Wie antisemitisch ist Deutschland? (Statista + Leitkommentar / Gewalt, Meinung, Demo, Justiz) | Briefing 327 | Gesellschaft

Briefing 327 Gesellschaft | Entwicklung des Antisemitismus und antisemtischer Gewalt in Deutschland, Rechtstrend,  Demos des Grauens, Abwanderung und falsche Zeichen durch die Justiz

Die gesellschaftlichen Friktionen nehmen in beängstigendem Maße zu und es geht immer rascher voran damit. So wirkt es im Moment. Rechtsextremismus wird hoffähig, das ist der deutlichste Eindruck innerhalb dieser Gesamtentwicklung. Wir haben bereits vor Jahren in einer eigenen Artikelserie mit dem Titel „Diskursverschiebung nach rechts“ davor gewarnt. Wie aber sieht es mit dem Antisemitismus aus – nimmer auch er zu?

Infografik: Wie antisemitisch ist Deutschland? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

7,2 Prozent der für die Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 in Deutschland befragten Menschen glauben, dass „der Einfluss der Juden zu groß“ ist. Weitere 21,6 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage zumindest teilweise zu. Ähnlich sieht es bei zwei weiteren antisemitischen Stereotypen aus, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Indes sind diese Einstellungen im Vergleich zu den vorherigen Ausgaben der Studie rückläufig. So stimmten der Aussage zum Einfluss der Juden beispielsweise 2018 noch rund zehn Prozent der Teilnehmer:innen zu.

Ein Grund zur Entwarnung ist die anscheinend abnehmende Verbreitung traditioneller antisemitischer Einstellungen aber nicht, wie die Statistiken zur politisch motivierten Kriminalität in Deutschland deutlich machen. Demnach gab es im vergangenen Jahr hierzulande 88 gewaltsame Übergriffe auf jüdische Mitmenschen. Auch die Gesamtzahl der antisemitischen Delikte ist in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen. Die Taten sind mehrheitlich (84 Prozent) Täter:innen aus dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen.

Für uns war es durchaus überraschend und wir waren auch ein wenig erleichtert darüber, dass sich zumindest der „Meinungs-Antisemitismus“ als aus historischen Gründen herauszuhebende Form des Rassismus nicht weiter ausgebreitet hat. Das wirkt in der Tat wie eine Art Gegen-Tendenz zu der allgemein immer mehr zugespitzten politischen Diskussion. Aber im obigen Text wird auch auf die zunehmende Gewalt verwiesen, was wiederum dem Trend entspricht: Menschen mit extremen Einstellungen, vor allem Rechtsextreme, sind immer häufiger bereit, diese Einstellungen in Gewalt münden zu lassen. Das wiederum bedeutet, die Sicherheitslage nicht nur für Juden in Deutschland, aber auch für sie, verbessert sich nicht, sondern verschlechtert sich. Da der überwiegende Teil der antisemitisch motivierten Straftaten rechtsextremen Täter:innen zuzuordnen ist, handelt es sich hier auch nicht um den „neuen Antisemitismus“, der Menschen mit muslimischem Hintergrund gerne zugeschrieben wird.

Die Tendenz zu mehr Gewalt ist generell besorgniserregend, aber dass der gewaltsame Antisemitismus trotz der deutschen Geschichte nicht ab-, sondern zunimmt, und zwar von Seiten sogenannter „Biodeutscher“, die rechtsextrem sind, ist besonders beschämend und macht klar, wie wichtig es ist, dieses „das wird man doch mal sagen dürfen“, das sich leicht in „hier muss man es auch tun“ wandelt, zu bremsen und die Waffen zu schärfen, die der Justiz und der Exekutive von der Verfassung dafür an die Hand gegeben wurden.

Es gibt eine ethisch alles andere als saubere Form von Pazifismus, die schon in der Außenpolitik gerne dafür verwendet wird, Überfälle auf andere zu legitimieren, wenn sie ins verengte Weltbild passen – es gibt ihn aber auch nach innen. Er kommt gerne im Gewand der Ausübung der Meinungsfreiheit daher, die aber leider missbraucht wird, um rechtsextreme Ansichten ungestraft äußern zu dürfen.

