Die Straße (DE 1923) #Filmfest 855 #DGR

Filmfest 855 Cinema – Die große Rezension

Die Straße ist ein deutscher Stummfilm von Karl Grune aus dem Jahre 1923. Er begründete das Genre der so genannten Straßenfilme.

Es gibt einen Film, den wir hier schon rezensiert haben, der wirkt wie ein direkter Vorgänger von „Die Straße“, „Von morgens bis mitternachts“. Bei allen Unterschieden, das Szenario ist ähnlich, und was ist ein Straßenfilm? Dies und mehr besprechen wir in der Rezension.

Handlung (1)

Ein Kleinbürger hat genug von der bürgerlichen, ihn bedrückenden Enge seines Lebens. Er will dem alltäglichen Einerlei, dem dumpfen Ehealltag entfliehen und stürmt eines Nachts aus seiner Wohnung heraus, in das lockende Leben der Großstadt. Dort will er etwas Aufregendes erleben. Kaum auf der Straße angekommen, trifft er eine Frau, offensichtlich eine Prostituierte. Er begleitet sie in ein Tanzlokal. Dort sind gerade mehrere ihrer Komplizen – ohne Zweifel Kriminelle – dabei, einen anderen Mann beim Glücksspiel zu betrügen. Nach anfänglichen Verlusten kann dieser Mann jedoch sein Geld wieder zurückgewinnen. Er ahnt nicht, dass dies für ihn das Todesurteil bedeuten soll …

Denn nun locken die Ganoven diesen Mann in eine Wohnung, rauben ihn aus und ermorden ihn anschließend. Der Kleinbürger befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einem Nebenraum; er ist der Prostituierten auf ihr Zimmer gefolgt, in der Hoffnung, sich mit ihr zu vergnügen. Alle, die in das Verbrechen verwickelt sind, die Prostituierte und ihr am Mord beteiligter Ehemann wie auch dessen Kumpel, fliehen nach der Bluttat in Panik. Als die Polizei eintrifft, verhaftet sie den Kleinbürger, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Man hält ihn zunächst für den Täter und sperrt ihn ein, bis er infolge der Aussage eines Kindes gerettet wird. Im letzten Moment ist der Kleinbürger davor bewahrt worden, sich das Leben zu nehmen. Nach seiner Entlassung kehrt er reuevoll zu seiner Ehefrau zurück, die im trauten Heim auf ihn gewartet hat und ihm wortlos eine heiße Suppe aus dem Ofen serviert.

Rezension

Ein Motiv wurde aus „Von morgens bis mitternachts“ direkt übernommen, vielleicht als Reminiszenz. Ein Frauengesicht wandelt sich in einen Totenkopf. Nur einmal allerdings, während „Von morgens bis mitternachts“ von dieser Trickgestaltung geradezu dominiert wird, die uns sagen will, dass der Kleinbürger, den es in beiden Fällen gibt, folgt er aus seinem heimischen Idyll oder auch der heimischen Enge der Straße, einer fremden Frau, dem Tod ins Angesicht zu blicken hat, Gefahr bedeutet sie allemal. In „Von morgens bis mitternachts“ stirbt der Protagonist tatsächlich, „Die Straße“ endet gnädiger. Mit einem Beinahe-Suizid und mit der oben erwähnten Suppe auf dem Tisch, die von der Frau im Ofen warmgehalten wurde, mit einer stillen Versöhnung am Fenster. Während anfangs der Mann auf der Couch liegt und die wilden Schatten der Straße im Fensterkreuz tanzen, das sich an der Decke abbildet, stehen die Eheleute am Ende ganz vereint dar, er lehnt seinen Kopf an ihre Schulter. Nochmal gutgegangen, das Abenteuer, zumal er den fremden Scheck zurückgewonnen hat, der dem vom Kassierer geklauten Geld in „Von morgens bis mitternachts“ entspricht.

