Dietmar Bartsch zieht sich zurück – Ende einer Ära für die Linke und die Anzeichen für die Wagenknecht-Partei mehren sich (Leitkommentar) | Briefing 278 | PPP (Politik, Personen, Parteien)

Briefing 278 | PPP, Die Linke, Dietmar Bartsch gibt den Fraktionsvorsitz im Bundestag auf

Dietmar Bartsch, Co-Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, hat heute verkündet, dass er sein Amt abgibt – nach acht Jahren, in denen er es zunächst neben Sahra Wagenknecht, dann neben Amira Mohamed Ali. Auch sie hatte kürzlich ihren Rückzug erklärt, dazu haben wir nichts geschrieben, wohl aber ist uns der Rücktritt von Bartsch einen Artikel wert. Warum? Noch gestern schien nach einem Bericht alles offen.

Grundsätzlich möchte ich sagen, dass dies für mich ein trauriger Tag ist. Ich bin nicht mehr in der Partei, aber sozusagen mit Bartsch dort sozialisiert worden. Dass ich ihn persönlich kenne, wäre zu viel gesagt, aber ich habe ihn auf Veranstaltungen erlebt. Als einen auffallend freundlichen und zugewandten Menschen, wie ich mir einen Linken im Großen und Ganzen vorstelle, wenn er die Aufgabe hat, eine Partei zusammenzuhalten, die so divergent ist wie die Linke. Sie ist wirklich mehr divergent als divers.  

Ist ihm das gelungen?

Wer zwischen Sahra Wagenknecht und ihren Opponenten im Parteivorstand acht Jahre lang so handelt, dass der Laden noch irgendwie zusammenhält, dem kann man einen großen Erfolg bescheinigen. Er gehört nicht zum Wagenknecht-Lager, wird in diesem aber überwiegend respektiert, das ist geradezu außergewöhnlich.

Und nun ist er erschöpft?

Er ist 65 Jahre alt. Da geht man normalerweise – im Moment noch – in Rente. Sein Wirken als Integrator der Parteiströmungen dauert schon viel länger an als diese acht Jahre, in denen er Fraktionsvorsitzender im Bundestag war. Ob er erschöpft ist, kann ich nicht sagen, mich würde dieser Job schon nach wenigen Monaten kaputtmachen. Aber ich glaube sehr wohl, dass er sich am Ende seiner Möglichkeiten sieht und die Spaltung der Linken nicht mit seinem Namen verbunden wissen will. Das ist mehr als nur sein gutes Recht, das ist das Maß an Selbstschutz, das auch jemandem zusteht, den man im besten Sinne als Parteisoldat beschreiben kann. Immer im Dienst der Linken und der Sache, nie polarisierend, sich nie mit Gewalt in den Vordergrund drängend.

Damit zieht man aber keine Wählermassen an, wie man es Sahra Wagenknecht zutraut, falls sie sich selbstständig macht.

Das hat er auch nicht als seine Aufgabe angesehen. Ich glaube, der Mann kann sich sehr gut selbst einschätzen und hat sich dorthin gestellt, wo er das Meiste für die Linke tun kann. Zugpferde wie einst Gysi und Lafontaine und dann Wagenknecht gab es ja genug.

Und heute?

Wenn Wagenknecht geht, gibt es keine mehr. Da ist ein bitterer Mangel an Charisma zu erkennen und auch das wird Bartsch nicht entgangen sein: Wie soll eine Linke ohne Wagenknecht wieder in den Bundestag einziehen? Wenn Wagenknecht einige Abgeordnete in ihre neue Partei mitnimmt, dann wird sich die Fraktion schon jetzt auflösen. Auch Bartsch hätte bei einer kommenden Bundestagswahl nur wenig Chancen, wieder Abgeordneter zu werden.

Was ist mit seiner Co-Vorsitzenden, die schon vor Tagen ihren Rückzug bekanntgab?

Sie war vor ein paar Jahren noch keine sehr bekannte Person in der Linken, zählt aber zum Wagenknecht-Lager. Fraktionsvorsitz = eher Wagenknecht-Linie, Parteivorsitze eher dagegen, so hat man versucht, die Divergenzen irgendwie auszutarieren. Bartsch war da ein Sonderfall, so muss man es wohl nennen. Es war seine nach innen wohl doch beachtliche Statur, die ihm diesen wichtigen Posten gesichert hat. Ali hat Ihren Rückzug mit dem „Mobbing von SW durch den Parteivorstand“ begründet. Diese Linie kenne ich von engen Vertrauten Wagenknechts. Ali selbst kenne ich nicht, zu ihr als Person mag ich deshalb nichts sagen. Ich kannte auch Angela Merkel nicht persönlich, aber das ist etwas anderes, ihre Politik war für mich beurteilbar. Aber Bartsch hat einen anderen Ton angeschlagen, und das hat mich berührt.

