Kriegsangst in Europa nimmt ab (Statista + Kommentar: Angstfreiheit nutzen, um realistische Politik zu machen) | Briefing 310 | Geopolitik

Briefing 310 Geopolitik Ukrainekrieg

Der Krieg in der Ukraine wird mehr und mehr zur Normalität. Nichts belegt diese Tatsache besser als die Umfrage, die wir in der folgenden, tagesaktuellen Grafik verbildlicht sehen. Wir meinen, aus dieser Entwicklung ergeben sich Chancen:

Infografik: Kriegsangst in Europa nimmt ab | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz Creative Commons — Namensnennung – Keine Bearbeitungen 4.0 International — CC BY-ND 4.0  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Im Februar 2022 entfesselte Russland einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine. Die Angst, dass dieser Krieg sich ausweiten könnte, ist seitdem deutlich gesunken. Befürchteten kurz nach Beginn der Invasion noch rund 35 Prozent der von Ipsos hierzulande befragten Menschen, dass die Bundesrepublik in einen militärischen Konflikt verwickelt werden könnte, waren es im August 2023 nur noch etwa 18 Prozent.

Damit ist Deutschland unter den abgefragten Ländern jedoch neben Polen (27 Prozent) das einzige Land in Europa, in dem noch ein größerer Anteil der Bevölkerung diese Angst teilt. Der Rückgang dürfte zu großen Teilen darauf zurückzuführen sein, dass die Sorgen der Menschen in Europa momentan vor allem auf wirtschaftlichen Schwierigkeiten liegen. Inflation ist weltweit die am häufigsten genannte Herausforderung der Länder, gefolgt von Armut und sozialer Ungleichheit. Dagegen teilen aktuell lediglich sieben Prozent die Angst vor einem militärischen Konflikt.

Für die “Ipsos – What Worries the World”-Umfrage werden monatlich mehr als 20.000 Menschen zwischen 16 und 74 Jahren in 29 Länder weltweit zu ihren größten Sorgen und den Herausforderungen ihres jeweiligen Heimatlandes befragt.

Lassen wir einmal die ziemlich kleinen Umfragepools beiseite, Wahlumfragen umfassen ja bei uns meist auch nur 1.000 bis 2.000 Personen. Wir glauben schon, dass die Stimmungslage und ihre Veränderung zumindest in Deutschland in der Grafik einigermaßen der Realität entspricht.

Diskutiert wird bei uns natürlich weiterhin, abnehmende Angst hin oder her. Alle gegen Wagenknecht, ist dabei in etwa die Konstellation, wenn es um Fernseh-Talkrunden zum Ukrainekrieg geht. Die Haltung der Polen verstehen wir bis zu einem gewissen Grad, sie fühlen sich immer noch eingeklemmt zwischen den einst kriegerischen Nachbarn Russland und Deutschland. Auch bei ihnen ist es viel ruhiger geworden, obwohl die regierende rechtsnationalistische PIS alles tut, um die Kriegsangst möglichst hochzuhalten.

In Westeuropa ist man mehr oder weniger zum Alltag übergegangen. Dazwischen liegt der State of Mind, den die Deutschen im Moment zeigen. Ein sehr großer Rückgang bezüglich der Kriegsangst, aber doch mehr Sorgen als bei den westlichen Nachbarn. Hingegen haben die wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Kriegsangst als Sorgegrund abgelöst, weil sie real sind und uns täglich vor Augen geführt werden. Auch sie sind aber zumindest teilweise eine Folge des Ukrainekriegs.

Wir haben von Beginn an weder die Scharfmacherei einiger Waffenfetischisten geteilt, noch waren wir bezüglich der Sanktionen gegen Russland unkritisch, aber wir haben auch die Angstmacherei, die auf deutscher Seite vor allem von Sahra Wagenknecht und der AfD betrieben wird, von uns gewiesen.

