Briefing 321 | Wirtschaft:Der Spitzensteuersatz als Ausweis für soziale Gerechtigkeit und kluge Infrastrukturpolitik
Einkommensteuer-Spitzensätze als Gradmesser für die sozialen Verhältnisse in einem Land?
Beim Anschauen einer aktuellen Statista-Grafik zu den Steuererklärungen fiel unser Blick auf eine schon etwas ältere Darstellung – sie stammt aus dem Jahr 2021 und wir fanden sie besonders interessant, haben sie deshalb für unseren heutigen Info-Artikel ausgewählt: Es geht um die Spitzensteuersätze allen Ländern der Welt:
Infografik: Wo Spitzenverdiener die höchsten Abgaben zahlen | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
Die Spitzensätze der Einkommensteuer variieren weltweit stark. Vor allem in den OECD-Staaten müssen Großverdiener einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen an den Staat abgeben. Im Schnitt liegt der Spitzensteuersatz hier bei rund 42 Prozent. Wie die Statista-Grafik auf Basis der Daten von KPMG zeigt, besteuern die skandinavischen Länder das Einkommen besonders stark. In Finnland ist der Spitzensatz mit 56,95 Prozent weltweit am höchsten, gefolgt von Dänemark (56,5 Prozent), Japan (55,97 Prozent), Österreich (55 Prozent) und Schweden (52,85 Prozent). Auch Deutschland zählt zu den Hochsteuerländern – hierzulande liegt der Einkommensteuersatz in der Spitze bei 45 Prozent und steht damit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 37,77 Prozent.
Steueroasen hingegen sind auf der arabischen Halbinsel und in der Karibik zu finden. In diesen Ländern existiert häufig keine individuelle Einkommensteuer. Inselstaaten wie die Bahamas, Bermuda und die Cayman Islands sind immer wieder Gegenstand der Berichterstattung über Steuerhinterziehung, da einige Spitzenverdiener ihr Geld auf Konten in diesen Ländern transferieren und somit am Fiskus vorbeischmuggeln. Positiv hervorzuheben ist die Entwicklung dahingehend im Oman. Nach Jahren ohne individuelle Einkommensbesteuerung plant das Sultanat die Einführung für das Jahr 2022, um weniger von den Öl-Einnahmen abhängig zu sein und die Steuereinnahmen dann für soziale Projekte einsetzen zu können.
- Der deutsche Spitzensteuersatz beträgt nicht 45 Prozent, sondern 42 Prozent. Damit liegt er nicht mehr so weit über dem EU-Durchschnitt.
- Der EU-Durchschnitt wird vor allem durch neuere EU-Staaten im Südosten gesenkt, in Westeuropa beträgt der Spitzensteuersatz durchweg über 40 Prozent, in einigen Ländern sogar über 50 Prozent.
- In Deutschland lag der Spitzensteuersatz bis zum Ende der Amtszeit Helmut Kohls bei guten 53 Prozent, Kanzler Schröder hat ihn dann auf die heutigen 42 Prozent senken lassen.
- Russland und viele andere Länder haben nicht einmal 20 Prozent Spitzensteuern und gelten als besonders ungleiche Gesellschaften. Genau anders herum z. B. in Schweden oder Österreich, die als sozial besonders gut und auch im Vergleich zu Deutschland als egalitärer und mit den besseren Sozialsystemen ausgestattet gelten.
- Die berüchtigten Steueroasen werden zwar erwähnt, aber eines wird leicht vergessen: Die Cayman Islands zum Beispiel sind keineswegs selbstständige Staaten, sondern gehören zu Großbritannien, das besonders viele Steueroasen betreibt, während die Normalbevölkerung brav Steuern zahlt wie anderswo in Westeuropa auch.
Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Spitzensteuersatz und der sozialen Gerechtigkeit. Je höher er ist, desto gerechter in der Regel die Gesellschaft. Als die USA unter der Weltwirtschaftskrise ächzten und dann die Staatsschulden aus dem Zweiten Weltkrieg zu begleichen waren, betrug der Spitzensteuersatz dort bis zu 90 Prozent. Damals waren die USA auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung als führendes freies Land der Welt, seitdem geht es mit dem Spitzensteuersatz und mit der Moral bergab.
