Vor der #ltwHessen2023 #Hessenwahl 2023: Unser Wahl-O-Mat mit Überraschung und Analyse, Historie, NSU 2.0, aktuelle Trends: Bewährungsprobe für die Demokratie | Briefing 328 | PPP (Politik, Personen, Parteien)

Briefing 328 PPP | Hessenwahl am 8. Oktober 2023 | Unser Wahl-O-Mat-Ergebnis, Trends, Die Linke und die Grünen im Fokus, alle unsere Positionen, Historie und Umfragetrends

Jetzt hätten wir’s beinahe verpasst. Nämlich auch den Wahl-O-Mat für die Hessenwahl morgen auszufüllen. Dabei ist es doch seit 2021 so, dass wir keine Wahl ausgelassen haben, um unsere Positionen mit denen der politischen Parteien in Deutschland abzugleichen.

Hier zunächst etwas zu den Personen , welche die Parteien in die Wahl führen werden, und den Trends, letztere referieren wir weiter unten ebenfalls noch einmal.

Es war leider auch langweilig. So langweilig, dass wir uns erst einmal einen Kaffee machen mussten, weil wir zwischen dem Ausfüllen der Fragen und dem Verfassen dieses Artikels über der Tastatur eingeschlafen sind. Okay, die Wahrheit ist: Es herrscht niedriger Luftdruck, trübes Wetter, es ist Nachmittag, da macht uns der Biorhythmus die maximale Agilität regelmäßig zunichte. Trotzdem waren wir erstaunt, wie viele mit der Bayernwahl übereinstimmend gestellte Fragen im Hessen-Wahl-O-Mat enthalten waren Gab es überhaupt Unterschiede? Doch, ein paar kleinere. Aber hier zunächst unser Ergebnis – und bei dem gab es überraschenderweise größere Unterschiede zum Bayern-Wahl-O-Mat, vor allem eine Partei betreffend, die zu den wichtigeren in Deutschland zählt:

Die Grünen liegen bei uns regelmäßig nicht auf Platz 1, was wir auch richtig finden. Wir sind politisch und sozial, anders als nach unserem Umzug nach Berlin vor fünfzehn Jahren, als wir die Grünen zunächst gewählt hatten, keine Grünwähler mehr. Die Grünen sind aber auch nicht mehr das, was sie mal waren. Hessen! Das muss Grünen-Historikern doch etwas sagen. Dort sind sie nämlich 1982 erstmals in einem Landtag eingezogen. Es war ein Hype, mit Strickzeug, Blumentöpfen und anderen damals typischen grünen Accessiores auf den Bänken und mit Joschka Fischer in Turnschuhen.

Die wohl konservativsten Grünen aller Zeiten

Warum aber kommen die Grünen bei uns dieses Mal nur auf 51 Prozent? Um das zu analysieren und allgemein unsere einzelnen Positionen darzustellen, haben wir zu einem detaillierten Bild gegriffen. Die Auflösung mussten wir schrumpfen, weil sie sonst die  hier üblichen Maßstäbe gesprengt hätte:

 

60-70 Prozent sind doch normalerwiese immer drin. Die Antwort ist deprimierend. Und zwar die Entwicklung der Grünen betreffend. Noch nie haben gesehen, dass Grüne in einem Bundesland so viele konservativ-neoliberale Positionen vertreten wie in Hessen. Um sich abzusetzen, ist die FDP übrigens besonders neoliberale-radikal und findet sich deswegen auch am Ende unserer Parteienliste wieder. Bei unserer konservativsten Position im gesamten Spektrum der politischen Themen, dem Bildungswesen, hat uns der Grün-Konservativismus sogar zusammengeführt: Wir wollen beide nicht, dass das dreigliedrige Schulsystem aufgegeben wird. Bei uns gehört allerdings hinzu: Solange sich die Qualität der Bildung nicht insgesamt verbessert und Inklusion wirklich gelebt werden kann und nicht den Bildungscrash noch härter macht, als er eh schon ist. Im Grunde ist das schon wieder eine progressive Position.

