Briefing 322 | ... wegen unterschiedlicher Argumentationsebenen | Menschenrechte, Gesellschaft, Immigration, Asylrecht | Ein Blick auf die Maghreb-Staaten: Zweifel an der Sicherheit sind angebracht, vor allem Algerien betreffend.
Liebe Leser:innen, heute wollten wir, wie oft an Samstagen, ein kleines Umfragenpotpourri für Sie zusammenstellen – bis wir gesehen haben, wie das Abstimmungsverhalten zu der ersten Umfrage ausschaut, die wir heute vorstellen wollten. Wir haben uns entschlossen, sie deswegen in einem gesonderten Artikel zu besprechen.
Und darum geht es:
Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) definiert jene als sichere Herkunftsstaaten, in denen Menschen bei einer Rückführung keine „staatliche Verfolgung” droht. Gelistet sind derzeit alle EU-Mitgliedsländer sowie Albanien, Bosnien-Herzegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Senegal und Serbien. Liegt keine Verfolgungsgefahr vor, „wird der Asylantrag als ‚offensichtlich unbegründet‘ abgelehnt.“ Im August beschloss die Ampelkoalition, Georgien und die Moldau in die Liste aufzunehmen.
CDU-Chef Friedrich Merz fordert die Ampel nun auf, die Liste sicherer Herkunftsstaaten zu erweitern, um die Rückführung abgelehnter Asylbewerber:innen zu beschleunigen. Er bezieht sich v.a. auf die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien. Im ZDF sagte er Anfang September: „Wir haben es mit der zweiten großen Flüchtlingskrise nach 2015/16 zu tun. Das ist eine enorme Belastung. Die Kommunen können nicht mehr.” FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai äußerte sich in einer FDP-Pressemitteilung letzte Woche ähnlich und verwies auf den dringenden Handlungsbedarf bei der „Reduzierung der irregulären Migration”.
Die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken wies Merz’ Forderungen letzte Woche zurück. Die betroffenen Staaten seien nicht sicher, argumentierte sie in der Zeit. Ähnlich äußerte sich auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zuvor in der Funke Mediengruppe. Sie vermutete daher innenpolitische Gründe hinter Merz‘ Vorschlag. Den Status für Moldau und Georgien anzuerkennen, sei dagegen korrekt gewesen, da diese weitreichende Reformen in puncto Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten umgesetzt haben.
Wir sind nicht immer bei der Mehrheit, wenn es um diese Umfragen geht – zum Beispiel dann nicht, wenn wir mit „unentschieden“ abstimmen, was zuletzt gar nicht so selten vorgekommen ist. Aber dieses Mal haben wir den Vogel abgeschossen: Nur knapp 10 Prozent der Abstimmenden sind aktuell, wie wir, der Meinung, dass die Maghreb-Staaten nicht als sichere Herkunftsländer angesehen werden sollten. Fast 75 Prozent sagen: eindeutig ja, sie sollten als sicher eingestuft werden.
Möglicherweise sind noch mehr Menschen in Deutschland als bisher gedacht für eine Migrationsbegrenzung. Selbstverständlich gibt es Kapazitätsgrenzen, daran zweifeln auch wir nicht.
Aber hier wird auf zwei verschiedenen Ebenen argumentiert, deshalb wenden wir uns strikt gegen die Idee, Länder als sicher einzustufen, die nicht sicher sind. Die „Das Boot ist voll“-Rhetorik der CDU, der AfD und andere ist die eine Ebene. Natürlich könnte man über einen besseren Verteilmechanismus in der EU die Luft etwas aus der deutschen Diskussion rausnehmen und dadurch, dass man diesen Mechanismus auch wirklich umsetzt. Es gibt auf dieser Ebene ganz viele Aspekte und Argumente.
Aber man kann nicht immer mehr Länder schlicht als sicher einstufen, die nicht sicher sind, in denen Menschen also bei Rückkehr sehr wohl politische Verfolgung droht. Insofern gehen die obigen Argumente aneinander vorbei. Wir haben vor allem deshalb gegen die Einstufung als sicher gestimmt, weil der Begleittext aus dem Civey-Newsletter so abgefasst war, dass die Argumente der Befürworter von „sicher“ nicht auf diejenigen der Gegner bezogen waren.