Ich hatte die Idee, den enormen Einfluss des Drehbuchautors Carl Mayer auf den deutschen Film von 1919 bis 1932 hier zu beschreiben, denn die Idee zu „Die Straße“ stammt von ihm, aber nicht, wie bei so vielen berühmten Filmen von „Das Cabinet des Dr. Caligari“ bis „Der träumende Mund“ das Drehbuch selbst. Man bemerkt diesen Einfluss aber, wenn man den historischen Kontext kennt. Deshalb empfiehlt sich hier eher ein Exkurs zum Thema „Straßenfilm“.

Der Straßenfilm ist ein Subgenre des Stummfilms in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik in den 1920er Jahren. In den Straßenfilmen steht die Straße für die Verlockungen der Großstadt, als visuell stilisierter Ort, an dem der Kleinbürger außerhalb seines sicheren Heims triebhafter Versuchung und Gefahr ausgesetzt ist. Das Milieu der Straße symbolisiert die Chancen, aber auch die Abwege der Moderne, denen der bürgerlich geprägte Mensch mit Faszination, aber auch Angst gegenübersteht. Siegfried Kracauer prägte den Begriff in seinem Buch Von Caligari zu Hitler.

Nachdem der Erste Weltkrieg die Sicherheiten des Bürgertums, besonders des Kleinbürgertums vernichtet hatte, wörtlich und im übertragenen Sinne, nachdem im Jahr 1923, als „Die Straße“ gedreht wurde, die Hyperinflation für weitere Einschnitten gesorgt hatte, lag der Straßenfilm geradezu in der flirrenden Luft der Weimarer Republik. Bleiben wir noch bei Kracauer:

Siegfried Kracauer schrieb: „Der Film ist eine Meisterleistung des Regisseurs Karl Grune und seiner Helfer, zu denen auch Ludwig Meidner gehört. Auch die schauspielerischen Leistungen sind vollendet, Blick und Gebärden sagen restlos, was auszudrücken ihnen obliegt und treten ganz und gar ein für das überflüssige Wort. Filmwerken dieser Gattung gehört die Zukunft.“[2]

Den Film selbst hat er also sehr positiv rezensiert, rückblickend, weil er da schon von Caligari bis Hitler eine Linie ziehen konnte, sah es, für das gesamte Genre, etwas anders aus:

Kracauer sieht in den Straßenfilmen trotz der angedeuteten Alltagsfluchten und rebellischen Akte gegen die Spießigkeit autoritäre Strukturen, da die „Sünder“ häufig reumütig in ihre bürgerliche Welt zurückkehren: „Die Straßenfilme propagieren zwar die Flucht vor der Häuslichkeit, dies aber immer noch im Namen des autoritären Verhaltens.“[2] Dieses Motiv sei allen Straßenfilmen gleich: „In allen bricht die Person mit den sozialen Konventionen, um ein Stück Leben zu ergattern, aber die Konventionen erweisen sich als stärker als der Rebell und zwingen ihn entweder zur Unterwerfung oder zum Selbstmord.“[3]

In den Kammerspiel- und Straßenfilmen (zu den oben erwähnten kommen „Hintertreppe“ und „Scherben“, die ebenfalls von  Carl Mayers Drehbüchern geprägt sind), die ich bisher gesehen habe, ist es tatsächlich so, dass sie alle schrecklich enden oder eben doch mit einer Rückkehr in den vorherigen Zustand. Ist das konservativ gewesen oder sehr hellsichtig, wenn man tatsächlich die Verlockungen der dampfenden Straße mit den Verführungen einer siedendheißen, hochgradig toxischen Politik gleichsetzt, die letztlich in den Untergang führen wird? Ich glaube nicht, dass es 1923 das bestimmende Motiv war, vor den Nazis zu warnen, obwohl es sie bereits gab. Mich erinnert dies an einen Satz aus einer Dokumentation über das Weimarer Kino, die ich kürzlich angeschaut habe: „Weiß das Kino mehr als wir?“ Drücken sich in ihm Dinge aus, die uns noch gar nicht bewusst sein? Vielleicht wird man in einigen Jahren sagen, das Ende der Demokratien hat sich lange vor dessen  in der Präferenz des Publikums faschistische Superheldenfilme angedeutet. In Zeitlupe sozusagen, wenn man es mit den rasanten Entwicklungen im Film und in der Wirklichkeit während der Weimarer Zeit vergleicht. Heute kann sich jeder solche Gedanken machen, der sich mit Filmen befasst und sollte es auch. Wir haben alle Zeit der Welt.