Dürfen wir zitieren? In seinem Schreiben an die Abgeordneten appellierte er an seine Partei: „Viele schwadronieren aktuell wieder über das Ende der Linken. Sie werden sich ein weiteres Mal irren, wenn die Werte, um die wir in der Gesellschaft kämpfen wie Menschlichkeit, Solidarität, Herzlichkeit und viel Lächeln wieder unser Handeln bestimmen und wir zugleich aus der Geschichte linker Parteien die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen.“

Bartsch hat immer wieder vor Gefahren einer Spaltung der Linken gewarnt und Wagenknechts Liebäugeln mit einer Parteigründung kritisiert. Als Wissler und Schirdewan sich im Juni gemeinsam mit dem übrigen Parteivorstand von Wagenknecht lossagten, ließ Bartsch Unterstützung für die Parteispitze erkennen. Linke: Auch Fraktionschef Bartsch gibt sein Amt ab | WEB.DE

Also ist er doch nicht neutral?

Komplett neutral ist niemand, schon gar nicht im Politikbetrieb, aber ihm hat SW seinerzeit vertraut und die andere Seite auch. Dass er Wagenknechts möglichen Move nicht gut findet, ist wohl klar, da steht sein Lebenswerk auf dem Spiel. Und da wird Enttäuschung über Wagenknecht sein, dass sie sich nicht hat in die Partei einbinden lassen. Zur Erinnerung: Sie war es immer wieder, die gegen Parteitagsbeschlüsse opponiert hat, weil sie und ihr Lager auf Parteitagen regelmäßig keine Mehrheiten für ihre Linie finden. So kann man aber in einer Partei, von der man auch profitiert, nicht handeln. Wagenknecht war sich aber immer zu gut dafür, in der Partei selbst zu werben und zu organisieren, zum Beispiel mehr Funktionsträger:innen, mithin auch Parteitagsdelegierte, für sich zu rekrutieren. Sie meinte, es reicht aus, in den Medien von außen nach innen zu wirken und dabei so brillant zu sein, dass man ihr doch einfach folgen muss. Was das bei Menschen auslöst, die weniger selbstdarstellend sind und mehr für die Partei tun, lässt sich ausmalen. Umgekehrt: Von den Gruppierungen dort hat eigentlich nur die Kommunistische Plattform sie zuletzt noch unterstützt, in der sie ja früher auch Mitglied war, und die ist auch nur eine Minderheit in der Partei.  

Wenn man die politische Vita von Bartsch liest, ist sie aber alles andere als frei von Kontroversen und auch von Anekdoten: Dietmar Bartsch – Wikipedia

Es hat mich auch etwas erstaunt, in was er schon verwickelt war, aber ich fürchte, das ist in der Linken fast unumgänglich. Die Partei hat etwas Neurotisches. Da sind zu viele intelligente Menschen zusammen, die sich untereinander nicht gut vertragen. Wenn ich mir Bartsch und diejenigen, mit denen er sich schon auseinandergesetzt hat, anschaue, beschleicht mich aber das Gefühl, dass er eher versucht hat, sich irgendwie zu verteidigen und abzusichern. Die Spaltung, die seit Jahren für alle sichtbar ist, die ein bisschen in den Laden hineinschauen konnten, hat er aber nicht maßgeblich provoziert und ist wohl außerdem immer mehr auch an seinen Aufgaben gewachsen. Unstrittig ist in der Linken eigentlich niemand, dafür ist das Spektrum an Meinungsverschiedenheiten und persönlichen Animositäten zu groß.

Ist deshalb eine in ihrem Sinne stromlinienförmige Wagenknecht-Partei nicht sogar gut für die Linke?

Bei den Bundestagswahlen 2021 hatte sie keinen positiven Einfluss mehr auf das Wahlergebnis, das ist meine feste Überzeugung. Man sah es auch dort, wo sie im Westen persönlich angetreten ist. 2017, als die mit Bartsch zusammen Spitzenkandidatin war, war das noch anders, obwohl viele enttäuscht waren, weil sie der Linken ein zweistelliges Ergebnis zutrauten (Anm: Im Jahr 2017 gewann die Linke bei den Bundestagswahlen 9,2 Prozent der Stimmen, 2021 nur noch 4,92 Prozent und ist nur wegen dreier Direktmandate, zwei in Berlin, eines in Leipzig, als Fraktion im Bundestag vertreten).