Wie aber sieht es mit der Sicherheit in den Maghreb-Staaten tatsächlich aus?
Ja, die Maghreb-Staaten Tunesien, Marokko und Algerien können zu sicheren Herkunftsländern erklärt werden1. Die Einstufung führt nachweislich zu einer Beschleunigung der Asylverfahren sowie im Falle der Ablehnung zu einer zügigen Rückführung in die Herkunftsländer1. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Einstufung kontrovers diskutiert wird und es unterschiedliche Meinungen dazu gibt2.
Die Diskussion ist schon alt, wie man am von ChatGPT eingearbeiteten Statement des DStGT sieht, das aus dem Jahr 2018 stammt. In der Tat hat man das darin erwähnte Georgien nun als sicher erklärt.
Aber man kann nicht immer mehr Länder schlicht als sicher einstufen, die nicht sicher sind, in denen Menschen also bei Rückkehr sehr wohl politische Verfolgung droht. Insofern gehen die obigen Argumente aneinander vorbei. Wir haben vor allem deshalb gegen die Einstufung als sicher gestimmt, weil der Begleittext aus dem Civey-Newsletter so abgefasst war, dass die Argumente der Befürworter von „sicher“ nicht auf diejenigen der Gegner bezogen waren. Auch die Gegenargumentaiton von Amnesty International stammt aus dem Jahr 2017.
Es gibt hingegen kaum neuere Einschätzungen als diejenigen, die zu einer Zeit vorgenommen wurden, als die Bundesregierung schon einmal über die Einstufung der Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer vornehmen wollte und dafür im Bundestag hat abstimmen lassen. Die Gegner einer sicheren Einstufung argumentierten im Jahr 2017 allerdings auch teilweise so, dass sich wieder ein Bezug auf die Zahl der Geflüchteten ergibt, nämlich damit, dass von dort eh wenige Menschen zu uns kommen, um Asyl zu beantragen. Das gilt auch im Jahr 2023 noch:
Die häufigsten Herkunftsländer der Asylbewerber in Deutschland im Jahr 2023 sind Syrien, Afghanistan, Türkei, Iran, Irak und Georgien1. Im Jahr 2023 wurden insgesamt 188.967 Asylanträge gestellt, wobei Syrien das Hauptherkunftsland der Asylbewerber in Deutschland ist2.
Richtig ist, dass die Zahl der Asylsuchenden seit Jahren wieder steigt und dieses Jahr wohl den höchsten Stand seit 2016 erreichen wird, als viele Menschen aus Syrien hierherkamen. Aber zur Erinnerung: Ukrainer:innen müssen keine Asylanträge stellen, um ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten, seit Russland das Land überfallen hat. Sie machen in Wirklichkeit die bei weitem überwiegende Zahl der in 2022 und 2023 nach Deutschland Geflüchteten aus. Da man unbedingt vermeiden wollte, sie in Sammelunterkünften unterzubringen, was in der ersten Zeit auch überwiegend gelungen ist, tragen sie deshalb auch mehr als alle anderen Immigrantengruppen zu einem erneut sehr angespannten Wohnungsmarkt bei, um einen Aspekt herauszugreifen, bei dem die Infrastruktur die Belastungsgrenze erreicht oder überschritten hat.
Niemand würde die Ukraine aber deshalb als sicheres Herkunftsland einstufen, deswegen geht es darum, eine nachvollziehbare Neubewertung der Sicherheitslage in den Maghreb-Staaten vorzunehmen. Solange die Sicherheit nicht nachgewiesen ist, kann die Argumentation der Überlastung nicht als Ersatzargument herangezogen werden, sondern muss davon getrennt betrachtet werden. Vor allem die EU ist dabei gefordert, humanitäre und gleichzeitig machbare Regelungen umzusetzen. In diesem Sinne gibt es bekanntlich Neues, nämlich den EU-Asylkompromiss, der nun auch von Deutschland mitgetragen wird, nachdem das Thema der Krisenverordnung mit einigen Änderungen erledigt werden konnte, die Deutschland in den Asylkompromiss einbrachte.
