33 Jahre danach – Der Stand der wirtschaftlichen Einheit (Statista + Zusatzinfos + Kommentar) | Briefing 323 Wirtschaft, Gesellschaft

Briefing 323 Deutsche Einheit nach 33 Jahren| Wirtschaftsvergleich

Wir werden zum 33. Jahrestag der deutschen Einheit keinen großen Aufwasch machen, aber ein paar Schlaglichter dürfen schon sein.  Zum Beispiel der Fokus auf Grunddaten der wirtschaftlichen Einheit. Und da sieht es nicht so gut aus. Wirklich nicht? Es ist differenziert zu betrachten, deshalb schauen wir uns nach der Grafik einige weitere Kennzahlen an.

Infografik: Der Stand der wirtschaftlichen Einheit | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Die ostdeutschen Bundesländer können auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung wirtschaftlich in absehbarer Zeit nur zu den schwächeren Westländern aufschließen. In vielen Bereichen ist der Abstand noch groß, wie die Statista-Berechnung auf Basis von Daten des Berichts der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit zeigt. Unter anderem falle schwer ins Gewicht, dass die Pro-Kopf-Investitionen in Ausrüstungen wie Maschinen oder Produktionsanlagen im ostdeutschen Durchschnitt zuletzt gerade einmal gut 64 Prozent des Westniveaus betrugen. Dadurch könne die Industrie in den kommenden Jahren wenig dazu beitragen, dass sich der Osten wirtschaftlich stark weiterentwickelt.

Zudem sei problematisch, dass es im Osten insgesamt zu wenig Personal im Bereich Forschung und Entwicklung („FuE“) gäbe. Viele Unternehmen hätten nur wenig Mitarbeiter, die mit der Entwicklung von neuen Produkten und Verfahren befasst seien. Weiterhin liegt die Arbeitslosenquote noch immer über der im Westen, nachdem sie in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gesunken ist.

Dass die Wirtschaft in Ostdeutschland in vielen Bereichen noch nicht vollständig zu der im Westen aufschließen konnte, hat unter anderem auch mit der Bevölkerungsdichte zu tun.

Obwohl der Osten so ausgedünnt ist, bleibt die Arbeitslosigkeit höher als im Westen. Nicht unproblematisch: Die Löhne liegen dichter beieinander als das BIP pro Einwohner. Vor allem nach der Wende war das ein Riesenproblem, weil die Löhne im Osten viel schneller stiegen als die Produktivität, behoben ist dieser Unterschied noch immer nicht ganz, sondern beträgt noch gut 10 Prozent – und das ist ein Standortnachteil, vor allem für personalintensive Branchen, die wiederum viele Arbeitsplätze schaffen können.

Gravierender aber ist, dass keine größeren Unternehmen im Osten zu forschen und zu entwickeln scheinen – der Osten ist also strukturell weiterhin vom Westen abhängig und vom Erfolg der dort angesiedelten großen Wirtschaftseinheiten. Geht diesen die Luft aus, kann der Osten nicht mit einer eigenständigen Story dagegenhalten – und die Gefahr war noch nie so groß, dass auch im Westen viele Unternehmen gleichzeitig ins Straucheln geraten.

Dabei sieht es in Teilen des Westens alles andere als rosig aus. Vor allem die niemals endenden Konversionsprobleme im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW sind im Grunde schon so fordernd, dass der Fokus für die Förderungen auf die Restrukturierung dieser großen einstigen Gebiete von Kohle und Stahl gelegt werden müsste. Andererseits funktionieren in Bayern auch die Gebiete des ländlichen Raums ganz gut und gelten nicht als Armenhäuser. Natürlich gibt es dafür eine wichtige Prämisse: Sie müssen touristisch verwertbar sein, wenn sie wenig Industrie haben und auch keine großteilig organisierte Landwirtschaft.