Allerdingsist die Grafik nur dann wirklich aussagekräftig, wenn man folgende Faktoren hinzudenkt: Ab wann gilt der Spitzensteuersatz? Werden die Steuern auch tatsächlich eingezogen oder ist die Finanzverwaltung eher lasch? Tendenziell sind Länder mit hohen Steuersätzen auch durchsetzungsfähiger bei der Eintreibung. Signifikant, dass es vor allem in Afrika große Lücken gibt, die darauf hindeuten, dass überhaupt keine individuell anwendbaren Spitzensteuersätze existieren. Aber auch bei der Einkommenshöhe, ab welcher in unserem Immer-wieder-Musterbeispiel Schweden der Spitzensteuersatz gilt, werden keine halben Sachen gemacht:
Der Spitzensteuersatz in Schweden gilt für Einkommen, die über 703.000 SEK (ca. 68.000 Euro) liegen. Ab diesem Betrag müssen 20 % staatliche Einkommensteuer zusätzlich zur kommunalen Einkommensteuer gezahlt werden. Die kommunale Einkommensteuer variiert je nach Gemeinde, liegt aber im Durchschnitt bei 32,24 %. Somit ergibt sich ein effektiver Spitzensteuersatz von 52,28 % in Schweden12
In Deutschland gilt der Spitzensteuersatz von 42% ab einem zu versteuernden Einkommen von 61.972 Euro für das Jahr 20231. Für zusammenveranlagte Ehegatten oder Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gilt der Spitzensteuersatz ab einem zu versteuernden Einkommen von 123.944 Euro1.
Wer mehr als 277.826 Euro verdient, zahlt den Höchststeuersatz von 45 Prozent, auch Reichensteuer genannt12. Es ist wichtig zu beachten, dass diese Steuersätze Grenzsteuersätze sind, d.h., sie gelten nur für den Teil des Einkommens, der über dem jeweiligen Schwellenwert liegt3.
Der Moment, ab dem das Einkommen die Grenze zum Spitzensteuersatz übersteigt, ist also in beiden Ländern ähnlich hoch. Ein bisschen etwas hat man in Deutschland doch korrigiert, nachdem Schröder der Antisoziale den Weg für mehr Ungleichheit im Land geradezu planiert hat:
Der Spitzensteuersatz in Deutschland ist 42 Prozent und wird ab einem zu versteuernden Einkommen von 61.972 Euro (für das Jahr 2023) angewendet12. Für zusammenveranlagte Ehegatten oder Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft gilt der Spitzensteuersatz ab einem zu versteuernden Einkommen von 123.944 Euro3. Wer mehr als 277.826 Euro verdient, zahlt den Höchststeuersatz von 45 Prozent (auch Reichensteuer genannt)45.
1. taxfix.de, 2. steuerklassen.com, 3. steuern.de, 4. smartsteuer.de, 5. finanzensteuern.de
Es gibt also tatsächlich die „Reichensteuer“, die von Linken immer wieder gefordert wurde, aber sie ist natürlich vergleichsweise gering. Sehr interessant ist auch, wie man in Schweden auf die Corona-Krise reagiert und den Spitzensteuersatz kurzfristig erheblich gesenkt hatte: Höchststeuersatz der Einkommensteuer in Schweden bis 2021 | Statista. Das kann sich ein Land nur leisten, wenn es insgesamt finanziell gut aufgestellt ist. In dem Jahrzehnt vor der Pandemie lag der Spitzensteuersatz dort sogar noch höher als aktuell, nämlich zwischen 56,55 und 57,34 Prozent. Uns ist nicht bekannt, dass die Reichen deshalb aus Schweden abgehauen wären.
Das ist in Deutschland bekanntlich ein FDP-Spin, deswegen verweigert sich die FDP als Mitglied einer eigentlich mittigen Regierung auch jeder Diskussion über eine Anhebung in Deutschland, ähnlich wie sie klassistische Positionen in Sachen Renten- und Gesundheitssystem vertritt. Wie lagen aber die Spitzensteuersätze in Deutschland in den letzten 25 Jahren?
- 1998 – 1999: 53%
- 2000: 51%
- 2001 – 2003: 48,5%
- 2004: 45%
- 2005 – 2023: 42%
Im Jahr 1995 war der Spitzensteuersatz bisher am höchsten, er betrug inklusive Solidaritätszuschlag 57 Prozent. Spitzensteuersatz: Für wen gilt er? (steuerklassen.com). Dieselbe Quelle hält noch dies zum Nachdenken über die deutsche Form von „Gerechtigkeit“ à la Neoliberalismus bereit, obwohl sie nicht dazu eingerichtet wurde, hohe Steuersätze zu propagieren:
Das nordische Modell wird häufig auch als sogenanntes „schwedisches Modell“ betitelt. Obwohl in den skandinavischen Ländern wie Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark nicht nur der Spitzensteuersatz, sondern auch die Steuern insgesamt sehr hoch angesetzt sind, floriert die Wirtschaft. Der Sozialstaat ist in seiner Gesamtheit optimal strukturiert und ausgebaut. Da der Staat die Einnahmen der höheren Steuern in die Bildung und Infrastruktur investiert, kann die Gesamtbevölkerung davon profitieren.
