Little Boxes – Polizeiruf 110 Episode 407 #Crimetime Vorschau #Polizeiruf110 #Polizeiruf #München #Blohm #Eden #BR

Crimetime Vorschau – Titelfoto © BR / Ariane Krampe Filmproduktion, Hendrik Heiden

Little Boxes ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Polizeiruf 110. Der vom Bayerischen Rundfunk produzierte Beitrag ist die 407. Polizeiruf 110-Episode und soll am 17. September 2023 im Ersten ausgestrahlt werden. Die Münchner Ermittlerin Cris Blohm ermittelt in ihrem ersten Fall.[1]

Es war Zufall, dass ich gestern einen älteren Münchner Polizeiruf gesichtet habe: „Die Prüfung“ aus dem Jahr 2005, mit Edgar Selge und Michaela May als Ermittlerduo Tauber und Obermaier. Einige der älteren Polizeirufe fehlen noch im „Crimetime“-Rezensionsportfolio.

Damals wurde der Münchener Polizeiruf richtig gut und konnte seine Stellung als qualitativ beste Schiene der Reihe mit dem Nachfolger von Meuffels (Matthias Brandt) halten. In seine Fußstapfen wiederum trat Verena Altenberger, mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht. Eine richtige Ära wurde aus ihren Einsätzen nicht. Nun übernimmt Johanna Wokalek, mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht. Leider kann ich Verena Altenbergers Wirken nicht komplett beurteilen, weil wir während ihrer Zeit die Direkt-nach-der-Premiere-Rezension neuer Tatorte und Polizeirufe vorerst aus Zeitgründen einstellen mussten. Ihre ersten Filme waren zumindest interessant, auch wenn sie als Ermittlerfigur nicht so dominierte wie ihre Vorgänger:innen. Heute sehen wir also den ersten Film mit ihrer Nachfolgerin:

Einstand für die Neue in München: Nachdem Verena Altenberger als Bessie Eyckhoff in der Polizeiruf-110-Folge „Paranoia“ ihren letzten Einsatz absolviert hat, tritt ihre Nachfolgerin den Dienst an: Ab sofort ermittelt Johanna Wokalek als Kriminalhauptkommissarin Cris Blohm im Polizeiruf 110 des Bayerischen Rundfunks. Die unkonventionelle Polizistin, die stets offen und freundlich, aber auch mit einer gewissen – berufsbedingten – Neugierde auf Menschen zugeht, ist gerade von einem Auslandseinsatz in ihre Wahlheimat an der Isar zurückgekehrt.[2]

Handlung[3]

Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Postcolonial Studies wird tot aufgefunden. Die Ermittlungen führen die nach einem Auslandseinsatz nach München zurückkehrende Kriminalhauptkommissarin Cris Blohm ins Uni-Milieu. Sie und ihr Kollege Dennis Eden werden mit der Behauptung konfrontiert, dass das Mordopfer ein Vergewaltiger sei und seine „gerechte“ Strafe erfahren habe. Sie erhalten wenig hilfreiche Aussagen, mehr Schweigen als fundierte Auskünfte, was die Ermittlungen zunehmend erschwert. Auch zusammen mit Otto Ikwuakwu, einem Kollegen, der sie in diesem Fall unterstützen soll, kommen sie nicht weiter. Nun gilt es, jedes noch so kleine Puzzleteil aufzuspüren und herauszufinden, wie es zu der Tat kommen konnte.

Stimmen und Anmerkungen

Ein interessantes Detail, dass der Film an einer akademischen Eindrichtung für Postkoloniale Studien angesiedelt ist, während eine der wichtigeren Rollen tatsächlich mit einem jungen Schauspieler besetzt wurde, der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Togo stammt. Er spielt aber keinen der am Institut Tätigen, sondern vervollständigt das Polizeiteam.

Dieser Polizeiruf will ein bisschen Satire, ein bisschen Krimi, ein bisschen Drama sein – aber nichts konsequent. Das Ergebnis ist bestenfalls durchschnittlich, schließlich ist dies nicht der erste Sonntagskrimi zur mitunter allzu hitzig geführten Debatte um „Identitätspolitik“, und allmählich stellt sich ein gewisser Ermüdungseffekt ein.
Auch die Figur Cris Blohm mit ihrer kumpelhaften Attitüde ist nicht gerade eine Innovation auf diesem Sendeplatz, zumal ihre Vorgängerin aus ähnlichem Holz geschnitzt war. Wo bleiben die Ermittlertypen mit Ecken und Kanten, die auch mal überraschen, die nicht jede Erwartungshaltung sofort erfüllen? Es gibt sie leider immer weniger, auch am Sonntagabend.[4]

Lesen wir eine gewisse Ermüdung heraus? Ich kenne das, nach etwa 1.100 Crimetime-Rezensionen und vielen Vorschauen. Wenn der Polizeiruf München nicht nur spitze bleiben, sondern überhaupt als letzte Polizeiruf-Schiene im Westen eine Berechtigung haben soll, muss er etwas Besonderes bieten, das ist unsere klare Meinung; ansonsten sollte sich der BR auf seine zwei Tatortschienen in Nürnberg und Franken konzentrieren. Es begann einmal mit sehr konservativen Ermittlern, gemeint ist der Tatort, die aber irgendwie realistisch waren.

