Briefing 262 | Wirtschaft, Geldpolitik, 2010er Jahre, Inflation, Rezession, Stagflation
Über viele Jahre hinweg sah es so aus, als seien die klassischen Instrumente der Geldpolitik der Erhaltung des Euro und der Eurozone als Opfer dargebracht worden. Allerdings haben auch andere Zentralbanken, nicht nur die EZB, in den 2010ern mit sehr niedrigen Zinsen operiert. Der Kapitalismus war nicht mehr anders am Laufen zu halten als mit Billigstgeld.
Innerhalb relativ kurzer Zeit fand die Abkehr von der Kapitalschwemme statt. Was war geschehen? Die Inflation kam in die westliche Welt. Nicht, weil die Wirtschaft so grandios lief, sondern wegen der Verwerferungen, die zunächst von der Corona-Pandemie, dann vom Ukrainekrieg verursacht wurden. Vor allem die Energie- und Lebensmittelpreise zogen 2022 auf eine Weise an, die man lange Zeit nicht mehr für möglich gehalten hatte – weil eben eine echte Hochkonjunktur außerhalb jeder Reichweite schien. Nun aber kreuzt sich die Normalzinsphase mit einer besonders in Deutschland schwach laufenden Wirtschaft:
Infografik: EZB und Fed ziehen erneut Leitzinsen an | Statista
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Nach der Aussetzung der Leitzinserhöhung im Juni hat die US-amerikanische Federal Reserve die Zinsspanne im Juli erneut angehoben. Damit bewegt sie sich jetzt zwischen 5,25 und 5,5 Prozent. Entsprechend nachgezogen hat auch die Europäische Zentralbank (EZB). Aufgrund der anhaltenden Inflation im Euro-Raum wurde der Leitzins am 27. Juli ein weiteres Mal um 25 Basispunkte angehoben.
Der EZB-Leitzins war zuletzt zu Beginn der weltweiten Finanzkrise auf diesem Niveau. Die Zukunft der Anpassungen sei laut EZB-Chefin Christine Lagarde offen. „Die Daten werden uns sagen, ob und wie viel Boden wir noch gut machen müssen“, so Lagarde laut einer Pressemeldung von Dow Jones via finanznachrichten.de. „Wir haben eine offene Haltung für das Treffen im September und auch für künftige Treffen.“
Der EZB-Leitzins für das Hauptrefinanzierungsgeschäft hat mit Wirkung ab 27. Juli das Niveau von 4,25 Prozent angenommen. Auch die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilität wurden jeweils um 0,5 Prozent angehoben. Die Inflation im Euro-Raum lag im Juni bei 5,5 Prozent.
Im Frühjahr 2020 hatten sowohl die Federal Reserve (Fed) der USA als auch die Bank of England (BoE) den Leitzins zur Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Folgen drastisch gesenkt. Der russische Angriff auf die Ukraine bewegt die zentralen Finanzorgane der Länder nun wieder zu einer restriktiven Geldpolitik. Knappere Geldmengen und verteuerte Kredite sollen die Währung wieder aufwerten und dadurch die Inflation dämpfen. Für den Konsumenten bedeutet das wieder sinkende Lebenserhaltungskosten, das Wirtschaftswachstum wird jedoch indirekt ausgebremst.
In Deutschland betrug die Inflation im Juni immer noch 6,2 Prozent, nachdem im vergangenen Jahr Werte von mehr als 7 Prozent erreicht wurden. Verbraucher:innen wissen: Die persönliche Inflation liegt vor allem bei ärmeren Menschen sehr viel höher, so betrug etwa die Lebensmittelteuerung innerhalb eines Jahres im Mai über 14 Prozent, im April 17 Prozent, im März sogar mehr als 20 Prozent. Im Grunde müsste die Gesamt-Teuerungsrate in Deutschland langsam sinken, denn angeblich sind ja die Energiepreise geradezu unverschämt niedrig. Glauben Sie Robert Habeck, er weiß es. Tatsache ist: Sie liegen für Privatverbraucher:innen immer noch um ca. 30 Prozent höher als vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs und dem Stopp der russischen Gaslieferungen nach Deutschland. Allerdings schlug dieser Bereich der Teuerung im Jahr 2023 bereits so erheblich zu Buche, dass jetzt der Gegeneffekt eintreten müsste.
