren, aber ausgerechnet da zitiert Henni Sieland Angela Merkel: Wir schaffen das. Entweder ist das mega plump oder MDR-ironisch gemeint. Beides ist schlimm, aber wir befürchten angesichts des gesamten Films sogar Letzteres: So wie Merkel in Wahrheit anderen angesagt hat, was sie zu schaffen haben und das „wir“ dafür okkupiert hat, so verstehen die, die es verstehen wollen, auch den  Hinweis auf diese wirklich platte Aussage einer Kanzlerin, die als Philantropin zumindest für uns nie recht glaubwürdig war.

Finale

Eines Tages, mit mehr Abstand zum heißen Scheiß der Politik von heute, wird man Filme wie diesen wunderbar analysieren und wir hoffen, wir erlebe diese retrospektive Betrachtung noch, denn die vielen Unterströmungen machen nach unserem Verständnis dieses Werk ziemlich tückisch. als Tatort-Krimi hingegen ist es allenfalls Mittelklasse. Wir hoffen auf das Team und würden uns zu der Aussage versteigen, dass sich die beiden Frauen darin auch ein Stück nach vorne gearbeitet haben, wenn man heute schon zurück blickt. Dafür muss man beim Chef wirklich aufpassen, dass er nicht zu Chefchen wird und das Kommissariat nicht zu einem Stromberg-Büro mit vielen Unterströmungen verkommt. Klar läuft in der Realität nicht alles optimal und ein Film darf auch überzeichnen. Aber zumindest eines muss man tun: politische Haltung und Alltags-Nerdigkeit nicht auf eine so manipulative Weise verknüpfen wie hier.

Wir schließen nun ebenfalls mit einer 2019 für die Erstveröffentlichung ergänzten Anmerkung: Es gibt in dieser Rezension viele Redundanzen, aber wir übernehmen sie trotzdem erst einmal weitgehend. Gut möglich, dass wir nicht nur mit dem Film nicht sehr zufrieden waren, sondern auch mit unserer Kritik dazu, als wir uns vor zwei Jahren entschieden, sie nicht in „Crimetime“ zu zeigen. Obwohl wir sie aus Zeitgründen nicht komplett überarbeiten können, waren viele sprachliche Kleinigkeiten zu verbessern, damit sie publikationsfähig wurde.

Unzufrieden ist aber ein gutes Stichwort: Mittlerweile wissen wir, dass auch Henni Sieland alias Alwara Höfels unzufrieden war uns ausstieg. Ausgerechnet, nachdem dieser Abschied klar war, wurde der Dresden-Tatort tatsächlich um Etliches besser. Bevor sie dann wirklich ging und Leonie Winkler das Feld überließ.

6/10

© 2017 Rote Sonne 17, Thomas Hocke

Oberkommissarin Henni Sieland – Alwara Höfels
Oberkommissarin Karin Gorniak – Karin Hanczewski
Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel – Martin Brambach
Kriminaltechniker Ingo Mommsen – Leon Ullrich
Gerichtsmediziner Falko Lammert – Peter Trabner
Heiko Gebhardt – Alexander Schubert
Rainer Ellgast – Arnd Klawitter
Cordula Wernicke – Ramona Kunze-Libnow
Claudia Bischoff – Isabell Polak
Harald Böhlert – Peter Schneider
Ines Böhlert – Marie Leuenberger
Martina Scheuring – Henny Reents
Fabian Rossbach – Sascha Göpel
Hennis Freund Ole – Franz Hartwig
u.a.

Drehbuch – Ralf Husmann, Peter Probst
Regie – Franziska Meletzky, auch Drehbuchmitarbeit
Kamera – Bella Halben
Szenenbild – Alexander Manasse, Bärbel Schäfer
Ton – Uve Hausig
Musik – George Kochbeck


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