Aber 1923, das war vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und das Hier und Jetzt war schon schwierig genug zu beschreiben. Leider findet sich in „Die Straße“, wie auch in anderen Filmen, ich beginne mit diesem Genre gerade erst, etwas, das sich – vielleicht zum Guten – während der Weimarer Zeit dann doch mit der vorläufigen Etablierung des modernen Lebens ein wenig gemäßigt oder gar verloren hat:

Lotte H. Eisner zählt bereits Leopold Jessners und Paul Lenis noch dem Expressionismus verhafteten Hintertreppe aus dem Jahr 1921 zu den Straßenfilmen, doch der erste die Motivik voll ausspielende Straßenfilm ist Karl Grunes Die Straße aus dem Jahr 1923. Ein Kleinbürger wird auf der Straße in verbrecherische Machenschaften verwickelt und verhaftet, als er unter Mordverdacht gerät. Nachdem er jedoch entlastet wird, kehrt er reumütig in sein Heim zurück. G. W. Pabst definiert in Die freudlose Gasse (1925) die Diskrepanz zwischen den sozialen Milieus deutlich politischer und durch die Mittel der Neuen Sachlichkeit realistischer. Der Lebensumgebung des Lumpenproletariats steht die Welt der Neureichen mit ihren Vergnügungen entgegen; in diesem Spannungsfeld arbeitet Pabst an zentralen Themen wie Schuld und Verführung.

In Bruno Rahns Dirnentragödie (1927) spielt Asta Nielsen eine alternde Prostituierte, deren Mitgefühl für einen von zuhause Ausgestoßenen in Mord und Selbstmord endet. Die dämonische Qualität der Straße wird hier in traumartigen Bildern stilisiert. Optimistischer deutet Joe May in Asphalt (1929) das Leben auf der Straße. Die Chance auf Abenteuer und Veränderung steht im Vordergrund, und der Held findet durch die Aufrichtigkeit seines Gefühls trotz der Gefahren des kriminellen Straßenlebens zu einem Happy End mit seiner Geliebten. Weitere Straßenfilme sind Pabsts Abwege (1928), Ernő Metzners Polizeibericht Überfall (1928) und Erich Waschnecks Die Carmen von St. Pauli (1928).

Ich finde, man kann von „Die Straße“ auch eine Verbindung zu Filmen erstellen, die nicht zum Genre zählen, wie Fritz Langs „Dr. Mabuse“ (1921/22) oder zu Murnaus Filmen, die kurz vor „Nosferatu“ entstanden und Gegenwelten etablieren: Die anständigen Bürger, der Staatsanwalt bei Lang gegen den städtischen Großverbrecher in tausend Masken, die Bauernwelt gegen die der reichen Spekulanten in „Der brennende Acker“, sie alle spielen eine anständige, aber recht kleine Welt gegen Versuchung, Gier und mondänes Leben aus, wobei Fritz Lang im Grunde ganz modern bleibt und Murnau genau das Gegenteil, ohne die Straße als eigenständige negative Figur zu installieren, wie es allgemein für den Film als gegeben erachtet wird, der die Straße schon im Titel trägt.