Die Grünen wollen mit der CDU zusammen die NSU-Aufklärung behindern

Dass die Grünen nicht darauf hinwirken wollen, dass der in Hessen mega-teure ÖPNV günstiger wird, dass das Schulessen kostenfrei wird, was für ärmere Haushalte so wichtig ist, dass sie hingegen abschieben wollen, wo technisch möglich, dass sie die in diesen Zeiten wirklich dumme Schuldenbremse mittragen wollen, dass sie Bürgergeldempfänger:innen in jeden Drecksjob pressen wollen, dass hingegen ausbildungsunwillige Unternehmen keine Ausbildungsabgabe zahlen sollen (Ausbildungplatzsverweigerungs-Ausgleichsabgabe wäre der korrekte, typisch deutsche Begriff), dass die einstigen Basisdemokraten gegen die Vereinfachung der Volksentscheide sind, die Fünfprozent-Hürde behalten wollen, weil sie ja regelmäßig darüber sind (vielleicht werden die Partei-Kolleg:innen im Osten das nächstes Jahr gar nicht so witzig finden), dass sie gegen eine prioritäre Förderung der ökologischen Landwirtschaft sind (!), das ist alles ganz schön schlimm.

Aber dass sie die NSU-Akten nicht rausrücken wollen, das ist der Knaller, die Spitze von allem, dieses Thema haben wir auch doppelt gewichtet. Mal wieder grüne Politiker:innen oder Freunderln bei der Polizei involviert? Irgendwie können wir jetzt auch das Thema „Hasskriminalität, Befugnisse der Polizei“ zur Bekämpfung so einordnen, daran sind die Grünen wieder mal selbst schuld. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben wollen, nennt man das. Es ist zu befürchten, dass die rechten Strukturen bei der Polizei damit noch besser gedeihen können, indem noch  mehr Unschuldige anstatt der wahren Täter in deren Visier genommen werden.

Das war auch eines der wenigen Themen, die es im Bayern-Wahl-O-Mat nicht gab. Klar hätten wir das Ergebnis für die Grünen freundlicher gestalten können, indem wir zum Beispiel gegen den Abzug von US-Truppen anstatt dafür gestimmt hätten, im gleichen Maße hätte die führende Linke verloren.

Dann gibt es noch ein paar Positionen, die wir mit neutral gewertet haben, weil sie uns nicht so wichtig waren, aber es ist so typisch: Klar sind die Grünen für Parität bei den Wahllisten und überhaupt, aber bei den wirklich harten sozialen Themen schmieren sie ziemlich ab. Es ist symbolisch für das, was viele Linke den Grünen zu Recht vorwerfen, auch wenn sie nicht gerade Sahra Wagenknecht heißen und damit auch möglicherweise gar nicht so links sind.

Stabil links und noch einmal der Fall NSU, jetzt NSU 2.0

Deswegen steht auch die besonders Wagenknecht-ferne hessische Linke trotzdem zuverlässig auf Platz 1. Wir würden vermutlich Die Linke wählen, wenn wir in Hessen wählen dürften, ohne deren Möglichkeiten und deren Personal jetzt genauer unter die Lupe zu nehmen, ob es dafür steht. Die aktuelle Bundes-Co-Vorsitzende Janine Wissler war jedenfalls Chefin der dortigen Landtragsfraktion, bevor sie in die Bundespolitik ging. Und jetzt kommen wir noch einmal zum NSU zurück:

Wissler gehört zu den Betroffenen des hessischen Polizeiskandals. Im Sommer 2020 wurden rechtsextremistische Morddrohungen bekannt, die unter Verwendung von Daten aus vertraulichen Abfragen von einem Polizeicomputer im Februar 2020 gegen sie lanciert worden und mit dem Kürzel „NSU 2.0“ gezeichnet waren.[37] Im Juli 2020 erhielt sie zusammen mit weiteren hessischen Politikern sowie zwei in Berlin tätigen Politikerinnen der Linkspartei erneute Drohmails dieser Machart und sprach von einer klaren Bedrohung gegen ihr Leben.[38][39]

Diese Sache ist, wie wir wissen, ganz aktuell und Jan Böhmermann und Frag den Staat mischen sich in dieser Angelegenheit auch aktiv in den hessischen Wahlkampf ein, indem sie den Finger in die Wunde legen, und am tiefsten scheint die Wunde in einem Frankfurter Polizeirevier zu sein, in dem es einen rechten Chatraum gibt und aus dem heraus sensible Daten an Drohbriefschreiber gelangt sein könnten. Dass hier die Grünen blockieren, während die Linke, wie wir, ein erhebliche, in deren Fall  natürlich auch persönlich bedingtes Aufklärungsinteresse hat, stellt folgende Frage an die Grünen: Wie sieht es bei euch mit der demokratischen Statur aus? Projekte gegen rechts fördern, na klar, das möchten wir auch. Aber rechte Strukturen in der hessischen Polizei aufdecken? Lieber nicht. Typisch grüne Doppelstandards.

