Crimetime 1148 – Titelfoto © WDR
Fortuna III ist ein Fernsehfilm aus der Fernseh-Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Idee und Vorlage des Films stammen von Hannes Burger, das Drehbuch schrieb Wolfgang Mühlbauer und die filmische Umsetzung erfolgte von Wolfgang Becker. Der Film wurde von Bavaria Atelier für den WDR produziert und am Pfingstmontag, dem 7. Juni 1976, zum ersten Mal gesendet. Er ist die 64. Folge der Tatort-Reihe, der achte Fall mit Kommissar Haferkamp und die zweite Folge, die nicht an einem Sonntag erstausgestrahlt wurde.
In der Haferkamp-Abteilung der Rangliste des Tatort-Fundus steht „Fortuna III“ derzeit nur auf Rang acht von zwanzig Filmen, in der Gesamtrangliste aller Tatorte aber auf Rang 156 von derzeit 1036. Daran sieht man bereits, wie sehr die Fälle des Essener Ermittlers und seine Person heute geschätzt werden. Persönlich gehe ich bei „Fortuna III“ allerdings noch etwas weiter und ordne ihn unter die besten Haferkamp-Fälle ein, die ich bisher gesehen habe. Sagen wir, die besten drei. Alles Weitere lesen Sie in der –> Rezension.
Handlung
Paul Starczik, 12 Jahre alt, treibt sich herum, stiehlt, schwänzt die Schule. Sein Vater, der Platzwart bei einem Betriebssportverein ist, möchte ihn in ein Erziehungsheim stecken. Nur Jul, der Besitzer der kleinen Likörfabrik, hält zu Paul, er würde ihn sogar nach der Schulzeit in die Lehre nehmen. Paul versteckt sich oft, wenn er mit seinem Vater Krach hat, auf dem Gelände einer verlassenen Zeche. Von seinem Versteck aus beobachtet er eines Tages, wie Jul ein Mädchen zu vergewaltigen versucht und es dabei tötet. Jul nimmt Paul das Versprechen ab, keinem Menschen etwas zu sagen. Paul geht darauf ein.
Kommissar Haferkamp merkt sehr bald, dass mit Paul etwas nicht stimmt. Er spürt, dass er nur über ihn an die Lösung des Falles kommt. Der Junge aber ist verschlossen, geradezu feindselig.
Paul beginnt seine Macht über Jul zu spüren, er erpresst ihn: Er verlangt zweitausend Mark, damit er mit einem Schiff ins Ausland fliehen kann. Jul sieht sich immer stärker in die Enge getrieben, er weiß schließlich keinen anderen Ausweg: Er muss Paul umbringen. Die Vorbereitungen zu dieser Tat aber geben Kommissar Haferkamp die Möglichkeit, an Jul heranzukommen.
Rezension
Was an diesem Tatort alles an Milieuzeichnung und Menschenbeobachtung steckt, ohne dass der Film im Geringsten überladen wirkt, ist großartig. Das Milieu und seine Gestalten. Der Ruhrpott, wie er niederging, eine innerliche Verwahrlosung oder Hoffnungslosigkeit von Menschen, die noch irgendwie ihr Ding machen, aber zunehmend entwurzelt sind und auf schwankendem Boden dahinschlittern. „Griechischer Wein“, das Kneipen-Loblied der 1970er. Gesungen von Udo Jürgens. Ironische Verwendung gleich zu Anfang, denn die Kneipe der Starcks hat nichts Gemütliches mehr, da sitzen nur noch ein paar Skatbrüder im Rentenalter und zechen dort, seit die Zeche Fortuna III dichtgemacht wurde.
Flash ins Jahr 2017: Immer noch zu viel Kohleabbau, die CO²-Bilanz, verdammt nochmal. Egal ob Braun- oder Steinkohle. Ergänzung im Jahr 2023, Veröffentlichung der Rezension: Es ist ein Chaos. Als hätten sie es damals schon geahnt. Krisen, wo man hinschaut.
Die Klimabilanz spielte in den 1970er noch keine Rolle. Die schweren, gesundheitsschädlichen Jobs und die enorme Umweltbelastung, die der Ruhrpott verursachte, sind nun einmal der Anker für Millionen von Menschen gewesen, die malochen konnten und in der heutigen virtuellen Welt hoffnungslos verloren wären. Die hätten sie nicht gekonnt, aber wir sollten uns davor hüten, alles, was wir sehen, als sehr einfach oder rudimentär zu bezeichnen. Flash ins Jahr 2017: Gerade lief eine Doku, dass der durchschnittliche IQ der Menschen aufgrund Umweltschäden seit 1990 sinkt.
Ob wir heute noch die Einfühlung haben wie Haferkamp? Er weiß sofort, auf wen er sich bei den Ermittlungen konzentrieren lässt, die mühsame großflächige Abtastung der Kohlenpott-Welt ist nicht seine Sache. Die wäre heute ja auch schnell erledigt, denn der Ablauf des Tötungsdelikts lässt klar erkennen, dass DNS-Spuren in größeren Mengen zurückgeblieben sein müssten. Aber 1976 musste es nur mal regnen und schon war alles perdü, was auf dein Täter hinweisen konnte. Gut, dass der Film so angelegt ist, dass es darauf nicht ankommt.
Schon witzig, wenn heutige Tatort-Vielseher etwa monieren, alle Haferkamp-Fälle seien nach dem gleichen Muster gemacht, nämlich dem, dass man den Täter schon kennt, mithin, dies sei weniger spannend. Ist es für mich eindeutig nicht. Erstens waren viele Tatorte der frühen Jahre nach dem Muster Howcathem gestrickt, manche sogar so, dass es zu Beginn noch keine Leiche gab. Die Entstehung des Verbrechens wurde beleuchtet, wie etwa bei den Berliner Tatorten üblich, was heute aber noch weniger geschätzt wird als – der Whodunit, offensichtlich.
