Crimetime 1160 – Titelfoto © SR
Chancengleichheit für Tatort-Kommissare
Du hast keine Chance ist der Titel der insgesamt 12. Tatort-Folge mit Kriminalhauptkommissar Max Palu (Jochen Senf). Die 478. Tatort-Folge wurde am 2. September 2001 im Ersten erstmals ausgestrahlt. Es geht um den Tod eines Geschäftsmanns und die Entführung eines Jungen aus dem privaten Umfeld von Max Palu.
Ein Firmenchef wird ermordet, zwei junge Leute geraten außer Kontrolle und nehmen ein Kind als Geisel, Max Palu bekommt Hilfe von Ernst Bienzle und man sieht, wie gigantisch viele Arbeitsplätze es einmal in der saarländischen Industrie gegeben haben muss. Für die Verhältnisse von Max Palu, gemessen an unserer bisher keineswegs vollständigen Sichtung seiner Tatorte, ist sein zwölfter von achtzehn Tatorten einer der rasantesten, für die Verhältnisse von 2001 liegt er, die Action betreffend, wohl insgesamt über dem Durchschnitt. Was es sonst zum Film zu schreiben gilt, steht in der –> Rezension.
Handlung
Max Palu und seine Freundin Margit bekommen Besuch vom zehnjährigen Patrick, Margits Neffen. Und dieser bringt das Leben des kauzigen Kommissars ganz schön durcheinander: Während sich Palu mit einem komplizierten Mordfall an einem Geschäftsmann auseinandersetzen muss, ist Patrick plötzlich verschwunden: Entführung.
Nun hat der Saarbrücker Kommissar richtig zu tun. Eine junge Frau, die ihren unter Mordverdacht stehenden Freund freipressen möchte, ist durchgedreht und hat den Kleinen entführt.
Wie in keinem anderen Palu-Film zuvor vermischt sich im neuen SR-„Tatort“ die berufliche mit der privaten Ebene: Denn auch Margit macht Palu Druck. Persönlich betroffen, macht sich der Kommissar unter erschwerten Bedingungen an die Arbeit, den Mörder zu finden. Nur so, das wird Palu schnell klar, ist das Leben des Jungen zu retten.
Rezension
Doch es ist gar nicht so leicht für die damals auf gemächlich gepolten Macher beim SR, alle Elemente eines richtigen Verfolgungskrimis mit Bonnie & Clyde-Modus unter Kontrolle zu halten. Wie auch, wenn der Film Figuren in den Mittelpunkt stellt, die von Anfang an eine Spur zu hochtourig laufen und vor allem reden und dann vollends durchdrehen.
Vom Ende her betrachtet, ist der 478. Tatort ein tragischer Fall – weil das Pärchen, das die berühmten Gangster im Verlauf des Films mehr und mehr nachahmt, in den Tod springt und der männliche Teil von Oliver Hasenfratz gespielt wird, der kurz darauf an Leukämie starb. Falls man zum Zeitpunkt des Drehs schon wusste, dass er schwer erkrankt war, wäre das Ende tatsächlich makaber.
Wenn nicht, bleibt es immer noch ungewöhnlich und spektakulär. Aber es gibt auch viel Typisches in diesem Tatort, zum Beispiel den Auftritt eines Gastkommissars, des Stuttgarters Ernst Bienzle. Ein Kind als Projektionsfläche für die Emotionen des Zuschauers, besonders der Frauen, weil es entführt wird, das zehnjährige Burli, das seine Gutenachtgeschichten selbst lesen muss, weil Max neben ihm vom eigenen Lesen eingeschlafen ist. Ist nicht zu sehr gelästert, wenn man schreibt, was man angesichts dieser Szene denkt: typisch.
