Zielscheibe – Tatort 481 #Crimetime 1162 #Tatort #Saarbrücken #Palu #SR #Zielscheibe

Crimtime 1162 – Titelfoto © SR, Iris Maurer

Wie der Saarländische Rundfunk sich die Weiterentwicklung des Reality-TV vorstellt

Zielscheibe ist der Titel der insgesamt 13. Tatort-Folge mit Kriminalhauptkommissar Max Palu (Jochen Senf). Die 481. Tatort-Folge wurde am 14. Oktober 2001 im Ersten erstmals ausgestrahlt. Es geht um den Tod einer Fernsehmoderatorin und die Medienhetze ihrer Fernsehsendung gegen mutmaßliche Straftäter.

Im Jahr 2001, zwischen Big Brother, Dschungelcamp und diversen Daily-Reality-Shows, die damals gerade aufkamen, hat man beim saarländischen Tatort-Team die Überlegung angestellt, wie sich das Fernsehen weiterentwickeln könnte. Wir bewerten das Ergebnis, nachdem wir (kursiv) die Meinung des Senders wiedergegeben haben. Sie lesen also mehr in der –> Rezension.

Handlung, Besetzung, Stab (Das Erste)

Petra Odetzki ist die populäre Moderatorin der Fernsehshow „Zielscheibe“, einer „Aktenzeichen XY – ungelöst“ – ähnlichen Daily. Durch mehrere öffentliche Aufrufe in „Zielscheibe“ gelingt es der Polizei, den vom internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen Völkermord gesuchten Serben Ante Besic zu verhaften. Besic kann aber wenige Stunden später wieder fliehen und löst damit eine beispiellose von Petra Odetzki in ihrer Show angetriebene Hetzjagd auf ihn aus.

Doch dann geschieht das Undenkbare: Die Moderatorin wird in ihrem Haus erschossen aufgefunden. Sie wird von der Bevölkerung zur Märtyrerin erkoren, der Todesort zum Wallfahrtsziel.

Kommissar Max Palu hat es schwer in dem nun einsetzenden Medientrubel seine Ermittlungen zu führen, denn noch rücksichtsloser als Petra Odetzki geht ihr Ehemann und Produzent Tom mit den Publikumsemotionen um. Als neuer Moderator der „Zielscheibe“ fahndet er mit hohem Aufwand nach Besic und bricht dabei einen Quotenrekord nach dem anderen.

Odetzki will Besic als Erster, noch vor der Polizei, der Öffentlichkeit in seiner Show präsentieren. Palu lässt sich allerdings nicht bluffen. Mit der ihm eigenen Sturheit und seinem kriminalistischem Spürsinn durchschaut er das Spiel, kann im letzten Moment eine Lynchjustizaktion verhindern und den wirklichen Täter entlarven.

Mit dieser Geschichte des modernen Reality-TV greift Palu-Film Nummer 13 wieder ein brisantes Thema auf. So verblüffend die Geschichte dem Zuschauer teilweise auch erscheinen mag, die Parallelen zu aktuellen Sendeformen sind sehr deutlich. Mit schneller Schnittfolge, dramaturgisch durchdachten Sequenzen und der Darstellung einiger skrupelloser Medienprofis kommt diese unglaubliche Tatort-Story der heutigen Fernsehrealität bedrückend nahe. Regisseur Robert Sigl hat eine bedrohliche Mischung aus „Aktenzeichen XY – ungelöst“ und „Big Brother“ geschaffen, die nicht mehr so weit von unserer Fernsehwirklichkeit entfernt ist, wie wir uns das vielleicht wünschen. „Solche Drehbücher sind selten“ kommentierte der mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnete Kino- und TV-Regisseur das Angebot des SR.

Rezension

Ja, ja, verblüffend. Wer das kursiv Wiedergegebene geschrieben hat, ahnte wohl schon, dass viele diesen Plot als absurd und bescheuert empfinden werden, trotz der zunehmenden Entgrenzung des Menschen als Medienrezipient und im Allgemeinen.