Wir werden sehen, was in den nächsten Monaten passiert, aber höhere Löhne und eine Reihe von Folge-Teuerungen, die teilweise schlicht und ergreifend der Gewinnsucht der Konzerne zu verdanken sind, werden ein rasches Abbremsen der Inflation wohl verhindern. Die Inflation, das sind eben doch nicht nur die Energiepreise. Und anders als diese sind weitere Teuerungsfaktoren, die in der Regel der weniger volatilen Kerninflation zugerechnet werden, kaum rückgängig zu machen. Die Energiepreise steigen und sinken, aber Mieten, Löhne, Einzelhandelspreise werden wohl kaum wieder zurückgehen, von Einzelfällen abgesehen, die von den Medien übertrieben herausgestellt werden. Dass es sich um Einzelfälle handelt, sieht man ja daran, dass die Gesamtinflation kaum sinkt. Es wird auch keine „sinkenden Lebenshaltungskosten“ geben, dazu gleich ein paar Worte mehr.
Nun kommen die Zentralbanken ins Spiel. In den 2010ern hat die EZB klar eine Politik gegen deutsche Interessen betrieben, indem sie mit ihrer epischen Niedrig- und Nullzinspolitik versucht hat, die Hochschuldenländer beim Aufnehmen von frischem Geld zu unterstützten und deren schwächelnde Wirtschaft anzukurbeln. Für Deutschland waren die Zinsen schon seit 2010 im Grunde zu niedrig und haben u. a. eine Immobilien- und allgemeine Kapitalanlageblase bewirkt, die lediglich den Reichen zugutekam, während die Normalbevölkerung schon damals unter segmentweiser Inflation, zum Beispiel bei den Mieten, zu leiden hatte. Das wird gerne mal vergessen, wenn so getan wird, als sei die Teuerung mit Corona und dem Ukrainekrieg sozusagen vom Himmel gefallen. Niedrige Energiepreise über weite Teile der 2010er hatten diesen Auftrieb aber so kompensiert, dass die Gesamtteuerung relativ niedrig erschien, gleichzeitig hat diese Kapitalblase aber das BIP Deutschlands wachsen lassen, ohne dass echte Innovation oder Produktivitätsfortschritte dieses Wachstum getrieben hätten. Mithin, die Daten sahen besser aus als die Realität, ab Mitte der 2010er sank denn auch die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland rasch ab.
Jetzt sieht es richtig schlecht aus, aber was macht die EZB? Sie setzt die Zinsen für die deutsche Wirtschaftsrealität viel zu hoch an, genau das umgekehrte Szenario wie zuvor.
Während wir die Niedrigzinspolitik aber immer wieder kritisiert haben, können wir dieses Mal nicht so eindeutig sein. Das Dumme ist nämlich, dass auch Deutschland von der Inflation stark betroffen ist, die von der EZB nun gebremst werden soll, indem man zu höheren, nach Maßstäben, die vor der Bankenkrise galten allerdings normalen Zinssätzen für Zentralbankgeld zurückkehrt.
Halten wir kurz inne. Kann man also sagen, die EZB tut auch für Deutschland das Richtige? Leider nicht. Denn die Inflationstreiber des Jahres 2022, die 2023 weiterwirken, können nicht durch höhere Zinsen seitens der Zentralbank ausgeschaltet werden. Die Inflation wird gegenwärtig nicht durch zu expansive Geldpolitik angetrieben, sondern durch Faktoren, die auf der geopolitischen Lage beruhen. Würde man hingegen jetzt zur Stützung der deutschen Wirtschaft die Zinsen senken, wäre das gar nicht falsch. Es wäre ein Ausgleich für die zuletzt stark gestiegenen Energiekosten, beispielswiese.
Anders als im Immobilienbereich, den wir oben erwähnt haben, kann die Industrie sich nämlich nicht darüber freuen, dass jetzt die Preise für den Einkauf von Waren, bei Immobilien von „Objekten“ sinken und dadurch die höheren Zinsen ausgeglichen werden. Im Gegenteil, wir werden vermutlich erleben, dass viele Zombie-Unternehmen, die durch niedrige Zinsen durchgeschleppt wurden, auch in Deutschland fallieren werden. Insbesondere im Handel merkt man diesen Effekt bereits deutlich, während die Industrie immer mehr Produktion ins Ausland verlagert, anstatt sich der hiesigen Situation zu ergeben. Solche Vorgänge waren bisher im Wesentlichen unumkehrbar, auch wenn es vor Corona nach einer kleinen Renaissance der Industrie aussah – auch wegen der billigen Finanzierungsmöglichkeiten hierzulande. Jetzt sind sie schlechter, zudem wird in den USA mit bisher kaum für denkbar gehaltenen Summen die Reindustrialisierung angeschoben.
Dazu zwei Bemerkungen: Obwohl die US-Zentralbank Fed die Zinsen noch höher hält als die ZB und auch früher mit der Rückkehr zur Normalität begonnen hat, läuft die Wirtschaft dort besser. Das weist darauf hin, dass die Substanz viel höher ist und dass die Subventionen die höheren Zinsen einigermaßen ausgleichen. Die Inflation ist in den USA auch sehr hoch, aber sie geht einher mit einer besseren Wirtschaftsentwicklung. Deutschland hingegen ist in eine hochgefährliche Stagflationszange geraten, die trotz der hohen Teuerungsrate eine lockere Geldpolitik sinnvoll erscheinen lassen würde. Die Inflation geht eben derzeit in erster Linie nicht auf Faktoren zurück, die von der EZB beeinflusst werden können. Wohl aber kann die Zentralbank negativen Einfluss auf die Kreditvergabe nehmen, und das tut sie im Moment natürlich, wie der Einbruch am Bau beispielsweise zeigt.