Wir konnten uns nie im Verlauf des Ukrainekriegs vorstellen, dass es zu einem Atomkrieg kommt und das hat sich als richtig herausgestellt. Nur ein Atomkrieg aber wäre ein Krieg, der uns in Deutschland direkt betreffen könnte. Ein konventioneller Krieg bei uns hingegen müsste zunächst bedeuten, dass mindestens Polen oder die Tschechei und die Slowakei von Russland eingenommen werden. Kann sich auch dies jemand vorstellen? Einzelne Luftschläge oder Drohnenangriffe hingegen würden höchstens dazu führen, dass die Entschlossenheit in Deutschland steigt, der Ukraine zu helfen. Bleiben der Cyberkrieg und die Propaganda, die nach unserer Ansicht ziemlich überschätzt wird.

Ersterer ist schwer zu greifen, richtet aber offensichtlich keine fundamentalen Schäden an der hiesigen Infrastruktur an, Letztere ist nur dort wirksam, wo Menschen ohnehin dafür aufnahmebereit dafür sind, also vor allem im Osten, bei der Rechten und kleineren Teilen der Linken. Wir halten die Propaganda sogar für notwendig, und zwar die von beiden Seiten, sonst hieße es, bei uns gebe es keine Meinungsfreiheit. Insofern finden wir es auch Quatsch, wenn Menschen mit abweichenden Meinungen nicht mehr in Talkshows eingeladen werden sollen, wie etwa die erwähnte Sahra Wagenknecht als Frontfrau aller Putinversteher:innen verschiedener politischer Couleur.

Ohne deren Kriegsangstmacherei wäre es schon fast ein bisschen langweilig, weil alle anderen ja mehr oder weniger die gleiche Meinung haben. So wirkt es wenigstens, wenn man fernsieht. In Wirklichkeit sind diese Talkrunden nicht ausgewogen besetzt, wenn man die Meinung der Bevölkerung als Maßstab heranzieht. Diese die ist nämlich bezüglich der Waffenhilfe ziemlich exakt hälftig gespalten und aufgrund aktuellerer, bezüglich deren Sinn sehr negativer Nachrichten aus dem wirtschaftlichen Raum nimmt die Zahl der Sanktionsskeptiker:innen zu. Das ist eine offene Flanke der hiesigen Politik, da können die Putinisten viel substanzieller angreifen als mit der Kriegsangsttreiberei, denn es lässt sich leider belegen, dass gravierende ökonomische Fehler begangen werden, deren Folgen uns vermutlich noch lange beschäftigen werden.

Die Diskussion darüber hat ebenfalls ihre Berechtigung und es wäre ganz falsch, wenn über eine so wichtige Frage wie unsere Haltung in diesem Krieg nicht mehr allumfassend gestritten werden dürfte. Wir können an dieser Stelle kurz Position beziehen: Freilich darf man es sich nicht zu einfach machen und so tun, als hätte die Geschichte erst mit dem 24.02.2022 begonnen, wie auch einige Medien es immer noch darstellen. Vielmehr kann man sinnvoll darüber streiten, was in den Jahren und Jahrzehnten zuvor alles gelaufen ist und muss mindestens zu dem Ergebnis kommen, dass nichts von nichts kommt. Das war nicht einmal bei Hitler so, weil er vieles, was er getan hat, aus der deutschen Schmach der Vergangenheit ableitete, notabene aus dem Ergebnis des Ersten Weltkriegs, und damit viel Erfolg in der Bevölkerung hatte. So in etwa funktioniert auch Putins Propaganda in Russland bezüglich der Geschichte seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Es kommt darauf an, was man daraus ableitet. Es war beispielsweise richtig, dass die Härten des Versailler Vertrags nach 1919 schrittweise gemildert wurden, begonnen hat man damit aber friedlich, in der Weimarer Republik. Hitler war es dann aber, der Gebiete zunächst rechtswidrig, dann gewaltsam besetzen ließ und Nationalismus und Rassismus schürte. Das darf man auch bei Putin gerne mitdiskutieren, wenn es um die Demütigung der russischen Seele seit 1990 geht und wie er damit eine immer aggressivere Politik gestaltet, anstatt sich an den Freunden aus China ein Beispiel zu nehmen und das Land wirtschaftlich so mächtig zu machen, dass an ihm niemand vorbeikommt, auch und gerade, wenn es nicht um Rohstofflieferungen, sondern um Technologie geht. Viel kleinere Länder in Asien haben es geschafft, durch ihren wirtschaftlichen Aufstieg eine gute Rolle zu spielen, aber das russische System lässt einen solchen Aufstieg, eine Entfesselung individueller Kreativität und Tatkraft, nicht zu. Dieses anhaltende Versagen, das in guten Zeiten ein wenig durch steigende Rohstoffpreise verdeckt wurde, die wiederum nur einer Minderheit im Land zugute kommen, ist der eigentliche Grund, warum Putin immer unruhiger wird und versucht, sich durch notfalls militärisch ausgerichtete Geopolitik größer zu machen, als er und sein Reich sind.  