Dann kamen die schrägen Typen und nun wird jede Prägnanz der Angst geopfert, dass man irgendwo anecken könnte? Wie man präsent ist, ohne das zu tun, hat etwa Matthias Brandt als Hanns von Meuffels illustriert. Schon im Trailer haben sich mir allerdings die Haare aufgestellt: „Unter patriarchalischen Bedingungen kann es etwas wie einvernehmlichen GV zwischen Frauen und Männern nicht geben.“ Das ist natürlich eine Extremmeinung, wie auch die „Questioning“-Menschen innerhalb der LGBTI* wiederum eine kleine Gruppe sind, aber wenn man so etwas schon bringt, sollte es etwas besser durchdacht oder hinterlegt sein, sonst wirkt es, als ob man es karikieren wolle; vielleicht ist es das auch, es war ja nur ein Trailer. Vielleicht ist, siehe Meinung der Tatort-Fans oben, dies auch satirisch gemeint.

Tatsächlich scheinen Wokeness und Identitätspolitik in diesem Film im Mittelpunkt zu stehen:

Der Polizeiruf ist sehenswert, weil er den Finger in die Wunde legt: Wie gehen wir mit unbewiesenen Behauptungen von Schwächeren um? Wie viel Political Correctness ist ok? Wer steht auf Gendern und wer erträgt es nicht? Auf der einen oder anderen Seite kann sich mancher Zuschauer wiederfinden – oder muss es unbedingt Zuschauende heißen?[5]

Ist es jetzt mal gut mit dem Weitertreiben der PoC oder muss man sich gerade der Tendenz entgegenstemmen, die einen immer rechter wirkenden Mainstream dagegen aufpoppen lässt? Es ist nicht einfach. Wir haben uns zum Beispiel bei den politischen Artikeln entschieden, nicht mehr vollumfänglich zu gendern, sondern damit Akzente zu setzen – um die Lesbarkeit der Artikel zu erhalten, in erster Linie. Allerdings schwingt auch mit, dass sich bei uns gewisse Ermüdungserscheinungen gegen Extrempositionen eingestellt haben, deren Trägern man es ohnehin nicht recht machen kann. Schon aus dem Grund nicht, dass man nun mal ein älter werdender weißer Mann ist und es keine Option ist, daran noch etwas ändern zu wollen. Auch in dieser Hinsicht kann ich also verstehen, dass die Tatort-Fans von dem Film etwas genervt waren.

SWR3 vergibt aber 4 von 5 Elchen. Damit wir nicht falsch verstanden werden: Selbstverständlich bleibt es wichtig und richtig, Minderheiten ihre Stimme zu geben und Diskriminierungen zu vermeiden. Für uns ist dabei aber vor allem die soziale Ebene wichtig und die Möglichkeit, formale Rechte wirklich auszuüben und sozial und ökonomisch in vollem Umfang teilzuhaben.

Mit Johanna Wokalek ist der Münchener „Polizeiruf“ – nach Matthias Brandt und Verena Altenberger – weiterhin erstklassig besetzt. Aber „Little Boxes“ (BR / Ariane Krampe Filmproduktion), der erste Film mit Kommissarin Cris Blohm, ist trotz dieser neuen, sympathisch-aufgeschlossenen Figur über weite Strecken geschwätzig, handlungsarm und somit ein eher anstrengender statt anregender Beitrag zur Debatte um Vielfalt, Rassismus, Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Gewalt. Der Fall führt Blohm ins linke Uni-Milieu, in dem ein wissenschaftlicher Mitarbeiter nach Vergewaltigungsvorwürfen tot aufgefunden wird. Stark überzeichnete Figuren, Dialoge als Parolen- und Zitatesammlungen: Der ehrenwerte Versuch, die umstrittenen Themen mit Humor und Leichtigkeit zu nehmen, gelingt dem Drehbuch von Stefan Weigl und der Regie von Dror Zahavi nur punktuell. Die neue Kommissarin – gerne auch weiterhin im spannenden Dreierteam mit Dennis Eden (Stephan Zinner) und Otto Ikwuakwu (Bless Amada) – hat bessere Geschichten verdient.[6]

Also doch eine Parolensammlung, wie der Trailer uns hat vermuten lassen. 3,5/6 sind für Tittelbach-Verhältnisse eine klar unterdurchschnittliche Bewertung und ich finde es gut, dass man sich das bei dieser Kritiken-Institution überhaupt traut, wo es doch um ein wichtiges Thema geht und man außerdem zu sehr bekannten Regisseuren und Schauspielern immer ein positives Verhältnis pflegt – was auch mit der Biografie von Tittelbach-Gründer Rainer Tittelbach zu tun hat, der in der Grimme-Rreis-Jury zugange war. Deswegen kommt es bei Tatorten wohl auch generell nicht zu Wertungen von weniger als 3/6 bzw. der Ansatz ist ähnlich wie bei uns, die noch niedrigeren Noten muss man sich für weniger ambitionierte, trashigere Formate aufheben. Der Durchschnitt der Tittelbach-Bewertungen für Tatorte und Poliizeirufe liegt etwa bei 4,5/6.

