Tag der seelischen Gesundheit: „Fehltage wegen kranker Psyche erreichen neuen Höchststand“ (Statista + Kommentar) | Briefing 329 | Gesellschaft, Gesundheit

Briefing 329 Gesellschaft | Fehltage wegen psychischer Erkrankungen, Welttag der seelischen Gesundheit

Sind Sie schon einmal wegen einer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig geschrieben gewesen? Dann gehören Sie zu einem Kreis, der sich zuletzt erheblich vergrößert hat. Schon vor zehn Jahren überholte bei der Feststellung von Berufsunfähigkeiten der psychische Tatbestand den körperlichen zahlenmäßig.

Corona hat den Trend zur Krankschreibung wegen psychischer Erkrankung massiv befeuert, aber neu war er schon vorher nicht, wie die Grafik zeigt:

Infografik: Fehltage wegen kranker Psyche erreichen neuen Höchststand | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Rund 301 Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Versicherte aufgrund psychischer Erkrankungen zählt der DAK-Psychreport 2023. Damit hat die Fehltagestatistik der Krankenkasse im Corona-Jahr einen neuen Höchststand erreicht.

Als Ursache für den Anstieg kommt laut DAK-Pressemitteilung unter anderem die elektronische Meldung der Krankschreibungen infrage. „Seit Anfang 2022 gehen Krankmeldungen von den Arztpraxen direkt an die Krankenkassen und müssen nicht mehr von den Versicherten selbst eingereicht werden. Durch die sogenannte eAU tauchen nun auch Krankheitsfälle in der Statistik auf, die in der Vergangenheit nicht erfasst wurden, weil die gelben Zettel bei den Versicherten liegenblieben.“

Die meisten Fehltage entfallen auf Depressionen (118 Tage je 100 Versicherte). Dahinter folgen Fehlzeiten aufgrund von Anpassungsstörungen (77 Tage je 100 Versicherte). Zu den weiteren relevanten Diagnosen zählen chronische Erschöpfung (34Tage je 100 Versicherte) und Angststörungen (23 Tage je 100 Versicherte). Generell werden Frauen häufiger auf Grund von psychischen Erkrankungen krankgeschrieben.

Zum Tag der seelischen Gesundheit:

Der Internationale Tag der seelischen Gesundheit wird jährlich am 10. Oktober begangen und wurde 1992 von der World Federation for Mental Health ins Leben gerufen1Die Aktionswoche zur seelischen Gesundheit findet vom 10. bis 20. Oktober 2023 statt2Das diesjährige Motto lautet “Zusammen der Angst das Gewicht nehmen” und setzt sich mit dem Thema Ängste in Krisenzeiten auseinander3Die Aktionswoche möchte auf die unterschiedlichen Strategien zur Bewältigung und auf das vielfältige psychosoziale Hilfsangebot in Deutschland aufmerksam machen sowie zum gemeinsamen Austausch und gegenseitiger Unterstützung aufrufen2.

Wir lassen einmal die Erklärung der DAK bezüglich des erheblichen Anstiegs 2022 weitgehend außer Acht. Möglich, dass die Verfahrensänderung bei der Krankschreibungsweiterleitung bei dem sehr starken Anstieg im Jahr 2022 eine Rolle spielt, aber gewiss erklärt sie nicht den bereits beachtlichen Anstieg von Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen in den Jahren zuvor seit Anfang der 2000er.

Interessanterweise bliebt die Zahl der Erkrankungstage pro versicherter Person während der Schröder-Ära (2. Kabinett) weitgehend gleich, stieg mit dem Beginn der Kanzlerschaft Merkel an und es gab einen ersten Boom im Jahr der Finanzkrise, danach einen weiteren Anstieg bis 2017-18, da beruhigte sich die Lage auf hohem Niveau – und dann kam Corona. Wird die Zahl nun 2023 zurückgehen? Vielleicht ein wenig, aber wir sagen voraus, dass besonders im Bildungs-, im  Gesundheitssystem und im Bereich der Sozialen Arbeit die Lage kaum besser werden wird. Überlastung allerorten, das sind die persönlichen Gründe. Immer weiter zunehmender Leistungsdruck. Hinzu kommt der allgemeine Krisenstress, der sich immer mehr festfrisst. Sollte noch Unsicherheit in der Industrie und in den Dienstleistungsunternehmen bezüglich der Zukunft der Arbeitnehmenden hinzutreten, wird es einen weiteren Schub geben.