Wir beobachten immer wieder, dass Justiz und ausführende Gewalt zu lasch sind, wenn es um die Bekämpfung dieser Tendenzen geht, die dann in Gewalt münden und die Demokratie unterhöhlen. Wenn es zu Gewalt kommt, ist immer schon etwas schiefgelaufen. Das trifft auf jede Gewalt zu, aber antisemitische Gewalt ist in besonderem Maße ein Seismograph für den Zustand der Gesellschaft. Deswegen nehmen wir den Rückgang des „Meinungs-Antisemitismus“ oder der antisemitischen Einstellungen weiter Bevölkerungskreise zur Kenntnis, aber sehen, wie es auch im Text oben angedeutet wird, keinen Grund zur Entwarnung.

Wir schauen uns gerade die vierte Staffel der Serie „Babylon Berlin“ an, in der es auch um Gewalt gegen jüdische Menschen und ihre wirtschaftliche Existenz geht kurz vor der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 geht. Diejenigen, die ungestraft Gewalt ausgeübt haben und es durften und zum Beispiel trotzdem nicht aus dem Staatsdienst entfernt wurden, wie wir das hier sehen, haben dort, wo Macht im Kleinen und Größeren ausgeübt wird, letztlich auch das Klima erzeugt, in dem es zum schrittweise eingeleiteten Holocaust kommen konnte. Dieser wurde nach unserer Auffassung von einer Mehrheit der damaligen Bevölkerung in Deutschland zumindest nicht zum Anlass genommen wurde, das Nazi-Regime wenigstens zu hinterfragen, das sich alsbald etabliert hatte.

Die Nürnberger Rassegesetze von 1935 waren bereits das institutionalisierte Unrecht, die in Paragrafen gegossene Barbarei, die in Form von Rechtsnormen daherkam und drastisch aufzeigte, wie unrecht das Recht sein kann. Die Mehrheit fand die damit einhergehende Legitimierung von rechtsextremen Ansichten und rechtsextremer Gewalt ganz in Ordnung. Die Stimmung schwenkte erst um, falls überhaupt, als klar wurde, dass der Krieg verloren war, den Nazideutschland angezettelt hatte, nicht, weil viele Millionen Menschen, mehrheitlich jüdische Menschen, auf eine unfassbar grausame Weise umgebracht wurden. Hätte man den Krieg gewonnen, wäre das alles toleriert, ja gutgeheißen worden und hätte sich fortgesetzt, bis die letzten Juden in Europa getötet worden wären.

Wir haben uns lange geweigert, die heutigen Zustände in Deutschland allzu sehr mit den Entwicklungen von damals gleichzusetzen. Mittlerweile müssen wir das relativieren: Natürlich, es geht alles langsamer, die Demokratie fällt nicht so schnell wie die der Weimarer Republik. Die Geschehnisse von damals werden sich auch nicht exakt wiederholen, das tut die Geschichte entgegen dem anderslautenden geflügelten Wort nie.

Aber auch dann, wenn es nicht so extrem weit kommt, kann es zu massivem Unrecht kommen. Es muss nicht durch Gesetze abgesichert werden, wie vor fast 90 Jahren, um Raum zu greifen und Menschen der Gewalt und dem Tod auszusetzen. Es geht auch nicht um die Dimensionen, sondern darum, dass es überhaupt wieder geschehen kann. „Niemals wieder!“, das haben sich die Überlebenden von einst zu eigen gemacht und setzen sich dafür überall auf der Welt ein. Es ist leichter, das zu verstehen, wenn man auch als Angehörige:r des Tätervolks diesen Leitsatz „Nie wieder!“ verinnerlicht , ihn als richtig erkennt und aktiv tätig wird, wenn es zu Übergriffen kommt. Ja, das ist schwer und es fällt uns auch schwer, zu Zivilcourage aufzurufen, wo wir uns selbst nicht sicher sind, wie wir handeln würden, wenn zum Beispiel ein gefährlicher rechter Mob auf ein einzelnes Opfer losgeht. Indes gibt es viele Wege und Möglichkeiten, dem vorzubeugen.

Das ist eine Aufgabe für die gesamte Zivilgesellschaft, und der muss sie sich stellen, wenn sie ethisch glaubwürdig sein und das Gefühl vermitteln will, dass Deutschland sich nicht in barbarischer Raserei von jedweder Zivilisation verabschieden will. Ohne ein klares Bekenntnis zu diesem „Nie wieder!“ glauben wir niemandem, der sich selbst als politisch versiert, als kenntnisreich, die Zusammenhänge verstehend und als ethisch einwandfrei handelnd und denkend darstellt.

