Blutwurstwalzer – Tatort 248 #Crimetime 1170 #Tatort #Berlin #Markowitz #SFB #Blutwurst #Walzer

Crimtime 1170 – Titelfoto © SFB / RBB, Kindermann

Regretter – pourquoi?

Blutwurstwalzer ist eine Folge der ARD-Krimireihe Tatort. Die vom Sender Freies Berlin (SFB) produzierte Episode wurde erstmals am 22. September 1991 in der ARD ausgestrahlt. Es handelt sich um den dritten Fall mit Kriminalhauptkommissar Franz Markowitz, der es mit einem Mord an einem jungen Mann im Milieu von Waffennarren im Umfeld einer Kneipe zu tun hat. Die Folge ist mit 117 Minuten Spieldauer eine der längsten der Tatort-Geschichte.

Als wir den Titel lasen, dachten wir, dies sei ein Tatort vom Bayerischen Rundfunk, jedenfalls klang Wurst und Walzer irgendwie südddeutsch. Aber der Blutwurstwalzer ist ein Lied der Fremdenlegion und der Tatort spielt in Berlin. Und obwohl die Stadt so schnell sein will, hat der Tatort 248 eine Länge von 117 Minuten – Rekord unter denen, die wir bisher rezensiert haben. Beim Schreiben über „Berlin – beste Lage“ dachten wir noch, es sei eine Ausnahme, dass ein Tatort fast 100 Minuten lang ist, aber die Hälfte aller Berliner Fälle der Markowitz-Ära hat eine Laufzeit von mehr als 95 Minuten und damit, gemessen am „Grundmaß“ der heute aus Gründen des Programmschemas stets einzuhaltenden 88-89 Minuten Überlänge. Hat fast eine halbe Stunde mehr Spielzeit sich ausgezahlt oder wurde der Film dadurch zu langatmig? Dies und mehr besprechen wir in der –> Rezension

Handlung

Kommissar Markowitz hält sich zur Nachbehandlung einer überstandenen Gallenoperation im Krankenhaus auf. In sein Zimmer wird ein junger Mann mit Verletzungen gelegt, die angeblich von einem Fenstersturz herrühren. Noch in derselben Nacht flieht dieser Patient und wird wenig später ermordet aufgefunden.

Die besonderen Umstände und seine eigene, ungewollte Beteiligung wecken das Interesse des Kommissars an diesem Fall. Er findet Alex, den Freund des Opfers, und lernt über ihn ein merkwürdiges Lokal kennen, in dem sich ehemalige Fremdenlegionäre und auf verquaste Weise vom großen Abenteuer träumende Jugendliche treffen.

Markowitz ahnt, dass Alex ihm wichtige Informationen verschweigt, um den Tod seines Freundes auf eigene Faust zu rächen. Aber alle Versuche, sein Vertrauen zu gewinnen, scheitern – und so gerät Markowitz im Bemühen, dem Jungen zuvorzukommen, in einen Wettlauf mit fatalem Ausgang.

Rezension  

Wenn so viele Markowitz-Fälle Überlänge haben, muss  System dahinterstecken. „Blutwurstwalzer“ erläutert mit am besten, warum man das so gemacht hat: Die Milieuzeichnung ist spielfilmreif und so exakt, dass man wohl dachte, in 90 bzw. 88 Minuten sei das unmöglich zu leisten. Dadurch wirken die Berliner Tatorte um 1990 genau umgekehrt wie die Zeit, in der sie gedreht wurden: Nicht rasant, umbruchhaft und hektisch, sondern von einer Ruhe geprägt, die sehr gut zu Markowitz passt – und vielleicht zum alten Westberlin, das wir nicht live erlebt haben (unser erster Besuch in der Stadt datiert auf 1994, wir wohnen hier seit 2007).

Gewissermaßen sind die Tatort, und das war sicher auf Betreiben Günter Lamprechts zurückzuführen, der als Starschauspieler einen für die Verhältnisse der damaligen Zeit großen Einfluss auf seine Fälle hatte, Protest-Filme gegen den Zwang zur Hochbeschleunigung auf bisher unbekanntes Tempo – zumindest, wenn man die Zeit nach dem  Zweiten Weltkrieg zugrunde legt. In den 1920ern war Berlin sicher eine der rasantesten Städte der Welt und um 1900 eine der dynamischsten.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2023: Siehe Babylon Berlin, dessen Handlung natürlich überwiegend fiktional ist, aber trotzdem einen instruktiven Eindruck vom Berlin jener Jahre vermittelt.