Von den Darstellern haben uns Katharina Schüttler als Mascha, der weibliche Teil des Paares, das mehr und mehr Gangster-Attitüde annimmt und Gregor Weber als Palu-Assistent Stefan Deininger gefallen. Letzterer hat hier eine der besten Leistungen abgeliefert, die wir bisher von ihm gesehen haben, die „eigenen“ sieben Tatorte von 2007 bis 2012 eingeschlossen, in denen er zusammen mit Kappl ermittelt.
Im Ganzen jedoch ist das Spiel zu theatralisch. Man steigt im Grunde nie dahinter, warum Mike, der abgezockte Wurstbudenbesitzer, immer den Rebell gibt, also ist er Rebell ohne Grund. Er wirkt nicht sozial verortet, sodass seine Art zu handeln sich aus seiner Biografie erklären würde, was leider auch bedeutet, dass man keine Sympathie für ihn aufbauen kann. Diese provozierende Haltung, Selbstüberschätzung als Trotzreaktion oder was auch immer, hängt zu sehr in der Luft – da hat man zu seiner Freundin mehr Zugang, weil ihr alle an die Wäsche wollen, um eine Situation auszunutzen, und nur Mike ihr Vertrauen hat, egal, was er macht. Da entführt sie den kleinen Patrick, der auf Besuch bei Palu ist, um Mike, inzwischen als Verdächtiger einsitzend, freizupressen. Das ist eine interessante Idee. Überhaupt mangelt es diesem Tatort nicht an Ideen und er stammt vom sehr routinierten Team Felix Huby (Drehbuch, Erfinder von Bienzle) und Hartmut Griesmayr (Regie).
Trotzdem wirkt der Film unrund, stellenweise gibt es richtige Sachfehler, wie zum Beispiel, die Aussage eines Kollegen gegenüber Palu, er sei ja von der Sache des ermordeten Firmenchefs abgezogen worden – in Wirklichkeit ist er nur vom Enführungsfall abgezogen worden, weil die Staatsanwältin ihn als involviert betrachtet, nicht aber von den anfänglichen Ermittlungen in der Sache Tötung des Unternehmers Lohmann.
Der Film ist als Whodunit aufgebaut, jedenfalls die meiste Zeit über. Allerdings in einer abgeschwächten Form: Der Zuschauer weiß mehr als der Ermittler, nämlich, dass Mascha den Lohmann in Notwehr erstochen hat, mag diese auch überschießend gewesen sein. Am Ende ist es jedoch eine Verfolgungsjagd, die nach Frankreich auf ein kleines Volksfest führt, womit der Zuschauer, wie häufig in den SR-Tatorten, darauf hingewiesen wird, dass das Saarland eine geschichtsträchtige Grenze mit Frankreich hat. In der Lebensrealität kommen grenzüberschreitende Straftaten auch vor, aber nicht so häufig, wie man anhand der Tatorte denken könnte. Immerhin, dadurch tritt auch von „drüben“ noch eine Ermittlerin hinzu, sodass wir ein ungewöhnlich großes Aufgebot von Kriminalpolizisten sehen. Überhaupt macht dieser Tatort einen recht aufwendigen Eindruck, wobei wir nicht sicher sind, ob zum Beispiel die Hubschrauberszene nicht aus einem anderen Saar-Tatort übernommen wurde. Autos im tiefen, grünen Wald finden oder auch nicht, zählt offensichtlich zu den Spezialitäten im waldreichen Südwesteck der Republik.
Die Ausgangssituation mit der Imbissbude kommt einigermaßen wirr und übertrieben daher und man bekommt BWL für Anfänger: Erst die Investitionen und die Werbemaßnahmen, dann irgendwann der Erfolg. Blöd, wenn das Kostenhemd ohnehin sehr eng gestrickt ist.
Finale
Der Saarbrücker Tatort mit Max Palu ist im Prinzip ein Phänomen. Bei 18 Jahren Dienstzeit kommt er nur auf 18 Fälle, weil der SR als kleiner Sender nicht mehr als einen Tatort pro Jahr beisteuert oder in diesem Zeitraum beigesteuert hat. Wieso es beim ebenso winzigen RB mehr sind, wissen wir nicht. Palu hat vermutlich nie zu den beliebtesten Ermittlern gehört, obwohl man so viel Wert auf den Ausdruck der regionalen Lebensweise mit einem Hang zum guten Essen in seiner Person gelegt hat.
