Armut und Ausgrenzung in Deutschland – Tag der Beseitigung der Armut (Statista + Zusatzinfos + Kurzkommentar) | Briefing 336 | Gesellschaft, Wirtschaft

Briefing 336 Gesellschaft + Wirtschaft, Armutsquote, Armutsgefährdung, AROPE, steigende Armut in Deutschland

Armut ist ein großes Thema, dem heute der Tag der „Tag der Beseitigung der Armut“ gewidmet ist. Ohne extreme Armut vieler wäre der extreme Reichtum weniger weniger extrem. Das sollte man immer im Kopf haben, wenn man Statistken zur Armut liest.

Eine Aussage im Text zur Grafik bezieht sich auf die absolute Armut nach Definition der Weltbank, wiedergegeben ist aber die Armuts- und Armutsgefährdungsquote in Deutschland, die so hoch ist wie nie seit dem Beginn der Demokratie in der BRD.

Infografik: Armut und Ausgrenzung: Wer ist wie stark betroffen? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons  erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Prognosen der World Bank zufolge leben 2023 weltweit rund 650 Millionen Menschen oder acht Prozent der Weltbevölkerung in Armut. Gemäß World-Bank-Definition müssen selbige von weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag ihren Lebensunterhalt bestreiten. Auch in Deutschland sind, gemessen am AROPE-Indikator, zahlreiche Menschen von Armut und Ausgrenzung bedroht.

Besonders hoch liegt der Anteil der Deutschen, die entweder an der Schwelle zur Armut leben, erhebliche materielle Entbehrung in Kauf nehmen müssen oder in Haushalten mit geringer Erwerbsintensität leben, in der Gruppe der unter 18-Jährigen. Hier waren laut Daten des Statistischen Bundesamts rund 24 Prozent der Menschen gefährdet, 2020 waren es noch knapp 22 Prozent. Insgesamt lag die AROPE-Quote in Deutschland 2022 bei 21 Prozent, 0,5 Prozent höher als 2020.

Dass gerade Altersarmut eine große Gefahr für Frauen darstellt, zeigt ein Blick auf die Kohorte der über 65-jährigen Deutschen. Während nur 17 Prozent der Männer von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht waren, lag die Quote bei den Frauen bei etwa 22 Prozent. Erklärungen dafür sind unter anderem Erwerbsunterbrechungen aufgrund von Schwangerschaften und Elternzeit, die hierzulande immer noch größtenteils von Frauen genommen wird, sowie der um soziale Faktoren bereinigte Gender Pay Gap von sieben Prozent im vergangenen Jahr.

Selbstverständlich sind die 2,15 Dollar pro Tag nicht für Deutschland gültig und nicht für andere Industrieländer, sondern stellen ein absolutes Weltminimum dar, das sich vor allem an der Situation in den ärmsten Staaten orientiert. In Deutschland würde das umgerechnet bedeuten, dass jemand von etwa 60 Euro im Monat leben müsste. Was aber ist die Armutsgrenze in Deutschland? Diese muss erst einmal erwähnt werden, damit die obige Grafik in Relation zur offenbar geringeren weltweiten Armut gesetzt werden kann. Deshalb erst ein paar ergänzende Fakten:

Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und ist definiert als Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Bundesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten12. Hier sind einige historische Daten zur Entwicklung der Armutsquote und Armutsgefährdung in Deutschland:

Der niedrigste Stand der 2000er Jahre war 2006 mit rund 14 Prozent erreicht.

Die Armutsgrenze liegt bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten. Wer in Deutschland weniger als 14.109 Euro im Jahr verdient, gilt nach dem Stand des Jahres 2019 als armutsgefährdet12.

ach dem Inflationsauftrieb der letzten Jahre müsste diese Summe auf mindestens 17.000 Euro angehoben werden.