Auch hier eine Ergänzung anlässlich der Publikation im neuen Wahlberliner: Nachdem wir seit 2019 fast alle Polizeiruf-110-Episoden gesichtet haben, haben wir noch einmal ein anderes Bild von der Krimilandschaft vor der Wende: Diese sind sehr oft so gestaltet, dass nicht der Täter gesucht werden muss, sondern man miterlebt, welche Entwicklung zum behandelten Verbrechen geführt hat. Außerdem kommt in den letzten Jahren wegen der Vorzüge einer guten Figurenzeichnung der Thriller mehr und mehr auf.
Dabei lässt die Suche nach einem schon bekannten Täter viel schönere Charakterstudien zu, und das sieht man auch hier wieder: Großartig zum Zweiten, wie gut „Jul“ und Paul spielen. Vor allem die Leistung des Jungen ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Und nach meinem Verständnis wirkt es sehr authentisch. In jener Zeit gab es noch „verstockte“ Kinder, deren Leben voller Gewalt und Misstrauen war und die nicht den ganzen Tag lang altklugen Blödsinn von sich gaben, sondern sich zurückzogen, aufbegehrten, sich durch Abgleiten in die Kriminalität in Schwierigkeiten brachten.
Natürlich gibt es das faktisch heute auch, aber die Kinder gehen anders damit um, weil sie anders sozialisiert sind. Der cool sein wollende Aufschneider ist in den entsprechend devastierten Milieus weitaus eher anzutreffen als ein Typ wie Paul. Aber so war das, in den windelweichen Zeiten. Gut, dass endlich in den 1990ern das Verbot der körperlichen Züchtigung durch Eltern kam. Nicht alles ist seitdem gut, aber wenigstens gibt es eine Änderung der Bewertung von dem, was misshandelte Kinder im späteren Leben am meisten belastet, die Erfahrung der Ohnmacht und der grausam geringen Wertschätzung ihrer Person.
Deswegen hatte ich gegenüber Paul ein zwiespältiges Verhältnis. Einerseits fand ich diese Authentizität fantastisch, andererseits war ich doch sehr in Haferkamps Rolle, der „Kinder nicht kann“ und sich gerade deshalb ebenfalls authentisch verhält. Authentisch-spekulativ allerdings, denn er versucht den Jungen zu locken, und das ist echt der Zeit geschuldet: Kommissar lässt 12jährigen Auto fahren und bietet ihm Kippe an.
Obwohl mir die PC unserer Tage mit ihrer Art, alles maximal abzuzirkeln, oft auf den Zeiger geht, weil sie eben die Authentizität einschränkt, bin ich andererseits froh, dass es sie gibt, denn diese Szenen wirken doch recht befremdlich, wo wir sogar im Wahlberliner gendern. Aber diese Selbstverständlichkeit beim Rauchen und Saufen war eben auch ein Bild der Zeit und damals nicht nur in den prekären Milieus toleriert. Nun ja, toleriert oder mehr wird sie heute auch, aber die Darstellung im Film ist anders, siehe PC vs. Authentizität, sie wirkt aber auch anders als in den alten Arbeitermilieus, siehe soziale Entwicklung.
Die ersten Arbeitslosenwellen aber haben mit dem Niedergang der alten Industrien in Gegenden wie der hier gezeigten zu tun. Die Menschen wirken alle viel weniger im Selbstoptimierungsmodus verortet, dafür konnten sie von dem leben, was sie einnahmen. Und sie fuhren Volvo, wenn sie Täter waren, nicht, wenn sie vor Arroganz kaum geradeaus laufen konnten.
Finale
Der 64. Tatort ist aber neben all dem, was man aus ihm an Zeitbildelementen herauslesen kann und, eins draufgesetzt, daraus, dass die Menschen hier so unverstellt sind, sich in höchst unschönen Dekors bewegen, und so ist ihr Leben – neben all dem ist er auch spannend. Das Dreiecksspiel zwischen Haferkamp, Paul und Jul ist psychologisch höchst interessant und es macht den Hauptteil der Spannung aus.
Ich konnte bis kurz vor Schluss nicht darauf tippen, wie es ausgeht und natürlich hatte ich Angst, dass Paul etwas geschieht. Beinahe wäre es ja auch so gekommen. Doch ich fand es dann schlüssig, dass Jul davor doch zurückschreckte, den Jungen zu ersticken und ihn erst später erledigen will, als er schon wieder versucht, ihn zu erpressen. Dass er die 2000 Mark aus der ersten Runde, die Jul ihm dann doch gegeben hat, mit einer Rockerbande verjuxt und am Ende eine Rockerkluft hat, ist geradezu kultig. Wie die Bande an sich, die auch so ein Stück Milieu ist und mit ganz wenigen Strichen sehr lebhaft gezeichnet wird. Der Vergewaltiger wird unabsichtlich zum Totschläger, zögert aber, weil er kein Gewohnheitsverbrecher im Sinne solcher Delikte ist, so weiterzumachen. Alles gut vorstellbar und eben wegen der Ungewissheit, die daraus entsteht – spannend.
8,5/10
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2017)
| Regie | Wolfgang Becker |
|---|---|
| Drehbuch | |
| Produktion | Werner Kließ |
| Kamera | Joseph Vilsmaier |
| Schnitt | Hannes Nikel |
| Premiere | 7. Juni 1976 auf ARD |
| Besetzung | |
|
|
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