Ein schwerer Fall von Boomer-Tourette. Benutzt man für Vergewaltigung jetzt das V-Wort? Herrscht an den Unis nur noch »Gender-Gaga?« Der erste »Polizeiruf« mit Johanna Wokalek ist eine entgleiste Campus-Satire geworden.[7]

Das ist zum Beispiel ein Fall, in dem sich in mir etwas sperrt. Auch wenn es wieder einer von Christian Buß‘ tollen Titeln ist, deren inhaltliche Ausarbeitung leider mittlerweile hinter einer Bezahlschranke steckt, auch wenn man es in Anführungszeichen setzt: „Gender-Gaga“ ist AfD-Sprech und wir lehnen den Begriff deshalb ab. Er suggeriert, dass die Befassung mit dem Thema Gender generell gaga, also verrückt ist. So kann man jede Diskriminierung installieren, und die AfD tut das ja auch weitgehend unwidersprochen.

Wo aber kommt der Titel des Films her?

Johanna Wokalek: Der Song stammt aus den frühen 60-ern von der Politaktivistin Malvina Reynolds. Er beschreibt eine Gegend in Amerika, in welcher die Leute in gleich aussehenden Häuserreihen leben, den „Little Boxes“. Die Menschen in diesen Häusern leben praktisch alle das gleiche Leben. Sie haben die gleichen Träume, die gleichen Bedürfnisse. Stefan Weigl hat den Song ausgesucht, und vielleicht ist das auch seine Aussage: dass unsere Denkboxen ganz schön eng sind. Es geht um Diversität. Der Wunsch ist, dass wir uns in all unserer Verschiedenheit miteinander verbinden oder einschließen. Stattdessen findet über die Schwierigkeit, eine Sprache für- und miteinander zu finden, das Gegenteil statt.[8]

Wir empfehlen, das Interview mit Johanna Wokalek auf jeden Fall zu lesen, wenn man mehr über die Aufstellung des neuen Teams und den Spirit der München-Polizeirufe erfahren will, es wurde von mehreren Medien veröffentlicht. Es wird in der Tat spannend, ob der Polizeiruf München seine Sonderstellung behalten kann. Es war nicht so, dass man in der Vergangenheit keine schwierigen Themen angepackt hätte, aber eine gute Geschichte und packende Charaktere waren dabei immer ein Muss (außerhalb dieser Bewertung die Filme mit „Bessie Eyckhoff“, die ich noch nicht gesehen habe).

TH

Trailer

Polizeiruf 110: München: Trailer ‚Little Boxes‘ – Bing video

Besetzung und Stab

Kriminalhauptkommissarin Cris Blohm – Johanna Wokalek
Kriminalhauptkommissar Dennis Eden – Stephan Zinner
Kriminaloberkommissar Otto Ikwuakwu – Bless Amada
Beatrix Grandl, Polizeivizepräsidentin – Christiane von Poelnitz
Wendelin Georgi, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Polizei – Matthias Bundschuh
Defne Şahinkaya – Canan Samadi
Fnan Berhe – Victoire Laly
Kim Hallstein – Lise Risom Olsen
Salka Holm – Katrin Lux
Judith Flaman – Mara Widmann
Max Frühauf – Moritz Treuenfels
Meike Gloser – Anastasia Papadopoulou
Anton Goetz – Seppi Scholler
Alfred Höhne – Martin Müller
Ole Hölter – Franz-Xaver Zeller
Nike Reissmann – Anna Gesa-Raija Lappe
Studentin Müller-Walraff – Patrice Grießmeier
Viktor – László Branko Breiding
Dawoud Alrashid – Lucas Janson
Reporterin BR – Esther Kuhn
Ritchie – Henri von Mecklenburg
u. v. a.

Regie – Dror Zahavi
Drehbuch – Stefan Weigl
Musik – Fritz Busse, Dror Zahavi

 

[1] Polizeiruf 110: Little Boxes – Wikipedia

[2] polizeiruf-110-little-boxes-11 – Tatort Fans (tatort-fans.de)

[3] Little Boxes – Polizeiruf 110 – ARD | Das Erste

[4] Tatort-Fans, a. a. O.

[5] Polizeiruf aus München „Little Boxes“ mit Blohm und Eden (swr3.de)

[6] Polizeiruf 110 – Little Boxes – Kritik zum Film – Tittelbach.tv

[7] »Polizeiruf 110« mit Johanna Wokalek: »Little Boxes« über Cancel Culture – DER SPIEGEL

[8] Polizeiruf 110: Erster Fall für Johanna Wokalek wird die Gemüter spalten (tvspielfilm.de)

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