Am 33. Tag der Einheit, dem 3. Oktober 2023, waren wir in Berlin-Mitte unterwegs und sind zufällig auf eine Demonstration getroffen, die sich neben dem Dom auf der Wiese festgesetzt hatte, nach Medienschätzungen ca. 5.000 Menschen. Russlandfahnen, Friedenstauben, AfD-Teams, AfD-Hetzredner, Leugner von allen möglichen Tatsachen vereint und sich selbst zu Held:innen gegen das „Establishment“ stilisierend.

Wir wissen, dass „Establishment“ bei einigen Extremisten und Verschwörungstheoretikern auch eine Chiffre für  jüdische Menschen ist, denen man einen zu großen Einfluss zurechnet. 

Die Plakate und Fahnen, die stolz emporgehalten wurden,und der Blick in die Gesichter haben uns teilweise erschreckt. Wir haben Fotos gemacht, gefilmt, wissen aber noch nicht, ob wir daraus einen Artikel fertigen werden. Wir gehen jede Wette ein, dass unter den dort versammelten Menschen auch der Antisemitismus weit mehr als in der obigen Studie verbreitet war. Und dieses Freidrehen kommt nicht aus dem Nichts, sondern wird  von deutschen Institutionen befeuert. 

Haben Sie mitbekommen, dass vor einiger Zeit, als es um die Corona-Demos ging, ein Gericht das Tragen des gelben Judensterns durch Corona-Impfgegner, die sich mit Opfern des Holocausts gleichsetzen wollen, als Meinungsäußerung durchgelassen und nicht sanktioniert hat? Wir empfinden dieses Urteil als ein ganz falsches Zeichen. So trägt auch eine mindestens ignorante Justiz dazu bei, dass der rechte Auftrieb, der auch den Antisemitismus aktiv einschließt, indem die Verhöhnung von Opfern der Shoah durch angemaßte Widerstandskämpfer:innen gegen jedweden staatlichen Eingriff, und sei er noch so sinnvoll, als  erlaubt gilt und damit gesellschaftsfähig wird.

Judenstern und Impfgegner: Keine Volksverhetzung, keine Beleidigung

Und das ausgerechnet vom OLG Saarbrücken. Es ist natürlich im Ergebnis egal, welches Gericht so verfahren ist, aber zum ersten handelt es sich um ein höherinstanzliches Urteil, zweitens: Wir nehmen besonders teil und schämen uns besonders, auch nach fast 20 Jahren der Abwesenheit noch, wenn in unserer alten Heimat etwas so schiefläuft, wo wir außerdem unsere juristische Grundausbildung erhalten haben. Ein Dank aber an den rechtskundigen Verfasser des Artikels, der dazu die richtige Ansicht geäußert hat: Sowohl die Opfer des Nazi-Regimes als auch Widerstandskämpfer:innen gegen das Nazi-Regime werden durch diese Gerichtstenscheidung im Grunde ebenso verhöhnt wie durch die heutigen Judenstern-Träger:innen und es kommt zu einem Satz, der Sie an eine Formulierung weiter oben in unserem eigenen Text erinnern wird:

Das Urteil des OLG Saarbrücken ist Wasser auf die Mühlen der „Das wird man wohl noch sagen dürfen“-Szene, ein „Innerer Reichsparteitag“ – um eine zumindest in Teilen dieser Kreise recht beliebte Formulierung zu verwenden.

Am 3. Oktober haben wir niemanden mit Judenstern gesehen, aber was wir gesehen haben, hat ausgereicht, um unsere Sorge bezüglich der Entwicklung dieses Landes zu verstärken.

Unsere Begleitung hat uns dann von der Demo weggezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat und angefangen, übers Auswandern mit uns zu diskutieren. Ganz abwegig finden wir die Idee nicht, zumal wir einen früheren Auslandsaufenthalt immer noch als sehr angenehm im Vergleich zum Leben in Deutschland in Erinnerung haben.

Hätten wir die gegenwärtige Lage in Deutschland beim Entschluss zur Rückkehr vorausgeahnt, hätten wir uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden. Auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland schrumpft mittlerweile nach langjährigen, maßvollen Zuwächsen durch Übersiedlungen aus Osteuropa wieder. Das ist so, weil zu viele Menschen jüdischen Glaubens hier keine Zukunft mehr für sich sehen. Wir finden das sehr traurig, ja bestürzend. Das Zivilisationsbarometer steht auf Sturm und es hilft nicht, es von der Wand abzunehmen und in der hintersten Ecke einer Schublade zu verstauen. Auch wenn er dann nicht mehr aktuell sein wird, der Artikel über die Demo vom 3. Oktober 2023 muss wohl sein. 

TH

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