Das kranke neoliberale System lagert die Folgen seines barbarischen Umgangs mit Menschen an diese selbst aus, in dem Fall an die Gemeinschaft der Versicherten, deren Krankenkassen-Beiträge unweigerlich steigen werden, wenn diese Gesellschaft immer kränker wird. Einen Vorbehalt bezüglich der Statistik müssen wir anbringen: Die DAK-Mitglieder sind möglicherweise nicht repräsentativ für alle Versicherten. Wir könnten uns vorstellen, dass privat Versicherte etwas besser liegen in dem Sinn, dass sie weniger Fehltage haben, hingegen AOK-Versicherte noch schlechter liegen.

Der DAK-Report, auf den sich Statista bezieht, ist bereits im Februar 2023 erstellt worden, aber es ergibt Sinn, ihn zum morgigen Tag der psychischen Gesundheit zu veröffentlichen, der uns seit vielen Jahren ein Begriff und wichtig ist. Es ist gesellschaftlich von Bedeutung, auf die abnehmende psychische Gesundheit in dieser Gesellschaft hinzuweisen. Diskriminierungen wegen psychischer Erkrankungen sind lange nicht überwunden; vielmehr sagen wir auch dies voraus: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen freidrehen und panisch gegen vermeintlich oder tatsächlich Schwächere keilen, wird auch die Diskriminierung zunehmen, solange diejenigen, die andere verächtlich machen, nicht selbst erkranken. Dann sieht die Sache natürlich ganz anders aus. Wie so häufig, wenn man unerwarteterweise selbst von einem Problem oder Schicksalsschlag betroffen ist. Empathie per se ist in Deutschland hingegen selten, viele haben hier eine faschistische Charakterstruktur, an dieser Erkenntnis führt nichts vorbei, schon gar nicht nach den letzten Wahlergebnissen. Unter diesen Umständen ist die Erhaltung und Wiederherstellung psychischer Gesundheit fast ausschließlich Profis überlassen, die sich dieser Aufgabe verschrieben haben und die nicht mehr wissen, wohin mit den vielen Patient:innen.

Dieser Trend hält also seit Jahren an, aber was wird getan? Die Menschen werden immer mehr unter Druck gesetzt und die Schäden werden immer größer. Da das Kapital sie auslagern kann und sich die Gesellschaft im Sinne der Mehrheitsbevölkerung dadurch, dass sie dafür aufkommen muss, selbst zerfrisst, kann das vorerst so weitergetrieben werden. Aber was ist mit dem viel beklagten Fachkräftemangel? Wir erinnern uns an die Berichte, die während der Corona-Zeit kamen, als viele Menschen sich beruflich neu orientiert haben – um sich ihre Belastung durch Arbeit wenigstens ein bisschen zu mindern.

Wir können die Klagen des Kapitals über den Fachkräftemangel nicht mehr hören. Behandelt die Mitarbeitenden anständig, bezahlt sie anständig, bildet die Jungen gut aus und schätzt die Erfahrung der Älteren, dann wird es auch keinen Fachkräftemangel mehr geben. Dann werden auch aus dem Ausland Menschen lieber nach Deutschland kommen als bisher, die hier in der Tat in manchen Bereichen gebraucht werden, um die Löcher zu füllen, die dadurch entstehen, dass geburtenstarke Jahrgänge in den Ruhestand gehen und geburtenschwache Jahrgänge nachrücken. Deutschland ist trotz der im Weltvergleich immer noch überdurchschnittlich guten formalen Arbeitsrechte und der vergleichsweise sicheren Arbeitsplätze bei auswanderungswilligen Fachkräften  nicht beliebt.