Zur Erinnerung: Einige Länder im Osten der EU, die zudem zu den größten Empfängern von EU-Hilfen zählen, tragen den Asylkompromiss grundsätzlich nicht mit. Das ist ein unhaltbarer Zustand, der selbstverständlich auch die Stimmung in Deutschland und anderen nach wie vor aufnahmewilligen Ländern beeinflusst.
EU-Asylkompromiss: Diese Veränderungen konnte Deutschland durchsetzen (handelsblatt.com)
Insgesamt umfasst die gegenwärtige Fluchtsituation in Europa mehr als 4 Millionen Menschen, das sind nach der obigen Quelle weitaus mehr als während der Krise 2015/2016 (2,7 Millionen Menschen). In der Darstellung enthalten ist auch, dass alleine 1,1 Millionen Ukrainer:innen nach Deutschland eingereist sind. Normalerweise wäre das nicht möglich, weil die Ukraine kein EU-Land ist und daher die EU-interne Migrationsfreiheit für Menschen von dort nicht gilt.
Dass man sich auf die Asylsuchenden konzentriert, wenn es um politische Spins geht, ist also auch zahlenmäßig ein falscher Ansatz, denn die Asylsuchenden werden 2023 den kleineren Teil derer ausmachen, die in Deutschland Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen, da der größere Teil bei uns, wie in der gesamten EU, von der Asylantragspflicht befreit wurde. Da wiederum die in Rede stehenden Maghreb-Staaten als Herkunftsländer nach Deutschland Fliehender nur einen kleinen Teil ausmachen, geht die Diskussion an der Ursache für die aktuelle Hauptbelastung aller Kapazitäten vorbei, nämlich am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und ist deshalb, gerade bei der Union, wieder einmal unehrlich. Man will die Aufnahme der Vielen nicht hinterfragen, also konzentriert man sich auf Gruppen, vor denen sich besonders gut Ängste schüren lassen, weil einzelne Mitglieder dieser Gruppen verhaltensauffällig geworden sind.
Wir sind gespannt darauf, wie eine profunde Neubewertung der Maghreb-Staaten letztlich aussehen wird. Für Algerien gilt beispielsweise:
Homosexualität in Algerien ist gesellschaftlich geächtet und dort nach geltendem Recht illegal. In den vergangenen Jahren kam es zu mehreren tödlichen Übergriffen auf Homosexuelle und auch zu einer öffentlichen Steinigung.
Algerien steht wegen der von Staat und Unternehmen ausgeübten Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaften wie der Union Algérienne des Industries (UAI) in der Kritik der Internationalen Arbeitsorganisation.[78] (Wikipedia)
Die Logik besagt daher, dass Algerien für Angehörige der LGBTI* und für Menschen, die sich für Arbeitsrechte einsetzen, nicht sicher ist. Auch die verschiedenen von NGOen herausgegebenen Indizes (Persönliche Freiheit, Pressefreiheit, Demokratie etc.) weisen Algerien als ein mindestens schwieriges Land aus. Etwas besser sieht es insgesamt in Tunesien aus, Marokko liegt irgendwo dazwischen, weshalb auch die Maghreb-Staaten wohl nicht einfach als ein geschlossener Komplex betrachtet, sondern individuell bewertet werden müssen.
In der Tat schneiden Georgien und Moldau in der Summe der Indizes besser ab als die Maghreb-Staaten, weshalb eine unterschiedliche Einstufung gerechtfertigt sein kann.
Würde man dabei aber europäische Maßstäbe anlegen, wäre kaum ein afrikanisches Land als sicher zu bezeichnen und auch Georgien und Moldau sind noch in der Entwicklung hin zu vollständigen Demokratien begriffen. Die Ukraine liegt insgesamt übrigens etwa auf dem Niveau dieser beiden Staaten. Das würde wohl ausreichen, um sie ohne den Krieg als sicheres Herkunftsland einzustufen, aber bei weitem nicht für eine EU-Mitgliedschaft. Das dortige Regime ist nicht als demokratisch, sondern als „hybrid“ definiert und in Sachen Korruption sieht es sehr bescheiden aus.
TH
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