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Liebe unter Eis
Der Eissturm ist ein Spielfilm des taiwanischen Regisseurs Ang Lee aus dem Jahr 1997 nach dem gleichnamigen Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Rick Moody. Das von den Filmstudios Fox Searchlight Pictures, Good Machine und anderen produzierte Werk wird dem Independentfilm zugeordnet.
Als Kritiker 1997 schrieben, „Der Eissturm“ sei das beste Werk von Regisseur Ang Lee, hatte er einige beste Werke freilich noch nicht geliefert, wie „Gefahr und Begierde“, immer noch mein persönlicher Favorit oder „Brokeback Mountain“, der objektiv sicher mindestens genau so hoch einzuschätzen ist. „Sinn und Sinnlichkeit“ fand ich wunderbar und staunte über die Einfühlung des taiwanesischen Regisseurs in dieses urenglische Szenario des frühen 19. Jahrhunderts, die den Werken von James Ivory m. E. nicht nachsteht, auch wenn diese meist in einer etwas jüngeren Epoche angesiedelt sind. Warum ich mich auf „Sinn und Sinnlichkeit“ beziehe und auf „Gefahr und Begierde“ und etwas mehr zum Film, ist in der – Rezension nachzulesen.
Handlung
Neuengland im November 1973. Zur Zeit des Vietnamkrieges und der Watergate-Affäre experimentiert der 16-jährige Paul Hood im Internat mit Drogen und hat sich unsterblich in seine attraktive und intelligente Mitschülerin Libbets Casey verliebt. Weil die sich nur für seinen Zimmerkollegen und Mädchenschwarm Francis interessiert, flüchtet sich der schüchterne und immer noch jungfräuliche Paul in die Fantasiewelt der Comics. Besonders angetan ist er von den Abenteuern der Fantastischen Vier. Die Superhelden-Familie hält noch in der ausweglosesten Situation zusammen, ganz im Gegensatz zu seiner eigenen, die zu zerbrechen droht.
Pauls Vater Ben unterhält eine Affäre mit der attraktiven Frau des angeblich stets auf Geschäftsreisen weilenden Nachbarn. Pauls unnahbare Mutter Elena ist Einzelgängerin und fühlt sich an ihre eigene Kindheit erinnert, als sie ihrer Tochter Wendy beim Radfahren zusieht. Sie setzt sich selbst wieder aufs Fahrrad und lässt in der örtlichen Drogerie sogar Lippenstifte mitgehen. Vor Freunden halten Ben und Elena den Schein jedoch aufrecht und mimen das harmonische Paar, das den einzigen wirklichen Streit darüber geführt hat, ob die Paartherapie wieder aufgenommen werden soll. Pauls jüngere Schwester Wendy, die er nur mit „Charles“ anspricht, verurteilt Kriege und den US-Präsidenten Nixon, sie nennt ihren Vater schon mal einen „Faschisten“ und fühlt sich von den pubertierenden Söhnen der Nachbarsfamilie Carver angezogen. Mit dem ständig geistesabwesenden Mikey lässt sie sich auf erste sexuelle Erfahrungen ein, während sie den jüngeren Sandy, ein Fan von Militärspielzeug und Sprengstoff, heimlich begehrt.
