Die Stadt der Millionen. Ein Lebensbild Berlins (DE 1925) #Filmfest 920

Filmfest 920 Cinema

Der 85-minütige Film (1925) ist das erste abendfüllende Stadtporträt Berlins und zeigt den Alltag in ganz unterschiedlichen Vierteln der Stadt: hier großstädtisch und mondän, dort volkstümlich und mit Hang zu kleinbürgerlicher Gemütlichkeit. Der Ufa-Film vermittelt das Lebensgefühl von Berlin nach der überstandenen Wirtschaftskrise Mitte der 1920er Jahre.

Zwei Jahre vor Walther Ruttmanns „Berlin – Die Symphonie der Großstadt“ aus dem Jahr 1927 entstand „Die Stadt der Millionen. Ein Lebensbild Berlins“ von Adolf Trotz, ein Ufa-Kulturfilm, der aufgrund seines authentischen Bildmaterials ein wertvolles Dokument von Berlin Mitte der 1920er Jahre darstellt. Der Film nimmt den Zuschauer mit auf eine hochinteressante Stadterkundung und führt von mondänen Einkaufsstraßen wie der Friedrichstraße und dem Kurfürstendamm in weniger bekannte Viertel und Winkel.

Für uns heute ist der Film eine Zeitreise ins unzerstörte Berlin rund um das Schloss, die Tauentzienstraße oder den Potsdamer Platz. Der Film stellt Berlin als eine dynamische Stadt vor und erlaubt sich in kurzen Passagen, das vergleichsweise beschauliche Leben im 19. Jahrhundert nachzustellen. Aber auch die Zukunft hat ihren Platz in dem kurzen integrierten Animationsfilm „Berlin im Jahr 2000“ – „Metropolis“ lässt grüßen. Verkehrsmittel spielen eine große Rolle: Autos, Droschken, U-Bahnen. Die Kamera fotografiert die Menschen der Zeit – auf dem Markt, bei der Arbeit, beim Tanzen, auf dem Rummelplatz, am Sonntag beim Sport.

Auch das Filmschaffen der Zeit spielt eine Rolle: die Filmateliers in Tempelhof und Neubabelsberg, die Kinos in der Stadt. Ein kleiner Ausflug führt nach Potsdam (Sanssouci) und an das Grab von Heinrich von Kleist. Die Split-Screen-Technik vergrößert die Dynamik der beobachteten Szenen und macht diese Stadterkundung auch zu einem virtuosen kinematographischen Erlebnis. (Infos: ARTE)

Rezension

Ob es den Film auf DVD gibt, wissen wir nicht, aber wenn die Gelegenheit da sein sollte, auch für Nichtberliner: Unbedingt anschauen! Die Bildqualität ist nicht die beste, auch 1925 gab es schon Filmmaterial mit besseren Kontrastabstufungen und Restaurationen, nach denen weniger Schrammen im Bild verbleiben, aber dieser fastr 100 Jahre alte Film ist auf seine Weise für Menschen von heute eine Offenbarung. Vielleicht hat man das zu seiner Zeit gar nicht wahrgenommen, weil er ja nur „Das Leben, wie es ist“ wiedergegeben hat, ganz im Sinn der Filmerfinder, der Gebrüder Lumière, die mit solchen Aufnahmen 1895 begannen. Mit Einzelszenen natürlich, nicht mit einem ganzen Stadtporträt, und nicht mit Szenen, die in der Vergangenheit spielen, und noch nicht auf diese durchaus tendenziöse Weise kommentiert, wie Adolf Trotz das hier tut. Man merkt dem Film schon an, dass er nicht, wie Walter Ruttmanns viel bekannterer „Sinfonie einer Großstadt“ ein unabhängiges Kunstwerk darstellt, sondern eine Auftragsarbeit der Ufa ist, und die Tendenz ist durchaus rückwärts gewandt, hin zu den guten alten Zeiten.

