Verführt (Not Wanted, USA 1949) #Filmfest 856

Filmfest 856 Cinema

Not Wanted ist ein US-amerikanisches Filmdrama von Elmer Clifton aus dem Jahr 1949 mit Sally ForrestKeefe Brasselle und Leo Penn in den Hauptrollen. [1]

Wenige Tage nach Beginn der Dreharbeiten erlitt Clifton einen Herzinfarkt. Lupino trat ein, um den Film (den sie mitschrieb und co-produzierte) zu inszenieren, ohne Anerkennung zu nehmen (dies war der letzte Film, an dem Clifton arbeitete, aber nicht sein letzter Gesamteinsatz, da zwei Filme von ihm nach seinem Tod am 15. Oktober 1949 veröffentlicht wurden). [2] Die Kulissen des Films wurden vom Art Director Charles D. Hall entworfen. Die Dreharbeiten fanden in den Universal Studios statt.

Vier Filme von Ida Lupino sind derzeit in der Arte-Mediathek zu sehen. „Der Mann mit zwei Frauen“ („The Bigamist“, 1953), „Lügende Lippen“ („Never Fear“ / „The Young Lovers“, 1949), „Not Wanted“ oder „Verführt“ (1949) und „The Hitchhiker“ (1953). Drei davon habe ich jetzt gesehen, in der vorstehenden Reihenfolge, heißt, das Genre-Movie mit dem mörderischen Anhalter steht noch aus. Von Lupinos Dramen habe ich aber mittlerweile einen Eindruck. Darüber und über „Verführt“ mehr in der – Rezension.

Handlung[1]

Eine junge Frau fühlt sich zu einem reisenden Musiker hingezogen, während sie sich erstickt fühlt, wie ihre Eltern sie behandeln. Sie verlässt ihre Heimatstadt, um ihm zu folgen, aber er hat beschlossen, weiterzumachen, um seine Traumkarriere zu verfolgen. Nachdem er gegangen ist, findet sie heraus, dass sie schwanger ist und steht vor einer Entscheidung, was sie mit ihrem bevorstehenden Baby tun soll. Sie gibt das Kind nach der Geburt weg, fühlt sich aber so schuldig, dass sie fast ein Kind aus einem Kinderwagen reißt. Inzwischen hat sich ihr Arbeitgeber an der Tankstelle in sie verliebt.

Rezension

Der deutsche Titel führt, wie schon bei „Lügende Lippen“ in die Irre. Denn die junge Frau, die von Sally Forrest gespielt wird, wird nicht verführt, sondern lässt sich freiwillig auf Sex mit einem zynischen älteren Mann ein und wird schwanger. Aber die Verleihfirmen sind damals seltsame Wege gegangen, um das Interesse an Filmen zu steigern. Die Frage ist aber, ob es überhaupt einen deutschen Verleih für diesen kleinen Film gab. Alle vier Lupino-Arbeiten wurden von Arte nicht mit deutscher Synchronisierung gezeigt, sondern als OmU oder ganz ohne Untertitel, wie „Verführt“. Die Dialoge sind aber nicht so schwierig, denn wir sehen einfache, junge Menschen, die hier ihr Schicksal finden oder ihren Weg gehen.

Der Film wurde von modernen Kritikern positiv aufgenommen. Es hat eine 80% Zustimmungsrate auf Rotten Tomatoes, basierend auf 5 Rezensionen. [3]

Richard Brody von The New Yorker lobte in einer glühenden Kritik den Film und Lupinos Regie und schrieb:

Lupino zeigt eine dokumentarische Begierde für die Details von Arbeit und Spiel. Sie vermittelt Sallys weltfremde, unpraktische Leidenschaft mit zärtlichen, intimen Nahaufnahmen und einer intensiven, effektgetriebenen Subjektivität – eine halluzinatorische Sequenz in einem Krankenhaus ist ein Meisterwerk des Low-Budget-Expressionismus. Eine unpassende, aber majestätische Verfolgungsszene, die eine fotogene Reihe von Orten in Los Angeles hervorhebt, projiziert das intime Melodram auf die Weltbühne. [4]

Die fünfte, negative Rezension  auf „Rotten Tomatoes“ habe ich mir angeschaut, sie stammt von Dennis Schwartz, der die Zuschreibung „Kritiker“ verdient hat. Er konnte keinen Zugang zur Hauptfigur Sally finden, und damit steht und fällt natürlich alles, denn der Film ist zu achtzig Prozent diese Figur. Wirkt sie glaubwürdig, nimmt sie emotional mit, ist ihr Schicksal berührend? Bei mir war es ganz anders, alles hat fast zu gut funktioniert. Deswegen habe ich mit diesem Text auch ein paar Tage gewartet. Ich fand nicht einmal die „majestätische Verfolgungsjagd“ unpassend. Denn selten sind mir in einem Film so unbedingt emotionale, junge Menschen begegnet wie hier, das Davonlaufen von Sally ist für mich eine letzte Reaktion auf den enormen psychischen Druck, dem sie seit dem Wissen um ihre Schwangerschaft augesetzt war. Sie ist 19. Das ist 1949 etwas anderes gewesen, als heute 19 zu sein.