„Blutwurstwalzer“ hatte auch keinerlei Bezug zur Maueröffnung, zur gerade erfolgten Wiedervereinigung, blendet alles aus, was die Westberliner Gemütslage hätte in Wallung bringen können. Trotz der Schilderung eines ziemlich tristen Milieus ist der Film auch eine Oase für Berlin-Nostalgiker. Erst mit dem nächsten Tatort „Berlin – beste Lage“ kam die neue Zeit anhand von Machenschaften bei der Sanierung des baufälligen zentralen Ostteils der Stadt ins Spiel. Wir haben den letzten Höhepunkt dieser Phase gerad enoch mitlerlebt, kurz vor dem Bankencrash 2008, der die Investoren erst einmal ausbremste.

Das ist ein ganz anderer Schnack als die Welt der Kleingauner, in der „Blutwurstwalzer“ ausschließlich angesiedelt ist. Die einzige Verbindung nach außen ist Franz Markowitz, denn er begegnet dem Opfer eines Eifersuchtsdramas auf der Krankenstation, bevor dieses endgültig dahinscheidet. Der Film beweist, dass Parallelwelten nicht erst durch die OK in Form von „Clans“ entstanden sind, sondern dass es sie immer schon gab. Die meisten Berliner werden mit Leuten wie Alex, Hansi oder Randy nie etwas zu tun gehabt haben, auch nicht 1990. Aber sie gehören zu dieser Stadt, die ja auch ein Refugium für Sonderlinge war und in der man gerade durch die Mauer so frei leben konnte wie sonst nirgendwo in Deutschland. Verglichen mit dem heutigen Konformitätszwang durch fortschreitende Kapitalisierung war jenes Berlin eine Wundertüte, aus der immer wieder die verrücktesten Charaktere gezogen werden konnten.

Etwas in der Art wie in „Blutwurstwalzer“ hatten wir im Sinn, als wir den späteren Berlin-Tatorten mit Ritter und Stark den Vorwurf nicht ersparen konnten, zu glatt, oberflächlich, sehr steril  zu sein. Anders als unsere Wahrnehmung der Kiezstadt. Wir haben schon viele Leute getroffen, die wir uns als Alex, Hansi, Randy vorstellen könnten; ihre Art, von der Hand in den Mund zu leben, den Tag zu stehlen und die Nacht über wilden Sex zu haben oder wilde Eifersucht zu empfinden. Nichts mehr davon in den neueren Hauptstadt-Tatorten, die bezüglich der Figurenzeichnung wirklich ganz kleine Berliner Bärchen geworden sind.

Anmerkung 2 anlässlich der Veröffentlichung des Textes: 2015 müssten wir aber schon die zum Schluss aufstrebende Entwicklung des Teams Ritter und Stark reflektiert haben.

Wenn man so will, spiegeln sie aber das wieder, was mit der Stadt geschieht, wenn auch nicht im Maßstab Eins zu Eins. So kommt es, dass man mit „Blutwurstwalzer“ eintaucht in eine eben doch fremde Welt verprfuschter Existenzen, die aber viel lebendiger wirken als die Großstadtmarionetten heutiger Prägung. Da wird geklaut, was das Lager hergibt, da tricken alle einander aus und genau dadurch sind sie lebensfähig: Ungebildete, aber schlaue Großstadtratten, die nur dann außer Tritt geraten, wenn ihnen die Emotionen durchbrennen und damit die Sicherung, die bisher verhindert hat, dass sie zum Beispiel Brandanschläge auf Kameraden verüben. Das Sterben wird auf eine Weise zelebriert, die klar macht, warum dieser Tatort erst ab 22 Uhr wiederholt wird: Ein Totentanz mit Humor-Einsprengseln, wie sie ohnehin diesen Tatort auf einer beinahe unterschwelligen Ebene begleiten.

Waffennarren sind sie auch und der Film bekommt etwas Tragisches durch den Traum von der Fremdenlegion. In der Kneipe von Bannasch (Heinz Hoenig) treffen sich die echten Legionäre und diejenigen, die gerne welche sein wollen, eine Transvestitin gibt „Non, je ne regrette rien“ von Édith Piaf. Herrlich, obwohl „Mon Légionnaire“ auch gut gepasst hätte. Oder? Das Lied ist wohl eher auf diejenigen gemünzt, die wirklich da draußen in Afrika waren und es wohl nicht bereuen, insofern stimmt es schon (außerdem gibt es von „Mon Légionnaire“ keine tontechnisch „moderne“ Version, sodass der Karaoke-Auftritt noch künstlicher gewirkt hätte). Die klaren Strukturen, die Kameradschaft, das Söldnertum an sich. Und die anderen versuchen, sich da hineinzudenken und wie es wäre, indem sie schon mal die Waffen putzen und auseinander- und wieder zusammenbauen und natürlich im Keller des Lokals einen kleinen Schießstand haben.

