Wie bewerten Sie die geplante Verschärfung des Asylverfahrens in der EU? (Umfrage + Kommentar) | Briefing 207 | Gesellschaft, Migration, Politik

Briefing 207 | Gesellschaft, Politik, Migration, Asyl

Einige Tage lang haben wir uns auch „kleineren“ Themen gewidmet, heute geht es wieder ums Ganze: Wie menschenfreundlich einerseits und wie praktikabel andererseits ist die europäische Migrationspolitik? Auf Twitter trendet selbst dieses Thema mit keinem einzigen Hashtag, das UCL-Finale und die Heizungspolitik stehen im Fokus.

Jetzt gibt es eine Einigung auf EU-Ebene, zu dieser hat Civey eine Umfrage erstellt:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie die geplante Verschärfung des Asylverfahrens in der Europäischen Union (z.B. Prüfung von Asylchancen an EU-Außengrenzen)? – Civey

Der Erklärungstext  aus dem Civey-Newsletter:

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich am Donnerstagabend auf ein neues Asylverfahren geeinigt. Die Reformpläne sehen unter anderem vor, dass ankommende Menschen aus sicheren Herkunftsländern nach dem Grenzübertritt in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen unterkommen sollen. Innerhalb von zwölf Wochen sollen die Chancen auf Asyl geprüft werden und mögliche Rückführungen erfolgen. 

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von einem historischen Erfolg – „für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten.” Die Bundesregierung konnte sich allerdings nicht mit ihrer Forderung durchsetzen, dass Familien mit minderjährigen Kindern von dem geplanten Grenzverfahren ausgenommen werden. Der Grünen-Co-Parteichef Omid Nouripour sprach auf Twitter von einem schwierigen, aber notwendigen Schritt.  

Die Asyleinigung rief hingegen große Kritik bei Teilen der Grünen hervor. Deren Europa­abgeordneter Erik Marquardt sagte laut Tagesschau: „Im Rat gab es mit deutscher Zustimmung einen Durchmarsch populistischer Positionen.“ Die Co-Vorsitzende Ricarda Lang kritisierte die Entscheidung ebenfalls. Sarah-Lee Heinrich, Bundessprecherin der Grünen Jugend, zeigte sich auf Twitter „fassungslos“ und argumentierte: „Abschottung sorgt nicht dafür, dass weniger Menschen fliehen. Es bedeutet, dass mehr Menschen leiden.“

In einer Sache sollten sich wohl alle einig sein: Dass es in der EU mehr Solidarität und Abstimmung brauchte, als dies zum Beispiel während der Geflüchteten-Krise 2015-2016 der Fall war. Überforderung bei den Grenzländern im Süden – und dann Deutschland als einziges Land, das in einem wirklich großen Schritt eine Million Menschen aufgenommen hat. Das darf künftig so nicht mehr laufen, denn in der EU herrschen ohnehin erhebliche Fliehkräfte. Die einen wollen nur profitieren und sich Rosinen herauspicken, die anderen sollen es richten.

Sollte es einen Strafmechanismus geben, wenn EU-Länder keine Geflüchteten aufnehmen wollen?

Die Möglichkeit, dass man sich quasi freikaufen kann, ist tatsächlich vorgesehen, in Rede stehen etwa 20.000 Euro pro Person „unter Kontingent“, wenn man also weniger Menschen aufnimmt, als das für das Land festgelegte Kontingent beträgt. Moralisch ist das Ablasshandel, fiskalisch betrachtet spiegelt es nicht die tatsächlichen Kosten für die langfristige Betreuung und Integration von Geflüchteten.

Noch ist aber die EU kein Bundesstaat und die einzelnen Mitglieder der Union haben das Recht, sich selbstständig dafür zu entscheiden, dass sie, grob geschrieben, keine Lust auf Zuwanderung haben oder sich zumindest aussuchen wollen, welche Form von Zuwanderung sie zulassen. Insofern ist die Kompensationszahlung besser als nichts.

Doch. Polen und Ungarn lehnen die EU-Asylreform kategorisch ab. Sie sollen künftig ein Zwangsgeld von 20.000 Euro für jeden Migranten zahlen, den sie nicht aufnehmen. Das Geld soll in einen Fonds fließen, aus dem Migrationsprojekte finanziert werden. Ob Warschau oder Budapest jemals zahlen, ist ungewiss.

 EU-Asylverfahren: Worauf sich die Innenminister verständigt haben | tagesschau.de

Wir sehen also, nicht einmal der gegenwärtige Kompromiss hat zu einer kompletten Einigung geführt, es sind die üblichen Verdächtigen, die die EU weiterhin nur als Selbstbedienungsladen, nicht als eine Gemeinschaft sehen, die auch Verpflichtungen beinhalten kann. Deswegen wäre es nur logisch, falls sie nicht zahlen wollen, die Strukturbeihilfen an diese Länder entsprechend zu kürzen. Wenn man die deutsche Haltung bewerten will, muss man auch die Positionen der Solidaritätsverweigerer im Blick haben, die trotz der Kompromissfähigkeit der Bundesregierung nicht ins Boot geholt werden konnten.