Aber schauen wir uns den Bundesländervergleich an: Liste der deutschen Bundesländer nach Bruttoinlandsprodukt – Wikipedia

Wir hatten schon vor zehn Jahren damit gerechnet, dass Sachsen zu Schleswig-Holstein und dem Saarland aufschließen kann. Obwohl man sich insbesondere im Saarland alle Mühe gibt, das Bundesland absterben zu lassen und niemand eine progressive politische Idee zu dessen Weiterentwicklung hat, dieses Bundesland also dem Osten sozusagen entgegenkommt, indem es besonders langsam wächst, ist das bis heute nicht passiert. Da ist immer noch ein Abstand von 10 Prozent zwischen den Besten im Osten und den Schwächsten im Westen. Das wirkt sich natürlich auch auf Deutschland insgesamt aus: Hätte das gesamte Land das Pro-Kopf-BIP wie der Durchschnitt der West-Bundesländer, würde es z. B.  vor Ländern wie Österreich und Schweden rangieren – nach wie vor, muss man sagen. Aber kommen die Ostländer wenigstens weiter voran? Das durchschnittliche Wirtschaftswachstum aller Bundesländer, mithin das Gesamtwachstum in Deutschland, betrug im Jahr 2022 schmale 1,8 Prozent, nach ohnehin sehr schwachen Corona-Jahren. Deutschland hat das Corona-Loch, anders als andere Industrieländer, noch nicht ausgeglichen. Sachsen und Brandenburg haben mit +2,6 Prozent und +3,3 Prozent tatsächlich überdurchschnittlich performt, in Brandenburg dürfte dazu vor allem die Tesla-Gigafactory beigetragen haben, die bis nach Berlin und Polen ausstrahlt. Überraschend gut liegt auch Sachsen-Anhalt mit ebenfalls +2,6 Prozent. Das hat uns vor allem deshalb überrascht, weil kein anderes Bundesland so von Bevölkerungsrückgang und Überalterung geplagt ist wie dieses. Man kann sagen, unter diesen Voraussetzungen ist das ein gutes Ergebnis. Einschränkung: Wir haben nicht verglichen, wie der Rückgang in den einzelnen Bundesländern während Corona ausgefallen ist, vielleicht handelt es sich auch um einen Nachholeffekt.

Kein Nachholeffekt ist die seit Jahren überdurchschnittliche Performance von Berlin, das ja auch zu etwas mehr als einem Drittel ein Ost-Bundesland ist. Allerdings ist Berlin immer noch weit hinter den anderen Stadtstaaten zurück und, klar: Wenn die Bevölkerung stark wächst, und das ist hier jetzt wieder der Fall, wächst auch das BIP tendenziell stärker als in einer Region, die mit Bevölkerungsverlust zu kämpfen hat, ohne dass das Pro-Kopf-BIP sich wesentlich steigert. Außerdem ist es beim Wachstum nur Nr. 2 hinter Bremen gewesen. Nun aber Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Mit 1,5 Prozent und 0,2 Prozent sind diese beiden Länder im Osten sogar unterdurchschnittlich gewachsen. Damit wird man natürlich niemals an die Westländer herankommen, auch wenn einzelne von ihnen im Jahr 2022 noch schwächer bzw. zwischen diesen beiden Werten abgeschnitten haben.

Auffällig ist also im Ganzen nicht, dass der Osten sich deutlich verbessert hat, sondern vor allem, dass die Stadtstaaten deutlich zugelegt haben: zwischen 4,5 Prozent (Hamburg) und 5,1 Prozent (Bremen), dazwischen liegt Berlin mit 4,9 Prozent.

Die Erfolgsstory wird auf einem anderen Gebiet sichtbarer, die etwas den Spin von den langen Anfahrtswegen und der notwendigen räumlichen Nähe für die Ballung von Wirtschaftspower infrage stellt: Natürlich liegt es auch am Bevölkerungsschwund im Osten, aber in Sachen Arbeitslosigkeit sind durchschnittlich 34 Prozent mehr als im Westen nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass sie Ost-Bundesländer einst weit, weit zurück waren, allesamt am Ende der Liste versammelt und gut zweistellige Arbeitslosenquoten aufwiesen. Der deutsche Durchschnitt gemäß der leider geschönten BA-Statistik beträgt 5,4 Prozent, Sachsen, Brandenburg und Thüringen liegen fast exakt auf diesem Durchschnittsniveau, nur Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern mit 7,2 und 7,5 Prozent etwas darüber. Allerdings, was den Stadtstaaten zugutekommt, die hoch wertschöpfenden Arbeitsplätze, ist auch deren Mangel, nämlich, alle Einwohner:innen mit solchen Arbeitsplätzen zu versorgen, deshalb liegen die Stadtstaaten hier alle ganz hinten (Platz 12 für Hamburg, Platz 15 für Berlin, Bremen ist das Schlusslicht) und diese sind nun einmal mehrheitlich westliche Bundesländer.  