Eines vorweg – eine Sendung wie die hier gezeigte wird es bei allen Auswüchsen der Reality-TV nicht geben. Dass die Festnahme eines Verbrechers live gezeigt wird, könnten wir uns vorstellen. Die Wahrung der Persönlichkeitsrechte wird immer mehr relativiert. Das Zeitalter der Überwachung und Bespitzelung  und der Bereitschaft der Menschen, Dinge von sich preiszugeben, die früher undenkbar gewesen wären, geht einher mit Tendenzen zu mehr staatlicher Repression. Big Brother muss gar nicht erst mit Druck operieren, die Leute machen sich von sich aus nackig. 

Aber im Bereich der Verunglimpfung, Beschimpfung, Beleidigung und jedweden Aufrufs zur Hetze und die Unterdrucksetzung von Staatsorganen betreffend, gibt es eine logische und folgerichtige Gegenbewegung, wie die vielen neuen Paragrafen im StGB belegen, die sich mit dieser Thematik befassen. Es gibt aber auch eine ziemlich alte Norm, den § 111 StGB (Öffentlicher Aufruf zu Straftaten), die, obwohl zu Anstachelungen auf Versammlungen gedacht, hier anwendbar wäre – es ist letztlich egal, ob live auf einem großen Platz oder über die Medien zur Lynchjustiz aufgerufen wird.

Außerdem will der Film zu viel, was die Rolle von Intendanten und Politikern angeht – es ist klar, dass Publicitygeilheit keine Grenzen kennen würde, wenn es nicht doch gewisse Grenzen im Normengefüge gäbe, welche zumindest bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten, vom Medienrat überwacht werden. Die Grenze dürfte mit dem Begriff Freiwilligkeit gezogen sein: Bis heute darf in deutschen Gerichtssälen nicht gefilmt werden, und das ist richtig so.

Schlimm genug, dass die Szenen vor den Gerichten so ausarten, wenn die Reporter versuchen, die Teilnehmer an Prozessen für ein paar Sekunden vor die Kameras zu bekommen. Aber von diesen kurzen Momenten abgesehen, wird niemand ausgiebig gefilmt, der nicht eingewilligt oder es nachträglich genehmigt hat (Letzteres bei der „versteckten Kamera“, unabhängig davon, wo gefilmt wurde). Selbst schöne Zufalls-Schnappschüsse von fremdem Personen sind in Deutschland verboten, sofern die Leute nicht Teil einer größeren Szenerie sind.

Hier muss wieder, wie häufig bei den jetzt noch aus dem Archiv befreiten Texten der Jahre vor 2018, eine Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung 2023 sein: Wie die DSGVO diese Regeln auf eine Weise verändert hat, die zwar kaum die Persönlichkeitsrechte stärkt, aber z. B. uns die Berichterstattung von Veranstaltungen erschwert, weil wir nur Bürgerjournalisten sind, suggeriert nur mehr Schutz, ist in Wirklichkeit aber ein Schlag gegen die immer stärkere bürgerjournalistische Bewegung zugunsten der „Leitmedien“.

Genau deshalb ist das, was dieser Tatort vorführt, komplett in die falsche Richtung gezielt. Die wirklichen Veränderungen der letzten Jahre wurden nicht vorhergesehen und konnten daher auch nicht persifliert oder satirisch abgehandelt werden. Vielmehr wirkt diese überzogene Darstellung nicht spannend und nicht bedrückend, im Zusammenhang mit dem feuchten Ende sogar eher kasperlhaft. Was man einem Thema antun kann, wenn der Ton konsequent neben der richtigen Spur liegt, sieht man an „Zielscheibe“ eindrucksvoll.

Es spielt dabei keine Rolle, ob man zu viel gewollt, etwas anderes gewollt oder genau das gewollt hat, was dabei herauskam, das Ergebnis gehört zu den Filmen, die ins Kuriositätenkabinett der Tatortgeschichte gehören. Das heißt nicht, dass man sie niemals wieder zeigen soll, sonst könnten wir und andere sich ja kein Urteil darüber bilden.

Zweite Anmerkung anlässlich der Publikation: Diesbezüglich haben diverse Sender inzwischen mehr Mut bewiesen und holen alte Tatorte sogar aus dem berüchtigten Giftschrank, ebenso wie jene, die als qualitativ wirklich miserabel gelten. Es gibt inzwischen nur noch wenige Tatorte, die wohl dauerhaft nicht mehr gezeigt werden.