Die Armutsgefährdungsquote wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung wiederum nach Personengruppen aufgeschlüsselt: Ausgewählte Armutsgefährdungsquoten | Die soziale Situation in Deutschland | bpb.de. Man sieht die erheblichen Unterschiede, die teilweise schlicht mit dem Lebensmodell zusammenhängen, unabhängig davon, ob dieses von den Betroffenen so gewollt ist  oder nicht, wobei Letzteres zum Beispiel auf viele armutsgefährdete Alleinerziehende zutrifft, die fast eine so hohe Gefährdungsquote haben wie Erwerbslose.

Die Armutsgefährdungsquote in Deutschland entspricht in etwa jener in der EU: Soziales Lebensbedingungen Europa – Statistisches Bundesamt (destatis.de). Das vorgeblich so reiche Deutschland hat demgemäß also keinen Vorteil oder zählt nicht zur Spitzengruppe der Länder, in denen Armut weniger ein Thema ist. Diese Grafik (Soziales Lebensbedingungen Europa – Statistisches Bundesamt (destatis.de)) bestätigt, dass Deutschland zwar nicht in Prozentzahlen, wohl aber bezüglich des Anteils von besseren und schlechteren Ländern sogar unterdurchschnittlich abschneidet. Auffällig ist, dass auch viele Länder mit extrem hohem BIP pro Kopf wie Luxemburg und Irland hier kaum besser sind: Die Ungleichheit ist dort sehr ausgeprägt, die hohen Werte beim BIP geben nicht die durchschnittliche Stellung der Menschen wieder, umgekehrt bei einigen der EU-Staaten in Mittelosteuropa.

Die deutsche AROPE-Quote, die von Statista erwähnt wird, ist wiederum nicht identisch  mit der Quote derer, die als arm und sozial ausgegrenzt gelten, diese Quote liegt etwas niedriger, wie die obigen Grafiken belegen.

Die steigende Armuts- und AROPE-Quote in Deutschland belegt die zunehmende Spaltung der Gesellschaft einmal mehr, die auch den Vermögens-Gini-Index und den Einkommens-Gini weiter anheben, das Medianvermögen weiterhin niedriger als in vergleichbaren europäischen Staaten halten wird. Das ist in der Tat ein Armutszeugnis für ein Land, das immer noch viel Industrie mit entsprechend hoher Wertschöpfung hat. Wo aber geht der Reichtum hin, der dadurch entsteht? Nicht in die Taschen der Allgemeinheit, so viel ist sicher. Kaum ein Land pflegt noch einen so durchweg neoliberalen Wirtschaftsweg wie Deutschland, was zu weiteren sozialen Problemen führen wird. Die Folgekosten der Einseitigkeit der Sozialstruktur in Deutschland sind enorm und werden uns noch besonders beschäftigen, wenn nicht gerade wieder eine bis drei Großkrisen die Aufmerksamkeit dafür verstellen. Natürlich nehmen auch die Krisen zu und die Resistenz einer Gesellschaft gegen Krisen, in der viele Menschen keine materiellen Reserven haben, sinkt.

Diese Entwicklung ist nicht unaufhaltsam, sondern politisch gewollt. Andere entwickelte Länder machen es besser und funktionieren besser und können ihre Gesellschaften besser für gemeinsame Ziele motivieren und mobilisieren, die wiederum notwendig sind, um den Wohlstand für alle zu erhalten. Erstaunlich ist auf den ersten Blick auch, dass die Einführung des Mindestlohns nur für eine kurze Zeit (2018) einen leichten Rückgang der Armutsgefährdung gesorgt hat,  ab 2020 trugen natürlich auch die Coronakrise und dann die Energiepreiskrise zum weiteren Anstieg bei. Wir glauben nicht, dass ohne eine deutliche Kehrtwende der Politik die Armutsquote in nächster Zeit sinken wird. Die Gewöhnung an die viele Armut im Land ist ein weiteres schlechtes Zeichen für den Zustand der deutschen Gesellschaft und wird bald amerikanische Ausmaße erreichen, wo krasseste Gegensätze in den Großstädten auf engstem Raum zu besichtigen sind. Jedem Menschen, der etwas auf Menschlichkeit hält, müssten diese Zustände zu denken geben. Wie sieht es aber in der Realität aus?

Darüber darf man heute, am Tag der Armutsbeseitigung, gerne nachdenken.

TH


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