Plötzlich war alles, was zuvor integriert, zukunftsorientiert, nach vorne gerichtet schien, nach dem Ersten Weltkrieg ein einziges Chaos und die Schuld der herrschenden Klasse daran bleibt nicht unerwähnt. Dass damit auch der Boden für den Rassismus der Nazis bereitet wurde, ist ein schwieriges Thema. Ich glaube nicht, dass das ursprünglich und intentional war, denn sehr viele Filmschaffende waren selbst Juden. Murnau, Lang, Mayer allerdings nicht, die an einer wirklich faszinierenden Welt der schroffen Gegensätze und plakativen Charaktere gestrickt haben, als hätten sie alle nur noch kurze Zeit dazu, bevor die Welt untergehen wird. Im Grunde war das ja auch so, wenn man die Zäsur mit dem Jahr 1933 ansetzt. Der Arbeiterfilm hingegen als Antwort auf die Verwerfungen der Zeit war in Deutschland zwar vorhanden, vor allem um 1930 herum, aber prägte das Weimarer Kino nicht so wesentlich wie der Expressionismus, der so gut zu der aus den Fugen geratenen Zeit passte. Kein Wunder, dass linke Filmkritiker wie Jerzy Toeplitz den Expressionismus zwar interessant fand, aber zu dem Schluss kamen, erst in einem nachrevolutionären Land wie der Sowjetunion könne der wahre Film entstehen.

Heute wirkt das Weimarer Kino mit seinem Stil, der sich teilweise im US-Kino niederschlug und seinem ausgeprägten Storytelling, das es im frühsowjetischen Film selten gab, als ob er mehr in der Kontinuität der Geschichte stünde, wenn auch mit einer oft ausgeprägt tragischen Note, die sich in „Die Straße“ gerade noch vermeiden ließ.

Können wir heute noch nachvollziehen, was wir sehen? Es hängt wohl vom Zugang ab. Wie viele Zuschauer mögen sich damals gedacht haben: Wie viele Teller gute Suppe muss das Hausmütterchen uns vorsetzen, bis wir denken, dies ist mehr wert als eine Beinahe-Nacht mit einem verruchten Vamp? Ich glaube, das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Fremd und doch vertraut sollen sie sein, die Handlungen, besonders aber die Geschichter aus diesen Filmen, heißt es in der oben erwähnten Dokumentation auch. Fremd, weil sie von ihrer Zeit geprägt waren, vertraut, weil wir Vorfahren in dieser Zeit hatten, deren Erbe noch in uns wirkt und weil sich Emotionen in diesen Gesichtern spiegeln, die uns vertraut sind.

In „Die Straße“ sind diese Emotionen nach Ansicht der zeitgenössischen Kritik bestens ausgedrückt worden, wie wir oben in der Kritik von Siegfried Kracauer gelesen haben.

Oskar Kalbus’ Vom Werden deutscher Filmkunst schrieb: „Karl Grunes fast titelloser Film „Die Straße“ (1923) stellt den Spuk einer Nacht dar, das Schicksal eines für kurze Stunden aus der geruhigen Bahn satter Bürgerlichkeit Gerissenen (Eugen Klöpfer), der in der Spanne einer einzigen Nacht durch die Höhen und Tiefen des Lebens gezerrt wird und schließlich zu seinem sicheren Ausgangspunkt wieder zurückkehrt. Auch dieser Kammerspielfilm bringt wieder etwas Neues: nicht Klöpfer ist der Held des Films, sondern die Straße.“[4]

Reclams Filmführer schreibt: „Der Film ist größtenteils gut fotografiert und montiert. Eindrucksvoll sind auch die Bauten […]; ganze Straßenzüge entstanden durchaus realistisch und überzeugend im Atelier. Buch, Regie und Darstellungsstil sind dagegen überwiegend sentimental-pathetisch geraten.“[5]

Ich habe das Wikipedia-Zitat des Filmführers eingebunden, weil die Geschichte der Rezeption von Filmen fast so interessant ist wie die Filme selbst, oder mehr als dies. Der Filmführer entstand 1973, zu einer Zeit, als man sich ganz bewusst absetzen wollte von alten Traditionen und sehr, sehr nüchtern auf die alten Filme schauen wollte. Wenn das, was oben steht, für „Die Straße“ gilt, dann gilt es noch mehr für fast alle anderen Filme aus der Zeit, die ich bisher gesehen habe. Gerade die mit wenigen Zwischentiteln arbeitenden Werke, die mit Carl Mayer konnotiert sind, kommen nicht ohne deutliche Mimik und Gestik aus, damit das Publikum sie lesen kann. Ein Gegenbeispiel ist das Filmen von Ernst Lubitsch, der Zwischentitel als Stilmittel verwendet: Auch der geschriebene Dialog war witzig und ermöglichte es, die Darstellungen in den Bildern ironischer und die Expressionen knapper zu fassen und dabei ein sehr fantasievolles, reiches Panorama zu zeigen.