Das merkt man an der kritischen Gegenüberstellung der 1925 aktuellen, hektischen, schnellen Welt mit den idyllischen Bildern aus dem späten 18. bis 19. Jahrhundert. Wir haben uns zunächst gewundert, dass ein Dokumentarfilm über die Jetztzeit es sich leisten kann, Spielszenen aus der Vergangenheit zu integrieren, aber für die Ufa als größtem Filmunternehmen Europas war das andererseits eine leichte Übung und den Hang zur wilhelminischen Nostalgie gab es durchaus.

Der kurze Animationsfilm, der das Jahr 2000 antizipieren soll, schlägt alles. Das Höhenrestaurant ist der Hammer, denn das gibt es ja seit den 1970ern wirklich, im Fernsehturm auf dem Alex. Nur, dass man dort nicht direkt aussteigen kann, denn, wie fast alle Filme, die sich mit der Zukunft befassen: Die Weiterentwicklung alltäglicher Verkehrsmittel ist bei weitem überschätzt worden. Man hatte das Tempo der Entwicklung zu mehr Tempo seit Mitte des 19. Jahrhunderts hochgerechnet auf die Zukunft – aber dabei nicht bedacht, dass Techniken „reifen“ und sich dann langsamer weiterentwickeln. Wie auch, denn die meisten technischen Einrichtungen gab es im Jahr 1925 noch nicht so lange, dass man eine realistische Prognose 75 Jahre im Voraus hätte erstellen können. Die Leute aus dem Jahr 1925 wären wohl enttäuscht darüber gewesen, dass im Jahr 2000 die Autos immer noch auf verstopften Straßen herumkurven, anstatt den beinahe unendlichen Luftraum nutzen zu können. „Metropolis“ beging, wenn man so will, zwei Jahre später denselben Fehler, aber dort hat man sich nicht die Mühe gemacht, passende Zukunfts-Luftfahrzeuge zu entwickeln, sondern gebräuchliche Doppeldecker als Lufttaxis verwendet. Wenn man will, gibt es eine Linie hin bis zu „Das fünfte Element“ mit seinen Individual-Luftfahrzeugen.

Andere Dinge sind so phänomenal ins Hier und Jetzt gerichtet, das konnten die Filmemacher gar nicht wissen. Die Gegenüberstellung der Hausmusik, gespielt auf einem echten Klavier, mit einem Radioapparat des Jahres 1925, der auf der Mitte eines Tisches thront und um den alle herumsitzen, jeder mit seinem Kopfhörer, und alle im Takt der Musik mit den Füßen wippen, ist ein weiteres Highlight des Films. Vor allem, dass dieses Wippen als eine Art Zwangshandlung neurotischer Großstadtmenschen dargebracht wird, hat uns mehr als ein Schmunzeln entlockt. Die Radios hatten zwar kurz darauf schon Lautsprecher, aber die hippelige Art der Menschen mit ihren Kopfhörern und dem lediglich der Größe nach eindrucksvolleren Radioapparat als Lebensmittelpunkt erinnert fatal an unsere Zeit, wo alle, für sich allein mit den Hörern im Ohr und am Smartphone daddelnd, mitten in der Masse sitzen. Sie nimmt einen technischen Umweg, diese Szene, und ist doch ein Volltreffer.

Der Verkehr am Potsdamer Platz hat den Filmer auch fasziniert. Was Wunder, ein Auto nach dem anderen, drei Spuren in einer Richtung, das war für damalige Verhältnisse gigantisch, denn es gab noch keine US-Highways mit der doppelten Anzahl von Spuren. Es hat sich bei uns nicht viel geändert, nur, dass der Verkehr jetzt viel langsamer vorankommt. Man hat durchaus den Eindruck, dass die damaligen Straßen in etwa adäquat zur Zahl der auf ihnen befindlichen Fahrzeuge ausgebaut waren. Man sieht Berliner bei der Arbeit, die zu spät gekommenen künstlich beschleunigt, und es gibt noch ein paar andere Tricks in diesem Film, welche die dokumentarische Konsequenz und kompositorische Strenge des erwähnten Ruttmann-Films in ziemliche Ferne rücken lassen.