Um welche Dimensionen geht es?

Im vergangenen Jahr wurden in den 27 Mitgliedstaaten 881.200 Erstanträge [auf Asyl, Anm. TH]  gestellt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutete dies ein Plus von 64 Prozent. Stattgegeben wird im EU-Schnitt nicht einmal jedem zweiten Antrag. In Deutschland stellten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den ersten fünf Monaten dieses Jahres 125.556 Menschen erstmals einen Asylantrag. Das waren fast 77 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

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Auf den ersten Blick wirkt es, als ob Deutschland gar nicht mehr überproportional viele Geflüchtete aufnehmen würde. Geflüchtete und Asylbewerber:innen sind im Moment aber alles andere als identisch. Niemand, der aus der Ukraine nach Deutschland kommt, muss einen Asylantrag stellen, und hier haben wir wieder Dimensionen wie 2015-2016 erreicht, mit dem Unterschied, dass die Ukrainer:innen gegenüber den damaligen Geflüchteten augenfällig privilegiert werden, was die Versorgung mit quasi allem angeht. Man kann das, wenn man sehr positiv denkt, daran festmachen, dass man sich nun mit einer Zuwanderung in diesen Dimensionen auskennt, diese administrativ besser in den Griff bekommt, man kann aber auch den Verdacht haben, dass Geflüchtete:r nicht gleich Geflüchtete:r ist, was schon bei der pauschalen Einreisemöglichkeit für Menschen aus der Ukraine beginnt, auch aus Regionen, die bisher nicht Kampfgebiet waren.

Wie war die deutsche Haltung währen der Verhandlungen?

Bundesinnenministerin Nancy Faeser nannte die Einigung in Luxemburg „historisch“ und sprach von einer „neuen, solidarischen Migrationspolitik“. Nicht durchsetzen konnte sich Faeser allerdings mit der Forderung, dass Familien mit Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren von Grenzverfahren ausgenommen werden. Noch nicht mal eine Handvoll Länder unterstützte die Bundesregierung. 

Wie immer war die deutsche Haltung zumindest etwas humaner als die Haltung der meisten anderen Länder. Mit einer Generallbockade hat man es aber nicht versucht, wohl wissend, dass man isoliert dagestanden hätte. Die Kritik, die prompt folgte, muss also an die EU bzw. viele EU-Regierungen gerichtet werden, nicht an Deutschland, das selbstverständlich auch ein Interesse daran haben darf, dass es zu einheitlichen Regelungen kommt, denn bisher hat es immer seinen Anteil mehr als erfüllt, weil es eben keinen funktionsfähigen Verteilmechanismus gab. Vertritt man die Haltung, dass jeder Mensch über seinen Aufenthalt selbst bestimmen darf, wie Pro Asyl das im Wesentlichen tut, ist ein solcher Mechanismus allerdings gar nicht zu lässig und wäre nicht zu befolgen. Wir haben die Diskussion in der Linken verfolgt, die vor ein paar Jahren um eine komplett offene Migrationspolitik geführt wurde und halten die Totalität des selbstbestimmten Aufenthaltsrechts  nach wie vor für nicht gangbar, weil sie die Ressourcen der bevorzugt aufnehmenden Länder überspannt. Umso mehr, als viele Länder jetzt eher restriktiver verfahren wollen als bisher und sich dadurch immer mehr Fluchtkanal in Richtung weniger Ausnahmestaaten wie Deutschland bilden würde. Damals haben die Linken, fast unbemerkt wie immer, die Grünen weit überholt bezüglich der Migrationsfreundlichkeit. Die Grünen sind aber Teil der Ampelregierung und müssen aktuell einen inneren Konflikt aushalten, den wir gut nachvollziehen können.

Wir haben abgestimmt

Deswegen haben wir auch für „unentschieden“ gestimmt. Das tut uns ethisch richtig leid, aber wir sehen, welchen Belastungen die hiesige Gesellschaft jetzt schon ausgesetzt ist und dass man den Bogen nicht überspannen darf. Sehr viele sind der Ansicht, das ist längst geschehen, und das sind nicht nur AfD-Wähler:innen. Nicht weniger als zwei Drittel der Abstimmenden sind gegenwärtig ganz eindeutig für die Verschärfung, die in den neuen Regelungen überwiegend gesehen wird. Ein wenig mehr europäische Solidarität hingegen, als Ausgleich, steht bei der Betrachtung der Mehrheit sicherlich nicht im Vordergrund. Man soll nicht vor Populisten einknicken, vor Rechtsextremen gar, aber es gibt tatsächlich viele gute Argumente dafür, dass wir nur dann im bisherigen Maßstab mit der Aufnahme neuer Menschen weitermachen sollten, wenn diejenigen, die schon hier sind, in ihrer Gesamtheit, mit allen Vorzügen, aber auch mit problematischen Aspekten, ehrlich behandelt werden und wenn man sich um mehr gegenseitige Akzeptanz bemüht. Zwei Millionen Menschen mehr in Deutschland innerhalb von weniger als zehn Jahren allein durch den Syrienkrieg und den Ukrainekrieg, das ist eine Hausnummer, das kann und darf man nicht kleinreden.