Dabei hat der Tatort 481 schöne Momente, und zwar immer dann, wenn das Persönliche im Vordergrund steht. Daran sieht man, dass die Regie fähig ist und die Schauspieler zu sehr natürlich wirkenden Momenten animieren kann, wodurch zum Beispiel Max Palu dienstlich eher unsympathisch, privat aber ganz knuffig wirkt. Man kann also von zwei Gesichtern sprechen, und das ist doch etwas, vor allem im Vergleich zu den übrigen Charakteren, die so eindimensional daherkommen, wie es die Satire grundsätzlich auch erfordert. Wir haben jedoch schon geschrieben, dass die Satire nicht stattfindet, also hängt das Überzogene in der Luft und kann nicht an einer treffenden, zutreffenden, den Nagel auf den Kopf treffenden Beschreibung der heutigen Medienlandschaft ankern.

Beleg für die falsche Akzentuierung ist weiterhin, dass nicht ein „normaler“ Verbrecher gejagt wird, sondern ein Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien, der während des Bürgerkriegs an Massakern beteiligt gewesen sein soll. Jemand, der vors Haager Tribunal geführt werden soll, ist viel zu abstrakt für die hier aufgebaute Hetzkampagne, da er in Deutschland keinerlei Verbrechen begangen hat und außerdem auf der französischen Seite der Grenze lebt. Damit ist er ein denkbar ungünstiges Opfer für die Sendung „Zielscheibe“, deren Zuschauer sich ebenso seltsam verhalten wie später der Mob, der die Kirche in Frankreich stürmt.

Zu dem unstimmigen Eindruck des Films tragen nämlich auch die „Massenszenen“ oder doch diejenigen mit vielen Statisten bei. Wenn man es nicht hinbekommt, sie so anzuleiten, dass sie psychologisch stimmig wirken und die Massenhysterie glaubhaft rüberbringen, dann lässt man es besser. Während der dramatischsten Szenen des Live-TV sitzen die Leute im Studio, als ob sie einer kulturpolitischen Diskussion lauschen. Hingegen wirkt der Mob, der die Kirchentür aufbricht, zwischen unwissend bezüglich der richtigen Gesten und Bewegungen und gemäß dem Temperament des Films im Leerlauf überdrehend. Dass bei den komplexeren Szenen auch das Timing nicht immer stimmt, überrascht in dem Zusammenhang nicht.

Finale

Wir halten fest: Aus Saarbrücken kommen nicht erst seit dem Einsatz des aktuellen Kommissars Stellbrink (der zum Zeitpunkt der Publikation dieser Rezension schon wieder Tatortgeschichte ist) skurrile Krimis, und es zeigt sich, dass das, was aktuelle am Publikum vorbeiproduziert wird, aus einer Tradition kommt, immer mal wieder ins Risiko zu gehen, ohne zu bemerken, wo das Risiko tatsächlich liegt.

Die knackige, trockene Satire ist eher norddeutsch, die grandiose Tatort-Oper eher süddeutsch oder österreichisch, Karnevalsfiguren gehören ins Rheinland – im Südwesten sollte man die Stärken ausspielen, die dort angelegt sind: Hintergründig und ein wenig fies und ein wenig an den feinen Dingen des Alltags orientiert zu filmen. Wenn schon Witzfiguren, dann eher wie Heinz Becker und nicht Medienleute, die bar jeder Glaubwürdigkeit sind. Juliane Köhler, welche die Moderatorin der Sendung „Zielscheibe“ spielte, hat in Köln zum Glück eine wesentlich schönere Rolle in einer On-Off-Beziehung mit Kommissar Max Ballauf.

Anmerkung Nr. 3 anlässlich der Publikation: Ausnahmsweise haben wir kein Titelfoto verwendet, auf dem eine:r der Ermittler:innen zu sehen ist, sondern Juliane Köhler als Moderatorin Petra Odetzki. Anlass war aber vor allem, zu  zeigen, wie kreativ man das Tatort-Logo hier verändert hat. Geht doch. Und war bezüglich der Rechte unproblematisch und gewiss billiger, als etwas ganz anderes entwickeln zu lassen.

5/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)

Kursiv und tabellarisch: Wikipedia

Regie Robert Sigl
Drehbuch Peter Zingler
Musik Frank Nimsgern
Kamera Klaus Peter Weber
Schnitt Biljana Grafwallner-Brezovska
Premiere 14. Okt. 2001 auf Das Erste
Besetzung

 

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