Wir sind gegenüber der Zeit, in der Reclams Filmführer entstand, wieder genau 50 Jahre weiter, der zeitliche Abstand zu „die Straße“ umfasst nun 100 Jahre und ich muss festhalten: Ich mochte den Film nicht, etwas besser wurde es erst während des Kartenspiels, weil ich fand, das Hin und Her des offenbar nicht so recht zu manipulierenden Spielglücks war mindestens so gelungen wie in amerikanischen Filmen. Es lag sicher an der schlechten Kopie, aber auch daran, dass ich in viel kürzeren Abständen diese durchaus deprimierenden Filme der frühen 1920er angeschaut habe, als das Publikum sie zu sehen bekam. Immerhin hatte diese Kopie 90 Minuten Spielzeit, während  in der Wikipedia für den Film nur 74 Minuten angegeben sind.

In Wirklichkeit stellten Kinostücke wie „Die Straße“ nur einen kleinen Ausschnitt aus einem Filmschaffen dar, das viel mehr Produktionen zuwege brachte, als das heute in Deutschland der Fall ist (wenn man nicht sämtliche Koproduktionen mit deutscher Beteiligung mitzählt). Sie hoben sich künstlerisch hervor und haben das Kino stark geprägt.

Obwohl ich dem Film gegenüber reserviert eingestellt bin, auch wegen dieses nun wiederholt gesehenen Endes der Beschaulichkeit, das wirkt, als sei der Kleinbürger für alle Zeiten geheilt vom Betreten der Straße, mindestens vom Betreten derselben ohne seine Frau als Aufsicht, finde ich ihn im Rahmen des Zeitstils gut gespielt, wie die meisten dieser Werke. Das deutsche Kino hatte viele bekannte Theaterschauspieler:innen aufzubieten, das merkt man ihm noch heute an, man ist vom etabliertenTheater her ins Kino gestartet, sofern die Filme etwas ernsthafter und künstlerisch ambitioniert waren.  Psychologisch gesehen, glaube ich nicht so recht an einfache Lösungen wie das Heilen einer großen Sehnsucht nach Veränderung und Abenteuer durch eine gute Suppe und dadurch, dass die eigene Frau ordentlich einen blonden Zopfkranz ums Haupt gewickelt hat, während die wilde Prostituierte die Haare à la Nestbau eines besoffenen Storches wuchern lässt. Da der Kleinbürger mit Letzterer nicht bis ins Bett gekommen ist, wird er sich folgende Gedanken machen: Wie könnte ich den Unterschied noch testen, ohne dass ich gleich in einen solchen existenzbedrohenden Strudel gerate? Die Antwort ist einfach: Indem ich mal ein einem Bordell einchecke. Das ist natürlich auch heutige Denke und ironisch und etwas zynisch, deswegen ist es so wichtig, wenigstens den Versuch zu machen, sich in diese Zeit hineinzuversetzen.

Heute weiß jeder, wen er vor sich hat, wenn er über Politiker mit Sexaffären, Korruption und Lobbyismus liest und wie Reden über Werte geschwungen werden, während die Füße der Redner schon dabei sind, diese Werte zu treten, man findet das alles nur noch abgeschmackt. Doch damals waren Kleinbürger tatsächlich noch von rigiden Moralvorstellungen geprägt, die mit der neuen Ordnung bzw. Unordnung in fundamentalem Konflikt standen. Der Typ, den wir hier sehen, der wird vielen Menschen damals ganz nah gewesen sein. Deswegen war die Darstellung der Gegenwelt auch immer mit so einem Hauch von Hingezogenheit und Sensation behaftet, die dem heutigen kritischen Kino doch nicht mehr eignen. Nun ja, so sicher ist das auch nicht. Plakativ geht immer noch gut, aber vor einem anderen gesellschaftlichen Hintergrund als vor 100 Jahren. Wirklich sensationell ist eher, wie Alltagsmenschen im Fernsehen als verblödet dargestellt werden, da scheint es noch kein Ende der Steigerung zu geben.