Das liegt an der Wahrnehmung der hiesigen Gesellschaft, die man, wenn man es zuspitzt, nicht nur als fremdenfeindlich, unvorbereitet, rückständig, sondern generell als menschenfeindlich bezeichnen kann. Gerade bei Bullshit-Jobs in Großstädten gilt das auf den ersten Blick nicht, aber dort, wo die wirkliche Wertschöpfung erbracht wird, wie in Industrie und Handwerk, herrscht ein weitgehend gestriger Geist vor, der sich nun auch politisch immer mehr Luft macht. Das schadet natürlich dem Standort, das schadet dem Willen der Besten, hierherzukommen, das schadet denen, die schon da sind, weil sie überlastet sind und Mobbing allerorten zu beklagen ist. Die Stimmung ist schlecht, die psychische Gesundheit dementsprechend. Der sich beschleunigende Rechtstrend ist Teil der Erkrankung  der Gesellschaft im Ganzen.  Es gibt Stadien dieser Erkrankung. Es ist noch so heillos wie vor 90 Jahren. Aber die Entwicklung ist erschreckend.

Um nicht missverstanden zu werden: Die komplette Aufgabe jedweder Kontrolle über die Entwicklung dieser Gesellschaft ist ebenfalls nicht gesund, überfordert, und es ist nicht gesund, Dinge zu propagieren, von denen man, wenn man psychisch gesund ist, weiß, dass sie nicht  funktionieren können. Der sogenannte gesunde Mittelweg heißt ja nicht umsonst so. Er ist nicht bei allen Themen der Weg der Wahl. Zum Beispiel dann nicht, wenn die Karre schon so im Dreck festsitzt, dass nur noch radikale Maßnahmen helfen, um sie wieder flottzukriegen. Wie zum Beispiel eine sehr deutliche Revision des hiesigen, im Kreis der klassischen Industrieländer in seiner extrem die Ungleichheit, die Ungerechtigkeit und  auch damit die psychische Belastung der Mehrheit fördernden Ausprägung mittlerweile ziemlich einsam dastehenden hiesigen neoliberalen Wirtschaftssystems dringend notwendig wäre, damit gesellschaftspolitisch ein gesunder Mittelweg gefunden und fundiert werden kann.

Gibt es einen Ausweg? Den gäbe es, aber aktuell können wir keine Hoffnung verbreiten. Denn anders als bei anderen Themen, wo zumindest die Erkenntnisse große Medienaufmerksamkeit erfahren, wenn auch keine Lösungen in Sicht sind, werden in Sachen psychischer Gesundheit nicht einmal die Erkenntnisse breit diskutiert. Dabei gehört dieser Bereich zu den Basics, ohne die Erhaltung der psychischen Gesundheit wird die Gesellschaft weiter mit abnehmender Leistungsfähigkeit vieler ihrer Mitglieder konfrontiert sein. Das läuft diametral den steigenden Anforderungen zuwieder, die dadurch entstehen, dass die Zukunft über viele Jahre hinweg schlicht verpennt wurde. Der Anpassungsdruck, der noch auf uns zukommen wird, wird die psychische Gesundheit fordern. Anstatt dort anzusetzen, sind die Rattenfänger unterwegs und erzählen den Menschen, wie man mit noch menschenfeindlicheren Konzepten als denen, die in weiten Teilen der Arbeitswelt der Normalbevölkerung ohnehin herrschen, die Lage verbessert. Es greift wieder einmal vieles ineinander und es gibt derzeit keine Ansätze, endlich eine Trendwende einzuleiten. Dazu ist diese Gesellschaft einfach zu krank. Wie sie die dringend notwendige Selbstheilung hinkriegen soll, wenn ihr schon nicht durch die Politik geholfen wird, ist uns im Moment nicht klar. Esoterisch oder rein dialektisch ist das Problem jedenfalls nicht zu beheben.

TH


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