Nur ca. 17 Prozent haben sich gegenwärtig eindeutig (10) oder einigermaßen (7) gegen die Verschärfung der Regeln ausgesprochen. Auch diese Haltung verstehen und schätzen wir, uns wäre es auch am liebsten, man könnte die Grenzen komplett öffnen. Würde man das aber tun, kämen jedes Jahr Millionen hierher, die unter anderem nicht an diese hochtourige Volkswirtschaft angepasst sind. Uns wundert es ohnehin, dass es nicht wesentlich mehr im ökonomischen Gebälk des Landes ächzt, aber wir wissen auch, dass es, sagen wir mal, gewisse Unschärfen bei der Messung von Skills ebenso wie von ökonomischen Basisdaten gibt. Vor allem aber ist unabdingbare Voraussetzung dafür, dass man einen freien Zugang erlaubt, dass die Bildungs- und Integrationspolitik auf einen Stand gebracht wird, der das Wort der Lage und den Herausforderungen angemessen verdient und dass hier nicht antidemokratische Interessenverbände gegen die Menschenrechte agitieren und rückständige Weltanschauungen sich ungehindert ausbreiten dürfen. Die Zuwanderung muss mindestens so organisiert werden, dass sie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht noch mehr beschädigt, als das durch andere Faktoren ohnehin gegeben ist.

Wir haben auch Bezug genommen auf Anschauungen, die weit über das hinausgehen, was gegenwärtig Stand der Dinge ist und vor dem Asylkompromiss der EU war.

Ist dieser Kompromiss überhaupt schon sicher?

Ungarn und Polen wollen das Thema auf dem EU-Gipfel am 29. und 30. Juni in Brüssel wieder auf den Tisch bringen. Zudem müssen sich die EU-Länder noch mit dem Europaparlament verständigen. Das gilt als sehr schwierig, da die Positionen laut Diplomaten „meilenweit“ auseinanderliegen. Die Bundesregierung drängt auf einen Abschluss der Asylreform bis zur Europawahl im Juni 2024. Sollte dies nicht gelingen, könnten veränderte politische Kräfteverhältnisse Neuverhandlungen nötig machen.

Es gibt also immer noch Möglichkeiten, im Sinne der Humanität Änderungen zu bewirken, es könnte aber auch in die andere Richtung laufen, wenn die Rechten weiterhin stärker werden. Letzteres ist wahrscheinlicher als Ersteres, vor allem, wenn sie in großen Ländern wie Frankreich die seit vielen Jahren nur knapp verfehlte Regierungsverantwortung übernehmen sollten. Deswegen wäre es vermutlich besser, diesen Kompromiss bei den beiden renitenten Egoisten-Staaten durchzusetzen, als mehr zu wollen und am Ende vielleicht weniger zu kriegen als das, was gegenwärtig in Rede steht.

An diejenigen, die für freie Migration sind, müssen wir abschließend einen Appell richten: uneingeschränktes Asyl ohne uneingeschränkte Klassenlosigkeit ist unmöglich, deswegen sind die Kämpfe um mehr Menschlichkeit in Sachen Migration untrennbar verbunden mit den Kämpfen um eine weniger klassistische Gesellschaft. Geht es in letzterem Punkt eher rückwärts, wie seit Jahren, kann man nicht erwarten, dass eine Stimmung entsteht, die besonders aufnahmefreundlich ist. Diejenigen, die von einer maßgeschneiderten  Zuwanderung am meisten profitieren würden, sind hingegen dieselben, die auch von jeder Krise profitieren und sich die Taschen vollmachen.

Dieses Thema ist aber sehr komplex, sehr vielfältig und erfordert mehr Präzision einerseits und Abwägung andererseits, vor allem bezüglich der Folgenabschätzung, als sich in Sachen Migration auf die eine oder andere Extremposition zu stellen. Deswegen sind wir dieses Mal ganz vorsichtig in der Mitte geblieben, wobei wir damit ja schon weit links von der Mitte sind, wenn es darum geht, wo die meisten sich ansiedeln, die bisher an der Umfrage teilgenommen haben. Heißt auch: Es kann sich bei kommenden Umfragen bezgülich unseres Abstimmungsverhaltens etwas ändern, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse und / oder politischen Rahmenbedingungen verändern.

TH

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