Auch der in Relation zu den Kammerspielfilmen der frühen 1920er üppige und mit recht vielen Menschen bevölkerte „Die Straße“ ist aber eine Verdichtung der Realität, nicht ihre Auswalzung und konzentriert sich auf weniger als 24 Stunden, wie – notabene – „Von morgens bis mitternachts“. In dieser Zeit erfährt der Kleinbürger etwas wie eine Wandlung, hat aber auch Glück, dass ein Kind ihm hilft. Diese Beinahe-Zeisträngigkeit der Handlung weisen andere Filme dieser Art nicht auf, die ich bisher gesehen habe und ist es wert, sich mit ihr zu beschäftigen. Der blinde Greis, der von Nosferatu-Darsteller Max Schreck gespielt wird, der Zuhälter, das Kind, sind eine Familie in drei Generationen, offensichtlich. Die alte Zeit ist blind und kann nur noch den Tod feststellen, aber nicht, wer ihn verursacht hat, und verliert auch das Kind, das auf die Straße rennt. Die mittlere Generation ist ein verschlagener Gauner und Zuhälter, das Kind jedoch wird von der Polizei beschützt, die irgendwie französische Uniformen trägt, und sagt am Ende Wahrheit, die den Kleinbürger entlastet. Diese Generationendarstellung ist kein Füllmaterial, sondern stellt symbolisch nach meiner Ansicht das  zerstörte Gestern, das skrupellose Heute und das hoffnungsvolle Morgen dar. Vielleicht zeugt ja auch der Kleinbürger, von der guten Suppe gestärkt, noch ein Kind, das alles integrieren und die Wunden der Konfrontation mit der Zeit, wie sie ist, heilen kann.

In „Von morgens bis mitternachts“ wird eine komplette Familie gezeigt, es gibt auch die Tochter des Kassierers, die auf dem Klavier klimpert, sie ist leider Teil der familiären Anti-Idylle. Doch das Kind in „Die Straße“ steht außerhalb und auf der Straße selbst wird es wie durch ein Wunder nicht von einem Auto, einer Kutsche, einem Radfahrer getötet, sondern wartet einfach, wird von dem Ordnungshüter entdeckt und nach Hause gebracht, wo es Tür an Tür mit dem Verbrechen und der Verderbnis lebt und doch am Ende alles wieder geraderücken kann, nachdem es sanft und unschuldig verlorenen Schlaf nachgeholt hat, während nebenan ein Mord geschieht. Bei den Gegenschnitten zwischen diesen Welten in einer einzigen Welt gewinnt der Film eine geradezu rüde Poetik des Kontrasts, die mich etwas zweifelnd, aber auch fasziniert zurückgelassen hat, weil sie so unvermittelt und trotz der Wahl eines Sinnbilds für das Verdorbene und das noch Reine kompromisslos wirkt. Wie ein solcher Haushalt, der wiederum ein Kontrast zu dem Leben des Kleinbürgers ist, funktioniert, wollen wir mal nicht so genau untersuchen.

Wenn wir von Sinnbildern sprechen: Die Szene, aus der das Titelbild stammt, ist diejenige, in der die Straße für mich am meisten Persönlichkeit wurde. Auf das Optikergeschäft weist eine große Brille hin, die quer zur Fassade und zum Gehsteig angebracht ist und deren Beleuchtung sich immer wieder kurz einschaltet, anstatt durchgehend zu leuchten, ganz im Sinne der Stromsparappelle des Jahres 2022 (er ist doch aktuell!) und es wirkt, als würde die Straße entweder den Kleinbürger immer wieder kurz in sein Schicksal blicken lassen oder ihn beobachten, aber nicht lange genug, als dass er dies als Warnzeichen verstehen könnte. Andererseits ist das Blinken so auffällig, dass er bloß etwas mehr Ahnung von Symbolen haben müsste, um nicht mehr dieser Frau nachzugehen, die ihn beinahe ins Verderben führen wird, man sieht sie recht hinten im Bild. Dieses begrillte Auge, das mehr sieht, als die Figuren sehen können, das finden wir übrigens in „Der große Gatsby“ wieder. Der Roman erschien 1925. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht war derlei damals als Motiv beliebt, vielleicht hat F. Scott Fitzgerald auch „Die Straße“ gesehen.