Fatalerweise erinnert er aufgrunddessen daran, dass man eben auch etwas Sport machen muss, um trotzdem eine vernünftige Figur zu behalten. Es wird nämlich gerne verschwiegen, dass im Saarland auch überdurchschnittlich viel Fitness- und Breitensport betrieben wird. Witzigerweise hat der in „Du hast keine Chance“ noch einigermaßen schlanke Deininger später auch an Umfang um einiges zugenommen – bei keiner anderen Tatortfigur bzw. deren Darsteller, war der Gewichtsunterschied zwischen Einstiegszeitpunkt und Ende der Dienstzeit wohl so groß.
Allerdings spricht Palu Hochdeutsch – sein Darsteller Jochen Senf ist in Frankfurt geboren und lebt in Berlin. Seine Filmfigur hat eines der zum damaligen Zeitpunkt ausgeprägesten Privatleben aller Tatortermittler, was ihn dem Publikum sicher näherbringen sollte. Seine Lebenspartnerin heißt Margit und in „Du hast keine Chance“ hat sie eine vergleichsweise ausgedehnte Rolle, weil sie aktiv versucht, Palu zu beeinflussen, nachdem das Kind Patrick entführt worden ist – sie möchte, dass er Mike freilässt, damit Patrick ebenfalls freigelassen wird. Die Weiterung mit der Gelderpressung hat sie dabei nicht im Blick, dabei liegt es beinahe auf der Hand, dass sich das Pärchen Mike und Mascha mit Barem für die Flucht versorgen will.
Patricks Schicksal ruft Assoziationen zum vermutlichen Entführungs- und Todesopfer „Pascal“, einem fünfjährigen Kind, wach, der sich etwa zeitgleich zur Uraufführung des Tatortes „Du hast keine Chance“ ereignete. Der jahrelang andauernde Prozess gegen mehrere Personen im Umfeld einer Imbissbude (!) gilt bis heute als einer der spektakulärsten in der saarländischen Kriminal- und Justizgeschichte. Alle Verdächtigen mussten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden, weil der kleine Junge nie gefunden wurde.
Weiterhin reflektiert der Tarot über die generelle Haltung, dass der Staat sich von Kidnappern nicht erpressen lassen darf und spielt damit auf den berüchtigten „deutschen Herbst“ 1977 an, in dem es mehrere spektakuläre RAF-Aktivitäten gab. Besonders der Fall des Industriellen Hanns-Martin Schleyer warf die Frage auf, ob Bundeskanzler Schmidt nachgeben sollte oder nicht. Wir sind noch heute der Ansicht, dass er richtig gehandelt, so schwerwiegend die Folgen für den Entführten und seine Familie waren. Wir glauben insbesondere, dass dieser harte Kern der RAF Schleyer vermutlich auch nach einer geglückten Freipreissung der Stammheimer Häftlinge, die das Ziel der Entführung darstellte, nicht freigelassen hätte.
Natürlich ist der Vergleich sehr hoch angesiedelt, aber die Fragestellung ist ähnlich, denn 1977 wie im Film geht es darum, ob man sich dem Druck Krimineller beugen darf und damit vor allem Wiederholungstaten befördert, ob das Wohl von Geiseln im Vordergrund stehen muss, und natürlich generell um den staatlichen Anspruch auf Gerechtigkeitsfindung und Sanktionierung von Straftaten.
7/10
©2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
Kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Hartmut Griesmayr |
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| Drehbuch | Felix Huby |
| Musik | Frank Nimsgern |
| Kamera | Klaus Peter Weber |
| Schnitt | Walter Schellemann |
| Premiere | 2. Sep. 2001 auf Das Erste |
| Besetzung | |
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