Und damit sind wir sozusagen pfeilartig auf das deutsche Bildungs- und Infrastrukturdesaster gestoßen. In den skandinavischen Ländern war keine pompöse „Schwarze Null“ notwendig, die aus dem Land geradezu herausgequetscht wurde, um die Staatsverschuldung auf vergleichsweise niedrigem Niveau zu halten, auch während der Finanzkrise bzw. danach nicht. Aber nicht nur in Skandinavien gibt es höhere Spitzensätze als in Deutschland, sondern sogar in Gründungsstaaten der EWG (Belgien, Niederlande) oder in solchen, deren EU-Integration als besonders gelungen gilt (Spanien, Portugal):
- Belgien: 53,7%
- Portugal: 53%
- Niederlande: 52%
- Spanien: 52%
Wir überlegen schon lange, warum deutsche Regierungen kein „Best Practice“ vornehmen, wenn es um die Zukunft des Landes geht. Sie nicht? Warum fährt man nicht dorthin, wo die besten Lösungen angewendet werden und schaut sich das ab, was den Karren bei uns wieder flott bekommen könnte? Das gilt nicht nur für das Steuersystem, sondern auf vielen Gebieten, auf denen man offenbar keine guten eigenen Ideen mehr entwickeln kann, die für andere Staaten wiederum Vorbildcharakter haben könnten. Weil man sich nicht eingestehen will, dass Deutschland in vielen Punkten nur noch Mittelmaß ist?
Ein wenig, vielleicht. Man müsste es ja nicht so offen kommunizieren, dass man endlich das Richtige macht, nämlich die Besten kopiert. Im Wesentlichen geht es um etwas anderes: Den massiven, überproportionalen, antidemokratischen Einfluss mächtiger Lobbys in Deutschland, die die Politik geradezu in den Schwitzkasten genommen haben und nicht das Gemeinwohl, sondern Partikularinteressen vertreten, die regelmäßig gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichtet sind. Deren politische Vertretung ist vor allem die FDP, summarisch aber ist ihr großer Einfluss bei CDU-Abgeordneten im Bundestag jedoch das größte Problem, die immer wieder durch Lobbyskandale auf sich aufmerksam machen.
Das sind jedoch die weniger Klugen unter diesen Abgeordneten, die dunkle Masse versteht sich darauf, eben nicht dadurch aufzufallen, dass sie keine Politik für die Mehrheit macht. In Deutschland ist eine politische Karriere vielfach ein Entree zur Selbstbereicherung und wird von Beginn an aus diesem Grund angestrebt. Deswegen ist mehr Transparenz nur ein erster Schritt; ein freiwilliger Ehrenkodex reicht sowieso nicht aus, die Regeln für das finanzielle Treiben der Parlamentarier außerhalb ihrer Abgeordnetenbezüge und auch die Parteienfinanzierung müssten grundsätzlich neu verfasst werden, um den Einfluss finanzstarker Interessenverbände zu begrenzen.
Dass diese Interessenverbände letztlich sogar gegen ihr eigenes Interesse handeln, ergibt sich wiederum nur aus der Gesamtschau. Zum Beispiel daraus, dass Länder wirtschaftlich ganz augenscheinlich besser funktionieren und weniger krisenanfällig sind, wenn es u. a. eine solide Steuerfinanzierung gibt. Dadurch, dass in der Ampelregierung die FDP das Finanzministerium innehat, ist von dieser Seite keine Verbesserung zu erwarten. Es ist klar, dass angesichts der massiven Infrastrukturprobleme in Deutschland erst einmal mehr ausgegeben werden müsste, bevor die Einnahmen durch die Verbesserung der Strukturen wieder mitziehen würden. Dieses Problem haben Länder nicht, in denen stets ein guter Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben gewahrt wurde.
Es sind übrigens sowohl Länder, die den Euro haben, als auch welche, die sich vorsichtshalber der zentraleuropäischen Währung nicht angeschlossen haben, die mit höheren Steuern ihre Infrastruktur in Schuss halten.
Auch die Länder mit auskömmlichen Spitzensteuersatzgestaltung und insgesamt großer Einzahlungsbereitschaft in die staatlichen Systeme sind kapitalistisch. Das belegt, dass auch innerhalb des Systems mehr Spielraum besteht, als das neoliberale Brainwashing den Menschen in Deutschland vorgaukelt. Eine Sorge haben wir natürlich in diesem Zusammenhang: Ohne Systemveränderungen kann es durchaus passieren, dass die neoliberalistischen Rüpel-Nationen mit radikaler Politik zugunsten einer kleinen Minderheit das skandinavische Modell doch killen kann. Der Spin wird dann sein, dass es den freien Kräften des Marktes nicht standgehalten hat. Lesen werden solche Darstellungen die vielen Marginalisierten, die sich fragen, wieso es für die Mehrheit immer weniger Wohlstand gibt. Das gilt im Moment noch nicht weltweit, aber für die Industrienationen, bei denen noch etwas Wohlstand zu verteilen und zu verteidigen ist.
TH
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