Finale

Im Film-Kurier ist zu lesen: „In Karl Grunes Film Die Straße ist die Großstadt der Held. Sie wird als ein Vampir dargestellt, der jeden in Stücke zerreißt, der in seine Klauen gerät. Der biedere, im Großstadtdickicht verirrte Kleinbürger durchlebt dieselben Ängste, Enttäuschungen und Tragödien wie sein Filmbruder im Land der Träume und Legenden. Die prächtigen, in Neonlicht getauchten Straßen sind nur ein Lockmittel für Abenteuer Suchende. Das wirkliche Leben der Metropole ist düster und tragisch. Die Straße ist ein Todestanz der Epoche, deren Lärm den Schrei der Verzweiflung ersticken will.“[1]

Londons Cinema kam zu folgendem Schluss: „‚Die Straße‘ ist einer der größten Filme, die je geschaffen wurden, einer der ehrgeizigsten und bestgelungenen Versuche, echten Realismus zu gestalten. Wir können für diesen Film kaum Worte des Lobes genug finden.“[3]

Echter Realismus wurde ja nach späterer Auffassung erst mit der Neuen Sachlichkeit erzielt, aber der Film zeigt verschiedene Welten, die es wirklich gab, Verbrechen, Verstrickung, Erlösung und ist dabei auf eine Weise vom Großstadtszenario geprägt, das man in England wohl nicht so krass als Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen hat, weil es den politischen Bruch nicht gab und weil die Engländer nicht sozusagen direkt vom Biedermeier in die Moderne hineingestolpert sind, sondern sie gesellschaftlich seit langer Zeit mitgestaltet und definiert hatten, was man u. a. daran sieht, dass es den Gesellschafts- und Sozialroman dort gab, als man sich in Deutschland noch im Verfassen naturnah-ländlicher Lyrik übte. Dass die Epoche, die neue, in Deutschland auch von Filmemachern erst einmal nicht als Chance, sondern als Gefahr begriffen wurde, ist tatsächlich sehr tragisch, denn wie es endete, mit der Ablehnung der neuen Zeit, wissen wir. Verständlich ist dies alles, denn der deutsche Sonderweg, wirtschaftlich eine Weltmacht, wissenschaftlich ganz weit vorne, aber mental eine große Ansammlung von Biederleuten in ihrer überschaubar wirkenden Welt zu sein, die noch im Kleinstaatlichen der Zeit vor 1871 verhaftet war, die hatte sich anscheinend als Irrweg erwiesen.

Vielleicht war aber auch ein weiterer Aspekt entscheidend, unter dessen Berücksichtigung man den Film so lesen könnte, dass das Großberlinerische, das Preußentum, das Aufschneiden und das nun aus der Bahn geraten war, das Problem war, das große Gewimmel und das Laster in diesem Film, das die Biederleute in seine Falle gelockt hatte, und nicht die kaum imperialistisch-expansive Verfassung der Kleinbürger kleinstaatlich-süddeutscher Prägung. Die Wahrheit dürfte sein, dass dies alles eine ungute Mischung darstellte, der es an Balance mangelte, dass dieser Mangel durch den Krieg im Eiltempo an die Oberfläche gespült wurde, eine zerrissene Gesellschaft zum Vorschein brachte, die nicht binnen weniger Jahre entstanden sein kann, und das drückt sich in Filmen wie „Die Straße“ sehr gut aus.

74/100

© 2023, 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie Karl Grune
Drehbuch Karl Grune
Julius Urgiß nach einem Storyentwurf von Carl Mayer
Produktion Alfred Sternau für Stern-Film (Berlin)
Kamera Karl Hasselmann
Besetzung

Hinterlasse einen Kommentar