War der Abgang von Bartsch tatsächlich, wie er sagt, schon länger geplant, oder gab es einen Auslöser?

Bartsch hat schon seit Jahren sehen müssen, dass die Linke nicht mehr vorwärtszubewegen ist, sondern zwischen den Lagern festgefahren. Insofern ist es keine Überraschung, dass er den Rückzug schon länger ins Auge gefasst hatte. Aber jetzt, wo sich die Gründung der Wagenknecht-Partei nähert, ist sicher der letzte mögliche Zeitpunkt, ohne das Gesicht zu verlieren.

Nähert sich diese Gründung wirklich?

Sie setzt voll auf Konfrontation. Sogar aus dem eigentlichen Urlaub meldet sie sich mit Freude darüber, dass die ukrainische Gegenoffensive nach ihrer Ansicht nicht vorangeht. Ob das so ist, besprechen wir an anderer Stelle, aber mich stört diese unverhohlene Häme und Menschen wie Bartsch stört sie ganz sicher mindestens ebenso sehr. Anhand von Äußerungen aus ihrem engen Unterstützerumfeld in den sozialen Medien meine ich ablesen zu können, dass diese Parteigründung tatsächlich bevorsteht. Sie gehen den Konfrontationskurs zu ihrer eigenen Partei vollumfänglich mit, das würden sie nicht tun, wenn sie glaubten, noch lange auf diese Partei angewiesen zu sein. Sicher wurde das alles ausführlich diskutiert und schon einmal hat man es letztlich nicht gemacht, mit „Aufstehen“ im Jahr 2018. Aber wenn sie es nicht bald macht, wird es schwierig. Noch ist das Momentum gut. Sie kann aber nicht hoffen, dass die Umstände immer günstiger werden, genau wie für die AfD, die es aber schon gibt und dies davon also real profitiert.

Das heißt, der Rückzug von Bartsch hat in erster Linie doch mit der kommenden Wagenknecht-Partei zu tun?

Ich denke, ja. Wer es wollte, konnte das lange vorhersehen. Ich glaube, ich hatte mich 2017 erstmals mit einem Verdacht in diese Richtung (intern) geäußert. Also schon kurz nach der Bundestagswahl, die doch recht erfolgreich gelaufen war. Ich fand es damals schon schwierig, dass die Wagenknecht-Anhänger den Parteivorstand auch deswegen angingen, weil sie der Ansicht waren, dieser (Katja Kipping und Bernd Riexinger zu der Zeit) hätte ein solches Ergebnis nie erzielt. Mag schon sein, aber daraus kann man nicht ableiten, sich komplett über die Partei stellen zu dürfen. Man erzielt den Erfolg für diese Partei oder man macht sein eigenes Ding. Allerdings hat mich das Lesen von Bartschs Parteivita ein wenig nachdenklich gestimmt. Was ich kennengelernt habe, war wohl nicht das, was zehn oder fünfzehn Jahre zuvor schon so deutlich war. In die Position als Erhalter unter Spaltern ist er also erst mit der Zeit hineingewachsen. Trotzdem ist es heute zu einem nicht geringen Teil sein Verdienst, dass die Linke noch nicht auseinandergefallen ist. Ich glaube auch, dass unabhängig von den unterschiedlichen Positionen die persönliche Aversion zwischen Wagenknecht und ihm nicht so groß war wie zwischen ihr und anderen. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die letzten Jahre, dass sie mit fast allen Führungspersönlichkeiten über Kreuz liegt. Die Personen mögen wechseln, die Gräben bleiben. Da kann ein Bartsch alleine nicht mehr viel ausrichten.

Was bleibt?