Die Freund:innen Putins trauen ihm offenbar zu, dass er wirklich einen Atomkrieg führt und setzen damit immer noch auf die Angstmasche oder Angstmache, wollen aber andererseits den kleinen Nachbarn Russlands verbieten, der Nato beizutreten, um sich vor einem Atomangriff des Atomstaats zu schützen. Unauflösbar paradoxe Argumentation und auffällig schwächer als die Benennung ökonomischer Probleme, die der Ukrainekrieg mit Hilfe der hiesigen Politik ausgelöst hat. Aber aus der Schadenfreude darüber, die man unverkennbar aus den Statements der Putinist:innen herauslesen kann, muss man wiederum extrahieren, dass die Unterstützung hierzulande für die Ukraine viel einheitlicher wäre, hätte die Politik nicht so viel ökonomischen Unverstand bewiesen. Im Grunde sind die Probleme viel älter, die Wähler:innen haben sich damit nie groß befasst, was sie selbst zu ihrem Entstehen beigetragen haben, aber jetzt ergibt sich daraus eine Chance: Weil sich alles wie unter einem Brennglas zeigt, der Handlungsdruck groß ist, kann man im Zeichen nachlassender Angst den freieren Kopf für progressive Aktion in Richtung Zukunft nutzen.

Immer, wenn Wladimir Putin oder sein Wadenbeißer Dimitri Medwedw etwas Schlimmes prophezeit haben, wenn der Westen die Ukraine unterstützt und mit dem Halbsatz schlossen „Das ist kein Bluff!“, hatten wir den Eindruck, es ist genau das, sonst hätte es dieser Bekräftigung nicht bedurft. Doch es ist eine schwierige, verfahrene Situation. Diejenigen, die sagen, Waffen töten, machen es sich in diesem Fall viel zu einfach, denn wo wären wir heute, wenn die Anti-Hitler-Koalition nicht zu den Waffen gegriffen hätte? In einem faschistischen Staat, in dem wir eben nicht frei diskutieren könnten, wie wir es mit diesem Krieg halten. In einem faschistisch unterjochten Europa mit einem riesigen, hochgefährlichen Atomstaat namens Großdeutsches Reich in der Mitte. Russland ist ein gefährlicher, zumindest territorial gesehen riesiger Atomstaat und Wladimir Putin macht mit diesem Status eine Politik der Einschüchterung.

Es ist deshalb gut, dass sich zwei Trends die Waage halten: Die Angst vor einem Krieg lässt bei uns nach, gleichzeitig steigt die Skepsis gegenüber dem, was bisher gelaufen ist, besonders gegenüber den Sanktionen, die zu wirklich kuriosen Ergebnissen führen. Diese beiden Entwicklungen zusammen machen es möglich, realistischer und zupackender an die Probleme heranzugehen, die durch den Ukrainekrieg auch in Deutschland verursacht wurden oder welche die Politik meinte, aus diesem Grund verursachen zu müssen. Man muss jetzt endlich lernen, Sinnvolles zu tun und kopflosen, nicht einmal als Symbol wirksamen Blödsinn sein zu lassen, der nur schädlich ist. Diesen Auftrag hat die Ampelkoalition. Wenn sie den Auftrag nicht annimmt, wird die AfD weiter erstarken.

Wir möchten nicht zu sehr vom Thema abkommen und an dieser Stelle ausführlich  über die Bundestagswahl 2025 nachdenken, aber wir machen uns mehr Sorgen um diese Demokratie als um eine Ausweitung des Krieges auf Deutschland, das steht fest und wird so bleiben, solange sich die Parameter dieses Krieges und die politischen Parameter bei uns nicht wesentlich ändern.

TH

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