Der NSU 2.0 hatte eine Linke im Fokus, die uns politisch relativ nah steht, weil sie aus dem trotzkistischen Flügel der Partei kommt. Dass sie trotzdem nicht mit Wagenknecht kann, wie alle anderen Parteiführungen seit Jahren, egal, aus welchem linken Cluster sie hervorgetreten sind, sagt viel über Wagenknecht und weniger über Wissler, die also innerhalb der Linken eher für einen linken Kurs steht.

Deswegen war es auch logisch für sie, den Abzug der US-Truppen zu befürworten, die NATO infrage zu stellen. Ersteres teilen wir, Letzteres nicht in dem Maße. Wir müssen von den USA unabhängiger werden, anstatt uns, wie gewisse Grünen-Politiker, dadurch lächerlich zu machen, dass wir diese an weltweiter Rechthaberei und Doppel-Standardisierung überholen wollen, ohne aber deren Druckmittel in der Hand zu haben, um Positionen auch durchzusetzen. Wir wollen nicht weiter vertiefen, warum das trotzdem problematisch ist, wir sind ja bei der Hessenwahl.

Zuweilen war es in der letzten Zeit so, dass Die Linke zwar bei uns ganz vorne stand, wir aber trotzdem Bedenken geäußert hatten, sie zu wählen. Bei der hessischen Landtagswahl geht es aber wieder zusammen: Wir wüssten nicht, wem wir unsere Stimme sinnvoller geben sollten, denn es geht auch darum, ob überhaupt eine linke Partei im Landtag vertreten sein wird, und das kann nur Die Linke sein. In Berlin beispielsweise sieht das anders aus, da ist diese Partei nicht so sehr auf jede Stimme angewiesen und wir könnten auch mal unserem Unmut über das, was bisher geschah, Luft machen und eine linke Kleinpartei mit unseren Stimmen ausstatten. Dass die Politik hier mit der schwarz-roten #Rückschrittskoalition noch schlechter wird, war eh abzusehen. Aber Hessen tickt offenbar insgesamt weitaus konservativer.

Natürlich, die Grünen und die CDU regieren in Hessen zusammen, das macht alles viel schwärzer, deshalb ist das neue Dunkelgrün der Grünen auch so logisch. Es steht dem Schwarz viel näher als die bisherige Leuchtfarbe. Diese Regierungskonstellation werden wir noch häufiger sehen und sie wird dem Land den Aufbruch geradezu wegsaugen, den es dringend braucht – auf ganz Deutschland bezogen.

Risse in der Demokratie?

Der aktuelle Wahltrend in Hessen spricht sogar dafür, dass diese Koalition fortgeführt werden kann, denn die CDU wird möglicherweise gegenüber der letzten Wahl 2018 sogar leicht zulegen, Landtagswahl Hessen: Neueste Wahlumfragen im Wahltrend | Sonntagsfrage #ltwhe (dawum.de), die Grünen ein wenig verlieren, beides in ähnlichem Maße. Für alle anderen außer die AfD sieht es schlecht bis beschissen aus. Die SPD wird vermutlich ihr bisher schlechtes Wahlergebnis in Hessen, das sie 2018 erzielt, noch einmal unterbieten und die Linke dürfte Mühe haben, nach 6,3 Prozent beim letzten Mal, den Einzug in den Landtag noch einmal zu schaffen. Insofern klar, dass sie für die Abschaffung der Fünfprozenthürde ist. Die AfD hatte schon 2018 mit 13,1 Prozent ein bedenklich gutes Ergebnis erzielt und wird es jetzt vermutlich toppen. Wenn sie vor der SPD einläuft, ist das für ein westdeutsches Bundesland ein wirkliches Desaster – und vielleicht wird sie zweitstärkste Partei. Der aktuelle Wahltrend sieht so dass man das nicht ausschließen kann.  