Aber klein wie der Schießstand ist denn auch das Leben der meisten, die hier zugange sind. Eigentlich aller, die Sprechrollen in „Blutwurstwalzer“ haben. Der Möchtegern-Chef und Macho, der auch wirklich brutal sein kann, der Sidekick, der junge Träumer, der sich zur Hauptfigur mausert – und zwischen allen die Geliebte oder Hure der Kompanie, mit der kleinen, aber wichtigen Abweichung, dass der Chef denkt, sie gehöre ihm allein, ein Irrtum, der die Handlung ins Rollen bringt, als der Mann diesen Irrtum bemerkt.

Wir haben den 248. Tatort zu einem kritisch späten Tageszeitpunkt geschaut und nach einem besonders stressigen Tag, normalerweise wären wir wohl weggenickt und hätten neu ansetzen müssen. Am Ende hat’s zwar etwas genervt, dass wir einfach nicht ins Bett kamen, weil der Film sich immer weiter abspulte, weit über die üblichen 90 Minuten hinaus, aber – wir sind eben nicht eingeschlafen, und das sagt einiges darüber aus, wie interessant die Figuren für uns waren.

„Blutwurstwalzer“ ist ein Howcatchem, und diese Plotanlage schätzen wir deshalb, weil sie eben solche grandiosen Figuren erlaubt. Es ist nicht erforderlich, alles in der Schwebe zu halten, um den Täter nicht zu früh durchscheinen zu lassen, mithin also die Figuren zurückzunehmen, sie auszubalancieren. So ist es möglich, dass Darsteller wie Ralf Richter oder der junge Jürgen Vogel so eindrucksvoll spielen können wie hier. Für uns einer der am besten gespielten Tatorte aus über 400, die wir schon gesehen haben (Anmerkung 2023: Stand 2015, im „neuen“ Wahlberliner, der seit Mitte 2018 aktiv ist, haben wir bereits die oben erwähnten 1170 Rezensionen veröffentlicht, weit überwiegen zu  Tatorten). Alles, was wir sehen, wirkt so echt, dass es schmerzt. Momente der Aggression, der Gefahr, brutale Szenen, da ist nichs, aber auch gar nichts Überzeichnetes, wenn man von der kurzen Taktung absieht, in der die Handlungselemente aufeinander folgen – so ist aber Film. Man empfindet eine beachtliche Authentizität der Charaktere, ohne sie überprüfen zu können.

Manches mag ein wenig zu viel des Guten sein, wie die Trinkszene mit dem Amerikaner, die wohl noch einmal illustrieren soll, wie jede Tour, die in diesem Film gedreht wird, eine krumme ist. Auch das Zusammentreten von Markowitz durch Rechtsradikale am Eingang des U-Bahnhofs Ullsteinstraße trägt zum Fall höchstens insofern bei, als man diese Typen mit den strukturell ähnlichen Figuren des Films abgleichen kann und eben die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen den Möchtegern-Legionären und den echten Nazis erkennt. Auch Markowitz‘ Ermittlungen aus der liegenden Position und dem Krankenzimmer heraus sind einer von diesen Standards, die eben doch von der Realität wegführen – warum nur? Das hätte man anders lösen können, auch wenn es wiederum reizvoll  ist, Markowitz mit dem nahen Tod konfrontiert zu sehen, in Person eines Zimmergenossen, dessen Körperfunktionen bereits verdächtig nachgelassen haben.

Viele unsinnig wirkende Aktionen der Figuren hingegen sind nicht unsinnig im Kontext des Films, der Typen zeigen will, die sich gut durchschlagen können, sich dann aber letztlich doch gegenseitig und selbst im Wege stehen.

Finale

Von den Markowitz-Fällen, die wir bisher gesehen haben, ist „Blutwurstwalzer“ der beste, auch wenn alle Filme aus dieser Zeit sich dadurch auszeichnen, dass mehr Wert auf die Charaktere gelegt wird, als es später der Fall war – und obwohl es dieses Mal keinen Jazz zu hören gibt, wenn Markowitz ins Bild kommt.

Bei etwa fünf Filmen ist es allerdings nicht so schwer, der beste zu sein, daher gehen wir ein Stück weiter und proklamieren „Blutwurstwalzer“ zu einem der besten Berlin-Tatorte, die wir bisher anschauen durften. Für uns ist er auf gleichem Niveau, wenn auch völlig anders in der Ausstrahlung, wie „Gegen den Kopf“, das späte Meisterstück der gerade im Abgang befindlichen Kommissare Ritter und Stark. Daher:

8,5/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Regie Wolfgang Becker
Drehbuch Horst Johann Sczerba
Musik Kai Reinhardt
Kamera Martin Kukula
Schnitt Dagmar Bläsing (als Dagmar Blaesing)
Premiere 22. Sep. 1991 auf Deutsches Fernsehen
Besetzung

 

 

 

 

 

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