Keine Volljährigkeit und ein Umfeld, das jedes Jahr merklich konservativer wurde, während der Aufbruch der Jugend, der sich ab der Mitte der 1950er im Rock’n Roll ausdrückte, noch unter dem Deckel ist und sich im Weglaufen von Sally von zu Hause doch schon manifestiert. Das ist eine tolle Prognose, dessen was kommen wird. Aber diese Unterdrückung der Emotionen, die von einer nörgelnden Mutter und einem etwas beschränkten Vater gefördert wird, ist noch mehr: Sie ist überzeitlich, denn was wir heute so verklären, die Wege von James Dean & Co., war damals die Ausnahme, nicht die Regel. Ich mag seine Darstellung im ikonischen „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ sowieso nicht besonders, weil sie überspitzt und gekünstelt wirkt, ganz anders als das, was Sally Forrest hier zeigt: Nämlich, dass man als junge Frau, die den Ausbruch wagt, ganz auf sich allein gestellt und das Scheitern jederzeit möglich ist. Sogar wahrscheinlich.

Dabei ist der Film nicht nur kritisch. Dass es schon ein so verständnisvoll geführtes Frauenhaus gibt wie im Film, ist eine große Errungenschaft. Die Leitung versucht auch nicht, Sally stark in Richtung „Kind behalten und alleine großziehen“ zu manipulieren. Gleichwohl, eine Abtreibung kommt nicht in Frage und so viele nette Menschen, denen Kinder verwehrt bleiben, sind ganz begierig darauf, ein hübsches, gesundes Baby von einer hübschen jungen Mutter zu adoptieren. In „The Bigamist“ echot diese Situation sich in dem Ehepaar, bei dem die Frau unfruchtbar ist, man sieht also die andere Seite. Aber auch die Mutter des Babys wird gezeigt. Vier Jahre zuvor hingegen ist der Film ganz auf dieses Mädchen konzentriert, das beinahe an der Situation zerbricht, ungewollt schwanger geworden zu sein.

Ich glaube, dass damit eine Generation zwischen Depression und Jugendrevolte porträtiert wird, die zwar etwas behüteter aufgewachsen ist als die vorherige, aber die zu spüren bekommt, dass die Eltern schwere Zeiten überstanden haben und nicht unbedingt auf moderne Psychologie und Empathie setzen, sondern sehr praktisch orientiert sind. Sicherheit wird großgeschrieben, das drückt sich in vielen Dingen des täglichen Lebens aus. Es ist mehr oder weniger alles Handwerk, im Haus, in der Küche.

Also verliebt sich Sally auf unrettbar romantische Weise in einen Musikanten, der so ganz anders ist als die Menschen ihrer Welt. Für sie komplett ungeeignet, auch wenn ich zwischendurch in Betracht zog, dass sie ihn wenden und beziehungsfähig machen könnte, mit ihrem stürmischen Mädchencharme und ihrer Absolutheit, die so schrecklich herrlich jung wirkt. Sicher ist sie plain, aber nicht dumm, sondern lediglich unreif und weiß nicht wohin mit ihren Gefühlen. Sie möchte sie so gerne jemandem schenken, sucht sich aber die falsche Zielperson aus.

Dieser Mann ist ein Klischee, das wusste die Regisseurin sicher auch und war vermutlich nicht sehr davon angetan, dass Frauen immer wieder auf Typen hereinfallen, die das nicht einmal provozieren scheinen, dann aber doch. Sie machen einen auf verkrachtes Genie und schon fliegen ihnen die Herzen zu. Zwar ist unser Barpianist kein James Dean, aber in manchen Einstellungen hat er mich ein wenig an Steve McQueen erinnert. Er ist auch eine typische Noir-Figur, aber in Ermangelung eines Verbrechens, das in einem Noir mindestens enthalten sein sollte, der sehr positiv gezeichneten weiblichen Hauptfigur und des guten Endes nach schwerer Prüfung sollte man wenigstens dieses Werk nicht in das heute so inklusiv verstandene Genre eingliedern wollen.