Noch krasser als all dies ist aber, dass die deutsche Politik schon in den 2010ern die mega-günstigen Finanzierungsmöglichkeiten nicht genutzt hat, um die hiesige Infrastruktur fitzumachen für die Zukunft. Man hätte teilweise fürs Aufnehmen von Geld sogar etwas draufbekommen. Noch krasser als dieses Versäumnis wiederum ist es, dass FDP-Finanzminister Lindner jetzt hingegen will und ausgerechnet in der Rezession die Schuldenbremse wieder einhalten möchte. Was diese Neoliberalen reitet, sind ganz sicher nicht Kenntnisse der Wirtschaftsgeschichte: Genau so ist die Regierung Brüning im Jahr 1930 nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise verfahren und hat auf diese Weise dazu beigetragen, dass Deutschland, neben den USA, von dieser Krise am härtesten getroffen wurde. Das Ergebnis ist bekannt, diese Krise trieb den Nazis Stimmen zu. Vielleicht will die FDP ja genau das wiederholen, die Mehrheit des Landes weiter verarmen lassen, um mit der AfD zusammen bald richtig schön rechtsextrem-neoliberal durchregieren zu können. Versuche dieser Art gab es ja schon.
Insofern ist diese Partei auch ein trojanisches Pferd in der Bundesregierung, das nur wenigen Superreichen dient, denen es wiederum weitgehend egal ist, wie die Lage in Deutschland sich entwickelt. Sie sind auf der ganzen Welt investiert sind. Da im Moment ca. 90 Prozent aller Staaten eine bessere Wirtschaftspolitik machen als die Ampelregierung, gibt es unzählige Ausweichmöglichkeiten. Selbst Anteile an deutschen Konzernen, die ihr Geld immer mehr abroad verdienen, zählen zu diesen Ausweichmöglichkeiten. Auch, dass die EZB eigentlich immer für andere Länder in der EU Geldpolitik betreibt, stört diese Blase nicht, denn – genau, es gibt immer Möglichkeiten, trotzdem irgendwo den Gewinn zu finden, den nur sehr flexible Hochkapitalisten auf einigermaßen sichere Art einfahren können, also, ohne sich zu sehr auf das Spekulationsglück verlassen zu müssen.
Wenn wir zurückblicken, beschleunigt sich jetzt aber nur eine Entwicklung, die schon in den 2010ern relevant war. Damals hieß der Finanzminister Wolfgang Schäuble und kam von der CDU. Er hat die Niedrigzinspolitik natürlich auch dazu genutzt, den Schuldenberg Deutschlands erstmals nach vielen Jahrzehnten ein bisschen zu verkleinern. Nach Corona war dieser Effekt aber schon wieder aufgehoben und die Infrastruktur war und ist immer noch in beschissenem Zustand. War es das wert, inklusive der damals schon zu beobachtenden Schlechtentwicklung bei den kleinen Vermögen der Nichtkapitalisten? Im Nachhinein muss man sagen: Das war es nicht, auch wenn Deutschland mit seiner durch die „Schwarze-Null-Politik“ verursachten defensiven Ausgabenstrategie eine hohe Bonität genoss und damit mehr als jeder andere Staat in der EU den Euro stabilisiert hat. Letztlich ging es zulasten der Substanz und der Mehrheit in diesem Land. Die USA weisen zwar eine weitaus höhere Staatsschuldenquote auf als Deutschland, aber wäre das auch so, wenn man alle „Sondervermögen“, die sich hierzulande so ansammeln, einbeziehen würde? Und wie sieht es mit dem Vergleich zwischen Schulden und Volksvermögen aus? Schlecht. Die USA im Ganzen stehen besser da als Deutschland, wenn man diesen Vergleich einbezieht. Dass diese Besserstellung wiederum vor allem den gigantischen Vermögen der Reichen zu verdanken ist – nun ja, so kreist eben der Kapitalismus um sich selbst. Deswegen ist mittel- und langfristig nicht ausgemacht, was die richtige Strategie ist. Eines jedenfalls nicht: In Deutschland jedwede Investition auszubremsen, die allen zugutekommen würde, wie Lindner es tut, nachdem über viele Merkel-Schäuble-Jahre ohnehin ein großes Investitionsdefizit bei der öffentlichen Infrastruktur entstanden ist.
TH
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