Als Paul über das Thanksgiving-Wochenende zu seiner Familie in das vorstädtische New Canaan, Connecticut, fährt, kommen die lange schwelenden Konflikte an die Oberfläche. Wendy verärgert ihren Vater, als sie zum Fest beim Tischgebet eine lange Hasstirade ablässt, unter anderem über die Tötung und Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner. Janey Carver zeigt offen, dass sie von der Affäre mit Ben gelangweilt ist, und serviert ihn eiskalt ab. Gleichzeitig findet Elena heraus, dass ihr Ehemann sie betrogen hat, als dieser davon berichtet, wie er seine Tochter beim gemeinsamen Liebesspiel mit Mikey im Hause der Carvers ertappt hat. Als der Wetterbericht vor einem schweren Wintersturm mit Eisregen warnt, macht sich Paul auf den Weg nach New York, um den Rest der Thanksgiving-Ferien mit Libbets zu verbringen – in der luxuriösen Wohnung ihrer Eltern. Pauls Eltern brechen zur selben Zeit zu einer Party auf. Während ein schwerer Eissturm über die Region hereinbricht, fühlt sich Elena von lauter Intrigen umgeben. Sowohl sie als auch Ben müssen feststellen, dass es sich bei der Veranstaltung um eine sogenannte „Schlüsselparty“ handelt. Auf dem Höhepunkt der Sexuellen Revolution fischen die Frauen am Ende der Party einen der Autoschlüssel der Männer aus einer Schale heraus, um sich von dem Auserwählten nach Hause fahren zu lassen und dann den freien Partnertausch zu zelebrieren. (…)
Rezension
Es vergeht immer eine gewisse Zeit, bis Ang Lee wieder einen Film macht, und dann ist er ganz anders als der vorhergehende. Ein modernes Chamäleon des Kinos zu sein, kann wiederum etwas Programmatisches haben: Wie gut fühle ich mich in einen Stoff, eine Epoche, eine Kultur ein? Ang Lee ist einer der größten Meister des Films auf diesem Gebiet. Dass ein Stoff, der in China spielt, wie „Gefahr und Begierde“, authentisch und zugleich für die Zeit, in welcher er spielt, sehr stylisch wirkt, ist kulturell leicht nachvollziehbar, in Verbindung mit Ang Lees großartigem filmischen Auge, das uns immer etwas zuflüstert, was die Figuren höchstens rudimentär erahnen, wenn sie seine Werke bevölkern. Es wirkt selten aufdringlich, im Falle der hier dargestellten frühen 1970er brechen sich verschiedene stilistische Elemente. Da ist die minutiös nachgebildete Mode, bei den Autos gibt es ebenfalls keine Anachronismen (ein paar kleinere schon, die Wikipedia listet sie, dafür muss man aber sehr genau hinschauen und sich z. B. mit Militär-Spielzeug auskennen) einerseits. Andererseits die Farben des Films, die mich in die Irre führten.
Ich schaue, wenn ich nicht sowieso Bescheid weiß, erst nach dem Anschauen eines Films, wann und unter welchen Umständen er entstanden ist und hätte dieses Werk klar in den 2000ern, wenn nicht sogar in den früheren 2010ern verortet, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass Tobey MacGuire und Christina Ricci fast noch Kinder sind. MacGuire wurde einige Jahre später mit den Spiderman-Filmen weltberühmt, wie wir wissen. Auch sonst ist der Film hochkarätig besetzt, mit Kevin Kline und Sigourney Weaver beispielsweise. „Der Eissturm“ folgte aber direkt auf „Sinn und Sinnlichkeit“, der auch ein ausgemacht hübsches Produkt der Romantikwelle der 1990er ist und ist für seine Zeit herausragend modern, nämlich etwas verdeckt, stellenweise sogar düstermelancholisch, in seiner Visualität. Und die 1970er sind zwar gestrickt, die Kleidung hat auslandende Formen, aber die Gefühle geraten unter Eis und erst am Schluss taut es. So analysierend, nicht aber sezierend, hat selten jemand diese Zeit gefilmt.
Ang Lee hat hier keine Nachbildung geschaffen, kein Revival und schon gar nichts Nostalgisches, sondern ein distanziertes, aber immer verständnisvolles Sittengemälde einer Kultur, die in den frühen 1970ern auf den ersten Blick noch hoffnungsvoll, in Wahrheit aberkorrumpiert war und die weitere Entwicklung, die konservative Gegenrevolution schon vorausahnen lässt. Die sexuelle Revolution erschöpft sich schon in hässlichen Ritualen wie den Schlüsselpartys, gleichzeitig bricht das politische System in seiner Verworfenheit sich Bahn in die Haushalte des geistig ziemlich abwesenden Mittelstands, vor allem, weil das Fernsehen immer mitläuft.
