Pechmarie – Tatort 625 #Crimetime 1161 #Tatort #Köln #Ballauf #Schenk #WDR #Pech #Pechmarie

Crimetime 1161 – Titelfoto © WDR, Uwe Stratmann

Ein altes Märchen, neu verfilmt

Pechmarie ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort. Der vom Westdeutschen Rundfunk unter der Regie von Hendrik Handloegten produzierte Film wurde am 19. März 2006 im Ersten Programm der ARD ausgestrahlt. Es ist der 34. Fall des Kölner Ermittler-Teams Ballauf und Schenk und die 625. Tatortfolge.

In ihrem 35. Fall sind Max Ballauf und Freddy Schenk längst eine Institution und lösen mit ruhiger Hand einen Fall, in dem es zwei ungleiche Schwestern gibt, einen Scharlach und einen Heldentenor. Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung der Rezension 2023: Mittlerweile ist Hendrik Handloegten, der Regisseur, auch als einer der drei Regisseure von „Babylon Berlin“ ein Begriff. Allerdings hat die Serie ein etwas anderes Gepräge als „Pechmarie“, zu dem mehr in der –> Rezension steht. Das Drehbuch stammt von Cantz & Hinter, die zu dem  Zeitpunkt, als „Pechmarie“ entstand, bereits als Erfinder des Münster-Tatorts hervorgetreten waren.

Handlung 

„Gib Gas!“, lautet das unmissverständliche Kommando. Als der Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth den Tatort gerade verlassen will, spürt er den Lauf einer Pistole an seiner Schläfe. Der Mann auf der Rückbank seines Wagens meint es ernst. Zwei Maskierte hatten auf dem Parkplatz eines Kölner Luxushotels einen Juwelenhändler ausgeraubt und erschossen. Einer der beiden Täter sitzt nun in Roths Auto.

Die Kommissare Max Ballauf und Freddy Schenk ahnen zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Kidnapping ihres Kollegen. Dafür erzielen sie bereits erste Fahndungserfolge. Dringend tatverdächtig ist das Pärchen Heiner Wolff und Marie Menke. Auf dem Video der hoteleigenen Überwachungskamera hat die junge Rezeptionistin Julia Hirsch ihre beiden Urlaubsfreunde wieder erkannt. Leichtfertig hatte sie ihnen von dem Stammgast mit dem wertvollen Gepäck erzählt. Sind die gestohlenen Edelsteine bereits im Umlauf?

Ballauf und Schenk hören sich in der Hehler-Szene um und ermitteln im Umfeld der Verdächtigen. Dabei treffen sie auf Maries ältere Schwester Sophie Menke, eine Berufsmusikerin, die gerade von einem längeren USA-Aufenthalt zurückgekehrt ist. Doch zwischen den beiden Schwestern herrschte seit Jahren Funkstille. Und auch ein ehemaliger Freund, der Schauspiellehrer Christof Rüter, erklärt, er habe Marie schon ewig nicht mehr gesehen. Da wird im Rhein eine Frauenleiche gefunden.

Rezension

„Pechmarie“ ist einer der ruhigsten Kölner Tatorte, die wir bisher gesehen haben – aber er passt gut in diese Phase, in der die beiden Kommissare teilweise sehr dialektisch soziale Themen bearbeiteten. Die Art, wie „Pechmarie“ sich gestaltet, war nicht überraschend – mit Ausnahme der Tatsache, dass es keine Dialektik gibt. Denn es gibt kein soziales Thema. Zumindest keines, das sich aufdrängen würde. Eine Musikerin kehrt aus den USA zurück, ihre Schwester begeht derweil einen Raub, kommt dann aber auf mysteriöse Weise ums Leben.

Bei diesem Film muss man strikt drei Kategorien trennen: Visuelle und musikalische Gestaltung, Darstellerleistungen und Plot. Wir beginnen mit dem Besten, was „Pechmarie“ zu bieten hat, und das sind die langen, relaxten Einstellungen, die wirklich auffällig durchkomponiert sind. Beispielsweise zu Beginn die auf der Brücke aneinander vorbeifahrenden Autos, spiegelbildlich dann die Kähne, die auf dem Rhein in entgegengesetzte Richtungen schippern.

Die Szenen im Appartement von Sophie sind wunderschön gemacht, vor allem, als es noch die dunkelbraune Anfangsfarbe hat, da konnte man schön mit Licht und Schatten und Personen arbeiten, die so in Raumwinkel gestellt sind, die sie verloren wirken lassen. Ähnliche Wirkung erzielt das Hinaufgleiten der Kamera an Hochhäusern im späten Dämmerlicht. Von den Häuserecken, den Balkonen sind nur noch schwarze Schatten sichtbar. 2006 gab es schon eine deutliche, bis heute anhaltende Tendenz zu stilsicherer Bildgestaltung, mehr im als am Tatort. Wir erinnern uns bei der Gelegenheit auch daran, dass die Kölner zu Beginn ihrer Tätigkeit führend im Bereich moderne Filmanmutung waren. Später leisteten sie sich manch mehr oder weniger gelungenes Experiment mit kompletten Filmen in wenig magenfreundlichem Gelbgrün oder verwischten Konturen, die uns an unserer Sehfähigkeit zweifeln ließen. Schwamm drüber, „Pechmarie“ ist gestalterisch sehr gelungen.

Die italienische Opernmusik, die immer wieder inszeniert wird, kontert nicht nur die elegische Stimmung mit dem sparsamen, aber akzentuierten Score, der wiederum die Einsamkeit unterstreicht, welche die Figur Sophie umweht. Später erfahren wir, warum sie einsam sein will, ja Begegnungen vermeiden muss.