Es gibt eine weitere gute Nachricht für den Osten. Was in der Grafik zu sehen ist, wie die schwache F+E-Struktur im Osten, ist natürlich strukturell. Aber wenn man die Zeit seit 1991 betrachtet, ist das BIP in Deutschland durchschnittlich um 143 Prozent gewachsen, in den Ost-Bundesländern hingegen zwischen 267 und 351 Prozent. Es gibt also auf lange Sicht einen klaren Aufholeffekt, bedingt auch durch die niedrige Ausgangsbasis nach der DDR-Inventur, die erbrachte, dass das BIP pro Kopf dort wesentlich geringer war, als die SED-Staatsführung es in den 1980ern angegeben hatte. Demnach wäre es höher als in Frankreich gewesen und die OECD hat diese Daten tatsächlich übernommen – ein Paradebeispiel dafür, dass man auch heute Zahlen von Diktaturen wie der chinesischen mit Vorsicht begegnen wollte.

Die spannende Frage ist allerdings, ob der Osten weiter aufholen wird. Wir haben jetzt nicht nachgeschaut, inwieweit das Aufschließen erlahmt, aber so deutlich sind die Differenzen derzeit nicht mehr, wie sie zwischenzeitlich gewesen sein müssen, damit die Ost-Bundesländer durchschnittlich ein doppelt so starkes Wachstum aufwiesen wie die im Westen, natürlich auch gefördert durch den Westen, unter Verzicht des Westens, dessen Infrastruktur heute vielfach maroder ist als in den Neuen Bundesländern, und gefördert durch die EU, das wollen wir hier nicht ganz vergessen.

Wie wird es also weitergehen? Das ist sehr spannend, denn wenige große Industrieansiedlungen oder Schließungen von Werken können so viel verändern. Was wäre Niedersachsen zum Beispiel ohne Volkswagen? Manche Bundesländer sind breit aufgestellt, andere sehr von wenigen großen Unternehmen abhängig. Wir müssen wirklich alle zusammen aufpassen, dass die Industrie-Infrastruktur erhalten bleibt und darauf dringen, dass es in Deutschland endlich zu einer konzeptionell-strategischen Wirtschaftspolitik kommt. Das ist eine ost-westliche Gemeinschaftsaufgabe, die zu einseitig ausgerichtete Industrie endlich zukunftssicher zu machen und breiter und innovativer aufzustellen. Sonst werden wir bald nur noch abzugleichen haben, wo die Wirtschaftskraft weniger sinkt, im Westen oder im Osten. Und wir haben die Befürchtung, dass, wenn es um den Kern geht, der Westen letztlich stabiler sein wird, weil dort die Zentralen fast aller großen deutschen Firmen angesiedelt sind, weil dort mehr investiert, geforscht und entwickelt wird.

Uns stellt sich das Bild so dar, dass die gesamtdeutschen Herausforderungen längst die weitaus größeren sind, auch wenn die vollkommene Angleichung von Ost und West immer noch nicht erreicht ist, das ist ja auch innerhalb des früheren Westgebiets nie ganz gelungen. Politisch sind die Abweichungen leider auch erheblich, aber vielleicht lassen sich die Wogen noch glätten, bevor Ost und West sich wieder trennen müssen, weil im Osten doch die Ansicht vorherrscht, eine Rehtsdiktatur wäre das, was jetzt nottut, im Westen sich diese Meinung aber nicht als mehrheitsfähig erweist. Was passiert eigentlich bei einer erneuten, dieses mal freiwillligen Teilung à la Tschechei und Slowakei mit Berlin? 

TH


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