Die beiden Originaltitel passen jedenfalls sehr gut und ergänzen sich. „Not wanted“ rekurriert sowohl auf Sally, die von dem Musiker weggestoßen wird als auch auf ihr Baby, das sie nicht behalten zu können glaubt. „The Young Lovers“ hingegen bezieht sich eher auf die Beziehung mit dem Tankstellenbesitzer, der sie einstellt, sie umsorgt, immer für sie da ist und sie am Ende auf eine geradezu herzzerreißende Art erobert. Er hat schon etwas erlebt, wurde im Krieg versehrt, ihm fehlt ein Unterschenkel, aber innerlich ist er freundlich und innerlich heil geblieben, hat sich eine Eisenbahn als Hobby zugelegt, der er sich widmet, bis ihm Sally im Bus begegnet. Ich weiß nicht, ob diese Menschen glücklich miteinander werden, dieses Emotionsbündel und der eher schüchterne Junge. Sie sind ein Paar wie Millionen andere, aber wie sie schließlich zueinander finden, das macht den Film zu einem kleinen Klassiker. Zwei unter Millionen, aber darauf versteht sich Ida Lupino sehr gut: Solche Menschen zu porträtieren und sie echt wirken zu lassen in ihrer erhabenen Simplizität.

Finale

Die Filme von Ida Lupino werden gerade wiederentdeckt, aber ihre Qualität ist noch nicht vollständig in die Rezeption eingeflossen. 80 Prozent bei Rotten Tomatoes für „Verführt“ ist okay, aber auf Basis einer recht geringen Zahl von Rezensionen heutiger Kritiker:innen. Die IMDb-Nutzer:innen vergeben 6,8/10 und das ist für diesen besonderen, kleinen, großen Film mit seiner intensiven Heldin zu wenig. Für mich ist er auch der beste der bisher gesehenen Lupino-Filme, der unbedingteste und am wenigsten konstruiert wirkende. Gut gespielt sind sie alle, auch wenn die Schauspieler nur in „Der Mann mit den zwei Frauen“ zu den großen Namen in Hollywood zählen (vor allem Joan Fontaine und Ida Lupino selbst).

Schon anlässlich der Rezension von „Lügende Lippen“ habe ich geschrieben, dass Sally Forrest aber ein Medium Lupinos ist, eine Wiedergängerin, zuletzt habe ich beide in Fritz Langs „While the City Sleeps“ zusammen gesehen. In Forrest hat die Regisseurin sichtbar ein jüngeres Ich angelegt, zeigt eine Person, die sie selbst nicht mehr spielen konnte oder zu können glaubte, in ihren frühen 30ern.

Sie hat über viele Themen gefilmt, die damals tabuisiert waren, das beginnt schon hier, wie so das harte Los einer unverheirateten Mutter zeigt, setzt sich fort in einer Abhandlung über die damals sehr gefährliche Krankheit Polio („Lügende Lippen“), geht über Vergwaltigung „Outrage“ (1950), nicht im Arte-Filmbündel enthalten bis zu einem Doppelleben in „The Bigamist“. Und nie sieht man eine sehr negative Figur, nie wird jemand gänzlich verurteilt. Das ist verblüffend und hochmodern, ein Bruch mit dem ausgeprägten Gut-Böse-Schema in Hollywood und war in gewisser Weise nicht mehrheitsfähig. Aber heute wirkt „Verführt“ sehr frisch, obwohl er eine soziale Situation zeigt, die in der westlichen Welt antiquiert wirkt. In der gesamten westlichen Welt? Ich habe Zweifel und bin doch froh, dass es heute normal geworden ist, dass Mütter ein Recht auf Selbstbestimmung haben. Was man im Film sieht, lässt sich aber gut auf die Situation „Abtreibung oder nicht“ übertragen mit allen Höllenqualen, die dieses Dilemma auslösen kann, inklusive Spätfolgen lange nach einer Entscheidung gegen das Kind. Auch durch diese Übertragungsmöglichkeit ist der Film nach wie vor sehr aktuell.

Der Film ist nicht zu verwechseln mit „Not Wanted“ aus demselben Jahr, einem Werk im Stil des Film noir, der auf andere Weise an das gleiche Thema herangeht und den kriminalitischen Aspekt des Kinderhandels in den Vordergrund stellt und den wir kürzlich hier besprochen haben.

83/100

© 2023, 2022 Der Wahlberliner, Thomas Hocke

[1] Nicht erwünscht – Wikipedia

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