Wenn wir also immer auf den Osten schauen wie das Kaninchen auf die Schlange, müssen wir festhalten, dass es im Westen zwar noch nicht nach Unvermeidbarkeit der AfD aussieht, wohl aber könnte es bei den anstehenden Wahlen zu neuen Bestwerten in ihrer bisherigen Geschichte kommen, während die anderen Parteien auch hier keine sinnvollen Antworten finden. Bis auf die CDU, muss man sagen, die offenbar aus Gründen, die in Hessen selbst liegen, ein bisschen besser auszusehen scheint als vor fünf Jahren, als sie für ihre Verhältnisse ebenfalls ein sehr schwaches Ergebnis von 27 Prozent erzielte. Grüne und SPD lagen damals mit je 19,8 Prozent quasi gleichauf, die Grünen hatten aber ein paar Stimmen mehr erhalten. Für die SPD bedeutete dieses Ergebnis einen Verlust von fast 11 Prozent, für die Grünen einen Gewinn von nahezu 9 Prozent. Trotzdem hatte die SPD damals noch doppelt so viele Wahlkreise gewonnen wie die Grünen (10/5).

Kaffee getrunken, wach geworden

Im Grunde ist die Hessenwahl spannender als die Bayernwahl, denn im Freistaat ist klar, dass die CSU eine neue Regierung anführen wird und vermutlich wird es die alte sein. Auch der Zusammenbruch vieler demokratischer Parteien unter dem Rechtsruck ist dort schon besiegelt. In Hessen hingegen ist noch manches offen, trotz der vermutlichen bzw. ebenso wie in Bayern überwiegend wahrscheinlichen Fortsetzung der aktuellen Regierung. In Bayern werden die Freien Wähler und die CSU die AfD vermutlich in Grenzen halten können, aber in Hessen gibt es trotz der strukturkonservativen Positionen auch der Grünen dort keine Gewähr dafür, dass die Blauen nicht ziemlich weit vorne landen werden.

Einst in Hessen

Bayern ist sowieso immer schon stabil rechts gewesen, in Hessen hingegen hat, man mag es kaum glauben, auch einmal die SPD regiert. Es war die verpatzte Situation nach der Wahl 2008, die der SPD dort das Genick brach. In den 1990ern war Rot-Grün in Hessen Normalität, unter Ministerpräsident Hans Eichel, der dann als Verlierer der Wahl 1999 ins Bundeskabinett rücken durfte. Schon in den 1980ern war Hessen das erste Bundesland, in dem es zu einer rot-grünen Landesregierung kam. In den 1950ern und 1960ern war Hessen sogar ein ganz und gar rotes Land, mit einem heute kaum noch bekannten Ministerpräsidenten namens Georg-August Zinn an der Spitze, der aber in Hessen offenbar sehr viele Wähler:innen überzeugen konnte, denn die CDU kam nicht einmal in der Hochphase der Adenauer-Bundesregierung in Hessen auf wesentlich  mehr als 30 Prozent. Insofern muss die CDU aktuell nicht so weinen wie die SPD, wenn sie auf ihre Hessen-Historie zurückblickt.

Was wir im vorherigen Absatz referiert haben,  wirkt heute wie lange vergangen und niemals mehr möglich, aber es entspricht auch dem Zeitgeist: So, wie Grünen heute locker mit der CDU können und dabei reihenweise deren konservative Positionen übernehmen, werden wir es fast alle noch erleben, dass die „Brandmauer“ der CDU  zur AfD hin endgültig zusammenbricht. Was wird dann eigentlich im Westen passieren, wenn nur eine Koalition Schwarz-Blau-Grün zu einer stabilen Regierungsmehrheit führen würde? Wir halten die Grünen für prinzipienlos genug, auch da eines Tages, nun ja, dunkelgrünscharzblaues Licht zu geben.

Morgen wird sich die Frage in Hessen wohl noch nicht stellen, aber jede künftige Landtagswahl wird auch eine Bewährungsprobe für die Demokratie werden. Leider sind die Zeiten so ernst.  

TH

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