Dieser ist in vier Akte gegliedert: Morgen, Mittag, Abend und Nacht. 24h Berlin wurde also schon vor fast 90 Jahren erfunden. Einer der ebenfalls vier Akte von „Die Stadt der Millionen“ spiegelt denn auch einen Tagesablauf und in einem jener legendären Industriewerke, vermutlich bei Borsig, in dem gefilmt wird, singen die Maschinen die Sinfonie der Arbeit. Wir dürfen davon ausgehen, dass Ruttmann diesen Film kannte, als er seinen drehte, denn einige Ähnlichkeiten und Bezüge sind doch augenfällig.

Die großen Kaufhäuser gibt es schon, u. a. das heutige KaDeWe, und wenn man den Film sieht und sich die ganze Elektro- und sonstige Industrie hinwegdenkt, die Berlin einst geprägt hat, fragt man sich, wie es möglich ist, dass in einer Stadt, in der kaum noch etwas Werthaltiges geschaffen wird, immer noch so viele Leute in solchen Konsumtempeln einkaufen können. Es ist die Dienstleistungsgesellschaft. Alle beliefern sich gegenseitig mit Gegenständen der virtuellen Welt und machen Geld wie Heu dabei. Vieles davon kommt in Wirklichkeit aus dem Untergrund, wo echte Ware in Form von Drogen oder Menschen verkauft wird.

So weit war die OK 1925 noch nicht, aber dass eine Einbrecherbande gezeigt wird, die sich wirklich blöd anstellt und sich von der anwesenden Hausfrau übertölpeln lässt, indem diese Gelegenheit hat, die Polizei zu rufen, ist wie aus einem noch älteren Kriminalfilm, etwa der Fântomas-Reihe, aber auch niedlich und wenn man die legale Arbeit zeigt, warum nicht die illegale? Das ist eine richtige kleine Spielszene. In einer weiteren wird uns ein Droschkenkutscher nähergebracht, der sich über die moderne Konkurrenz mit den Autotaxis ärgert. Genau gesagt: Der Mann dirigiert eine Pferdedroschke, die Taxis mit Motor hießen zunächst im Volkssprech ebenfalls Droschke, bis sich der heute gebräuchliche Begriff durchsetzte.

Finale

Man sieht auch Berliner am Sonntag, die hübscheste Szene aus dieser Sequenz: Zwei Mädchen liegen auf der Wiese und eine Herrenpartie kommt vorbei und bringt den jungen Damen ein – ganz offensichtlich lautes, aber gewiss nicht sehr tonsicher vorgetragenes Ständchen. Wie geschrieben, die dokumentarische Verfassung des Films franst immer mal wieder aus. Ruttmanns zwei Jahre jüngerer Film ist beeindruckender, „Die Stadt der Millionen“ vergnüglicher. Beide sind hervorragende Berlin-Dokumente und wenn es sich machen lässt, sollte man sich beide hintereinander an einem langen Berlin-Abend gönnen.

Ein solches Werk wie einen Spielfilm zu bewerten, ist nicht ganz leicht, aber die Anthologie sieht aus technischen Gründen keine bewertungsfreien Rezensionen vor. Wir verwenden bei Dokumentarfilmen aber ein anderes Schema mit 0,5-Abstufungen und auf zehn, nicht auf 100 Punkte ausgerichtet. 

Eine Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung der Rezension im Jahr 2023: Die UfA  hat die Produktion einiger „Straßenfilme“ abgelehnt, die Berlin von seiner elenden Seite zeigen, auch dem grundsätzlich progressiven und wagemutigen Produktionschef Erich Pommer war das unter dem Vorwand „uninteressant“ zu dokumentarisch, mitten im Spielfilm. Deshalb verweisen wir diesbezüglich auf die vorausgehende Rezension von „Die Verrufenen“, dem wir den hier besprochenen Streifen als nachfolgende Rezension zu einem deutschen Film gegenüberstellen,und andere „Straßen-“ oder „Milieufilme“, die wir in den letzten Jahren angeschaut und für das Filmfest bereits rezensiert haben. Dass dieser Beitrag später veröffentlich wird, liegt daran, dass wir in unsere Projekte chronologische Aspekte, den Entstehungszeitpunkt der Filme betreffend, einfließen lassen. 

7,5/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)


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