Die Reaktion kommt aber von wachen Kindern, nicht von den Erwachsenen, von jungen Menschen, die unverstellt kommentieren, was sie abscheulich finden. Wendy tut es nur verbal, Sandy, zu dem sie sich hingezogen fühlt, sprengt sein Kriegsspielzeug in die Luft, das ihm politisch eher ignorante Eltern geschenkt haben. Der mittlere, der obere Mittelstand und ein wenig sogar die Upper Class werden gezeigt, die Formen der Einrichtung sind verschieden, aber die Mentalität immer ähnlich, ohne dass die Individualität der Figuren hinter dieser gesellschaftlichen Uniformität verschwinden würde. Ob etwas altbackene Traditionalität, designerische Avantgarde, wie es sie im Osten, wo der Film spielt, manchmal gibt, ob überladene Pracht, das Gemeinsame ist hier stärker als das Trennende, denn es geht nicht um einen sozialen Kommentar, sondern um eine Reise durch die Geisteswelt einer Nation, die sich zunehmend mehr von sich selbst abspaltet. Ang Lee hat das auch in den so flauschig wirkenden 1990ern gut herausgespürt und auch deswegen wirkt „Der Eissturm“ so modern.
Leider habe ich in Berlin noch kein Schauspiel dieser Art erlebt, wohl aber in meiner Heimat und etwa im Alter der jugendlichen Figuren, oder etwas früher. Was wir hier auf der vereisten Straße sehen, wo der Junge, der alsbald tragisch versterben wird, rücklings herumrutscht, kenne ich von Hängen, die zuerst beschneit und dann beregnet wurden, der Regen gefror zu Eis und machte Schlittenfahrten mit einer geradezu mörderischen Geschwindigkeit auch dort möglich, wo es normalerweise zu flach dafür war. Einhergehend natürlich diese verzauberten Baumeiswelten, die man auch im Film sieht und die etwas absolut Faszinierendes haben. Hier stehen sie wohl für Gefühle, die unter Eis knarzen und die Eruption kommt in Form der brechenden Überlandleitung, die den Tod des Jungen verursacht, weil er, trotz seiner Liebe zur Physik, nicht damit rechnet, dass das Kabel gegen die Leitplanke schlagen könnte, auf welcher er sich niedergelassen hat, um das Schauspiel zu beobachten.
Das Wandeln durch einen Traum, wie nur ein zurückgezogen-versponnener Jugendlicher ihn träumen kann, endet nicht im Erwachen, sondern damit, dass eine unerkannte, obwohl für den Zuschauer deutlich wahrnehmbare Gefahr den frühen Tod bringt. Aber wir, die Zuschauer, dürfen ja mehr wissen, das ist unser Privileg gegenüber Ang Lees Figuren, das uns der Regisseur einräumt, sodass wir nicht umherirren durch seine Filme wie die Figuren darin durch ein Leben, das, zumindest in diesem Film, ein wenig amorph wirkt.
Finale
„Der Eissturm“ ist lyrisch, schön gefilmt, an einer Stelle schockierend und immer wieder berührend, ohne es dabei zu übertreiben, denn er will uns ja nicht dahinschwimmen lassen, sozusagen aufgetaut mit dem Eis, sondern auf einem angemessenen Abstand zum Geschehen halten, damit wir die Botschaft nicht aufgrund zu heftiger Emotionen verpassen. Selbst die Schlussszene, in der es zu einem Tränenausbruch des Familienoberhaupts kommt, hat mich auf eine stille und verständnisinnige Weise berührt, die so etwas wie eine Kumpanei mit den Figuren und der Intention des Regisseurs schafft, aber nicht die vollständige Demission des Verstandes, der die treffsichere Inszenierung von Familie fast zwei Stunden lang genießen und bewundern durfte.
Anlässlich der Veröffentlichung des Beitrags muss ich etwas nachschieben, obwohl der Entwurf noch nicht alt ist: In den 1990ern war die Bildsprache durchaus differenzierter und weiter in Bezug auf die heutige Zeit, als ich das aufgrund der Konzentration auf prächtige kinematografische Werke in Goldtönen lange Zeit vermutete. Insofern ist“Der Eissturm“ fortschrittlich, aber nicht einzigartig. Der Bewertung tut das keinen Abbruch.
83/100
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Rezension 2022)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Ang Lee |
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| Drehbuch | James Schamus |
| Produktion | Ted Hope, Ang Lee, James Schamus |
| Musik | Mychael Danna |
| Kamera | Frederick Elmes |
| Schnitt | Tim Squyres |
| Besetzung | |
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