Persönlich ist da großes Bedauern, aber auch Einsicht. Es war absehbar. Man muss wissen, wann man das sinkende Schiff verlässt oder sich wenigstens beim Wasser abpumpen nicht mehr in die erste Reihe stellt, wenn man merkt, dass die Pumpen es nicht mehr schaffen. Auch sein Abgang ist also für mich ein Indiz dafür, dass die Wagenknecht-Partei Realität werden wird. Was bleibt, ist, dass es nicht möglich war, diese Partei zu erhalten. Also vom Lebenswerk nicht wirklich viel. Vielleicht wird man sogar einmal festhalten, dass es keine gute Idee war, immer wieder Kompromisse finden zu wollen, wohl wissend, dass damit niemand zufrieden war. Das hat die Linke erheblich gelähmt. Wenn sie noch eine Chance hat, neben der Wagenknecht-Partei, dann die, moderne und kohärente linke Politik für Menschen zu machen, denen die Grünen zu wenig sozial und zu bürgerlich sind, die aber keine Putinisten oder Sozial-Nationalisten sind. Für Menschen wie mich? Nun ja, ich sehe das Klassenkämpferische (im modernen Sinne gemeint) nicht, das war übrigens auch nicht Bartschs Betritt. Vielleicht erlebe ich das noch, dass diese Trennung letztlich eine Katharsis war und alle danach befreit aufatmen, auch wenn die Linke bis 2025 kaum so weit sein dürfte, den Einzug in den Bundestag schon wieder ohne das gesamte Wagenknecht-Lager zu schaffen. Oder, sagen wir mal, nur unter sehr günstigen Umständen, etwa, indem es wieder zu mindestens drei Direktmandaten kommt und niemand der aussichtsreichen Kandidat:innen den Wechsel zur W-Partei vollzieht. Da wird auch der alte Gregor (Gysi) nochmal ranmüssen. Die Linke hat etwas, aber nicht alleine, was sie aber beim Wiederaufstieg mehr bremsen wird als große Parteien: Probleme, Personen nach vorne zu bringen, die Wähler:innen anziehen. Eigentlich ist das bei einer Programmpartei ja auch nicht gewollt, aber beim aktuellen Niedergang wäre es schon toll, wenn es mehr Menschen wie Wagenknecht gäbe, die ihr auch etwas entgegenhalten könnten.

Reden wir die Linke nicht tot und knabbern damit an der Abschiedsempfehlung von Dietmar Bartsch.

Was hätte er denn schreiben oder sagen sollen? Die Linke ist tot, auch wenn ich versucht habe, es zu verhindern, und man reitet keinen toten Gaul? Außerdem hat er in einer Weise recht: Linke Politik ist nicht tot, im Gegenteil. Wenn die Mehrheit der Wähler:innen ein bisschen an ihrer politischen Edukation schraubt, wird sie erkennen, wie wichtig linke Politik gerade in diesen notabene schwierigen Zeiten ist. Das Vermächtnis bleibt, dass es unter Bartschs innerer Führung eine Partei gab, die erkennen ließ, was möglich wäre und auch deutlich gemacht hat, wie man es nicht aufziehen darf, ohne sehr viele Wähler:innen zu verlieren. Dass das passiert ist, konnte Bartsch nicht verhindern, weil er eben nicht im Stil von Wagenknecht über die Medien auf sie Einfluss nehmen wollte oder konnte. Mein Eindruck ist, dass die Karten ohnehin neu gemischt worden wären. Die Linke wird ohne den Joker Bartsch auskommen müssen, den sie ziehen konnte, um die Spaltung hinauszuzögern. Vielleicht ist auch alles richtig so. Es war wichtig, für den Erhalt zu kämpfen und ist richtig, jetzt endlich einen Schlussstrich zu ziehen. Das, was man in den letzten Jahren beobachten musste, war quälend genug. 

Noch gestern hieß es im oben verlinkten Artikel, die Aussage stammt von Linken-Bundesgeschäftsführer Tobias Bank: „Ich bin mir sicher, er wird gemessen an den Rahmenbedingungen eine kluge und angemessene Entscheidung treffen. Und mir fällt auf Anhieb auch niemand ein, der die nötige Erfahrung hat, nach innen und nach außen die nötige Integrität und Autorität hat und über Parteigrenzen hinweg so anerkannt ist.“  

Jetzt ist es eine Art Nachruf geworden. Einen Parteikonvent soll es demnächst geben, um die Linke irgendwie zu retten. 

Ob man dort etwas erreicht, was man auf den Parteitagen nicht hingekriegt hat, wird sich zeigen. Vielleicht tritt das Wagenknecht-Lager gar nicht mehr auf, weil es sowieso schon im Vorfeld wieder heißt, wir werden von den  Mainstream-Funktionär:innen gemobbt und majorisiert. Wenigstens muss Bartsch nicht mehr die Moderation versuchen, wenn er nicht mag. Ich sehe dazu keine Verpflichtung mehr und die Möglichkeit zu etwas mehr Distanz gönne ich ihm.

TH

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