Ab hier Angaben zur Auflösung!

Nicolette Krebitz als „Goldsophie“ bzw. „Pechmarie“ spielt sich gekonnt zwischen den Extremen der Künstlerin und dem schwarzen Schaf der Familie hindurch. Als sie auf dem Balkon raucht, hätte uns aber schon dämmern müssen, das diese Figur nicht ist, wie sie scheint. Die 2000er waren nun einmal eine politisch besonders korrekte Zeit und Rauchen durften nur Figuren, die mindestens etwas zu verbergen hatten – wie etwa ihre wahre Identität.

Die Ermittler betreffend, kann man die Kölner Tatorte ja gut in Max-Filme, Freddy-Features und in einige unterteilen, in denen die beiden etwa gleichermaßen präsent sind. Für uns ist „Pechmarie“ ein Freddy-Ding, denn sein Scharlach als belebendes und menschliches Element in diesem eher kühlen Film sorgt dafür, dass letztlich doch ein wenig Buddy-Atmosphäre aufkommt.

Und diese können die Kölner ja wie kein anderes Team, nebst Kinderthemen und der erwähnten Abhandlung von sozialen Stoffen anhand von These und Gegenthese. Herausragend agieren die beiden hier aber nicht, eher mit der Routine, die man nach 35 gemeinsamen Fällen einfach hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass manche dieser Fälle, die emotional viel höher flogen als „Pechmarie“, auch deswegen diese Wirkung erzielten, weil die Ermittler persönlich involviert waren. Gegen manch anderen gefährlichen Moment, den die beiden oder einer von ihnen zu überstehen hatten, ist Scharlach ein Klacks. Auch in „Pechmarie“ wird Max wieder einmal angegangen und in einen Fahrstuhlschacht geschubst, und damit kommen wir zu den weniger erfreulichen Aspekten des Films.

Polizisten sind in Tatorten oft Underperformer, die sich allerdings Situationen stellen müssen, und das zwei- oder dreimal im Jahr, die ein echter Kriminalbeamter wohl kaum einmal in der gesamten Dienstzeit erlebt. Da bleibt es nicht aus, dass immer wieder Verbrecher oder Verdächtige auf der Flucht verloren gehen, dass der Personenschutz nicht funktioniert, dass sich die Ermittler übertölpeln lassen und manchmal sogar ihrer Dienstwaffe verlustig gehen. Tatortschreiber:innen finden das spannend und das Publikum findet es wohl auch spannend, sonst kämen solche Handlungselemente seltener vor. Auf dem Gebiet kann man „Pechmarie“ außer der Aufzugschachtszene nicht viel vorwerfen. Sophie bzw. Marie wird abgeschirmt und Freddy hilft sogar beim Wohnungsanstrich, was ihn wieder so menschlich macht. Die Ermittlungen als solche sind nicht zu beanstanden, auch wenn Männer mit dem Gespür für Täter etwas früher hätten darauf kommen können, dass irgendwas mit Sophie im Busch ist. So musste der Unterschied zwischen Puccini und Rossini herhalten, um Licht in die gesamte Angelegenheit mit dem Identitätstausch und wo die Diamanten sein könnten zu bringen. Das geht noch an.

Aber wie man den guten Dr. Roth, den Gerichtsmediziner, der von einem echten Gefängnisarzt gespielt wird, hier dumm aussehen lässt, nur, um ihm ein paar Momente mehr als üblich zu geben, ist nicht überzeugend. Spätestens, als der junge Mann, der den Diamantenhändler erschossen hat, auf dem Tisch vor ihm liegt, wehrlos, muss er handeln und sich befreien. Vielleicht war der hippokratische Eid stärker als der Selbsterhaltungstrieb.

Wie Marie wirklich verstirbt, das muss erst statistisch erklärt werden, damit man’s glaubt. Wenn Freddy das früher gewusst hätte, hätte er vielleicht nicht beim Anstreichen geholfen. Komischerweise ist aber anfangs gar keine Leiter da, von der Marie gefallen sein könnte, wie Freddy feststellt, und eine solche an- bzw. einfordert. Jedenfalls heißt es, Haushaltsunfälle sind die häufigste unnatürliche Todesursache. Das stimmt, wenn man von den Verkehrsunfällen absieht, die, wenn wir’s richtig im Kopf haben, immer die häufigste Ursache für vorzeitiges, unnatürliches Ableben sind. Trotzdem wirkt es hier an den Haaren herbeigezogen, und das vor allem deshalb, weil man Marie nicht als Bösmarie, sondern eben als Pechmarie darstellen wollte.

Finale

Damit sind die wesentlichen guten und weniger gelungenen Elemente des Films aber schon erzählt, denn er ist für heutige Verhältnisse unspektakulär, gibt den Schauspielern Raum und vor allem der Stimmung.

Geradezu luxuriös, wie viele Sekunden die Kamera auf Gegenständen verharrt, um Atmosphäre zu erzeugen – und subtile Momente zuzulassen, die dann allerdings nur in den Sophie-Szenen tatsächlich stattfinden. Etwa, wenn sie von sich erzählt, auf dem Balkon stehend, in die Nacht blickend, oder später im Auto sitzt, mit verlorenem Blick. Schön, leise, nicht perfekt, aber ein Kölner, den man sich ansehen kann, auch wenn man kein Fan von Freddy und Max ist. Womit wir nicht ausgedrückt haben möchten, dass wir sie nicht sehr schätzen.

7/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Hendrik Handloegten
Drehbuch
Produktion Sonja Goslicki
Musik Dieter Schleip
Kamera Peter Przybylski
Schnitt Elena Bromund
Premiere 19. März 2006 auf Das Erste
Besetzung

 

 

 


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