Crimetime Vorschau – Titelfoto © HR, Bettina Müller
Murot und das Paradies ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort. Der vom Hessischen Rundfunk produzierte Beitrag ist die 1247. Tatort-Episode und soll am 22. Oktober 2023 im SRF, im ORF und im Ersten ausgestrahlt werden. Der Wiesbadener Kommissar Felix Murot ermittelt in seinem zwölften Fall. (Wikipedia)
„Wie soll man glücklich sein in einer Welt, die sich vor allem durch ihre Beschissenheit auszeichnet?“ Hauptkommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) könnte verzweifeln angesichts des vom Menschen verursachten desolaten Zustands unseres Planeten und seines eigenen mittelmäßigen Lebens, das ihm außer Frust, Routine, Einsamkeit und sicheren Rentenbezügen nichts zu bieten scheint. Und auch die regelmäßigen Sitzungen bei seinem Analytiker Dr. Wimmer (Martin Wuttke) konnten den grüblerischen LKA-Beamten bisher nicht von seiner Depression heilen. Doch zwei Leichen im Milieu der Investmentbanker reißen Murot aus seinem Selbstmitleid. (…)“
Tatort Folge 1247: Murot und das Paradies – Tatort Fans (tatort-fans.de)
Depressionen sind also Selbstmitleid, das lernen wir an dieser Stelle. Die Ansicht passt gut zum Rechtsdrall in diesem Land. Könnte man depressiv werden von. Vielleicht war es aber so nicht gemeint. Als der Film gedreht wurde, war die neue Eskalation im Nahostkonflikt noch gar nicht im Gange, die klar zeigt, dass Menschen unfähig sind, zivilisiert und zukunftsorientiert zu leben, und dass diese Erkenntnis nichts mit Selbstmitleid zu tun hat, sehr wohl aber zu Depressionen führen kann, wenn man ohnehin in diese Richtung tendiert. Depressionen sind in dem Zusammenhang nicht selten Ausdruck von viel Wissen und der Unfähigkeit, die Zusammenhänge abzuspalten, die sich daraus ergeben.
Gleichwohl ist das Bild von Murot im Weltraumanzug, das wir unweigerlich zum Titelbild gemacht haben, eines der schönsten, die wir bisher in einer Vorschau zeigen konnten. Eines mit einem Menschen namens Murot in Wehrmachtsuniform hätten wir auch nehmen können, ebenso natürlich die üblichen, eher konventionellen Stills, die ein paar Beteiligte an einem bestimmten Set im Gespräch zeigen.. Dann schon lieber das All.
Und ein Wiedersehen mit Martin Wuttke gibt es auch, der von 2007 bis 2015 in Leipzig als Kommissar Keppler tätig war. Man kann ihn natürlich anderweit sehen, wie kürzlich in „Babylon Berlin“, 4. Staffel, aber wir meinen es aufs Format Tatort bezogen.
„Die Redaktion von Tatort-Fans meint:
Was ist der Sinn des Lebens? Was ist Glück? Wie finden wir es? Und lohnt sich das überhaupt? Es sind die ganz großen, die zeitlosen Fragen, die Murot umtreiben – und wahrscheinlich auch viele von uns. Dabei verschwimmen natürlich – wie für Murot-Tatorte typisch – die Grenzen zwischen Illusion und Wirklichkeit, Bewusstem und Unbewusstem: Es entsteht ein „Film im Film“, mit Szenen, die einem den Atem stocken lassen. Die grandiose Inszenierung wird vor allem vom wunderbaren Ulrich Tukur getragen, aber auch vom weiteren hochkarätigen Ensemble. Ein Murot, wie er in der Tatort-Bibel steht: tiefgründig, surreal, zum Nach- und Weiterdenken. Großes Kino.“ (Quelle siehe oben)
Seit 2010, als Murot alias Ulrich Tukur begann, im hessischen Land herumzugründeln und dabei wirklich verrückte Dinge zu erleben, die man dort gar nicht für möglich halten würde, die man aber auch generell teilweise nicht für möglich halten würde, entstanden mit diesem Ermittler einige der besten und fast immer extravagante Tatorte, die mittlerweile den Frankfurter Standort des HR als Avantgarde-Location abgelöst haben. Mit Murot kann man die Experimente erfolgreich durchziehen, die beim aktuellen Team in der Mainmetropole nicht funktionieren. Weil Murot der Typ dafür ist, auch, wenn er nun von seinem Tumor „Lilli“ geheilt scheint.
Die Suche nach dem Glück, die Suche nach dem Sinn, diese Titel oder Zwischentitel liest man häufig, den neuen Murot-Tatort betreffend. Was kann es Höheres geben als die Suche nach dem Sinn und mehr berühren als die Suche nach dem Glück? Nichts, außer die Suche nach noch mehr Glück. Wobei, wenn man es übertreibt, wirkt es schon wieder so übertrieben, die Übertreibung gehört aber auch zu den Murot-Tatorten und sorgt mit dafür, dass sie anders sind als die anderen.
„Ein Tatort mit Murot leiht sich auch immer was bei den besten und größten Filmemachern der Welt aus. Dieses Mal bekommen wir so einiges zu sehen: Serviert bekommen wir Anlehnungen an „Matrix“ mit Keanu Reeves oder Stanley Kubricks „2001 Odyssee im Weltraum“ oder auch Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ – und das alles für 18,36 Euro Rundfunkbeitrag in einem Tatort.
Dieser Tatort lässt Netflix und Co keine Chance. Man muss ihn schauen. Er hat eine ganz besonders tiefe, aber auch chaotische Erzählung über die lowest Lows und highest Highs in unserem Leben. Ich denke, es könnte der beste Tatort des Jahres werden – wenn man sich drauf einlässt.“
Tatort Wiesbaden „Murot und das Paradies“ mit Felix Murot (swr3.de)
Das Jahr geht langsam zur Neige, hält aber noch einige Premieren vor. Daher ist die vorsichtige Formulierung angemessen, aber auch die Erkenntnis, dass vermutlich nichts – sic! – Extravaganteres mehr kommen wird.
Da kriegt man richtig Lust, doch mal wieder am Premierenabend zu rezensieren. Leider kenne ich die Matrix-Filme noch nicht, habe sie aber alle aufgezeichnet, um mal ein richtiges Binge-Watching damit machen zu können. Sehr schmunzeln musste ich über die Rundfunkbeiträge. Ich bin auch kein Fan davon, alles haben, aber nichts dafür zahlen zu wollen. Ich weise darauf hin, dass manchen Menschen gar nichts anderes mehr übrigbleibt, als nach „für lau“ Ausschau zu halten, so, wie die Dinge sich in diesem Land entwickeln. Siehe oben, Depressionen, manchmal auch inklusive Selbstmitleid, aber nicht zwingendermaßen, Letzteres ist nicht konstitutiv für Ersteres. Ich finde es gefährlicher, den ÖR-Rundfunkt immer so zu bashen. Eine Welt ohne ihn ist vorstellbar, aber nicht sinnvoll, um beim Thema zu bleiben. Jedenfalls wird das obige Fazit der Tatort-Checker vom SWR, dem Nachbarsender des HR, mit fünf von fünf Elchen beschlossen. Jetzt bin ich natürlich gespannt auf weitere Stimmen von Personen, die sich gut mit Tatorten auskennen.
„Murot im Paradies“ ist ein anfänglich überraschend spannender Sci-Fi-Thriller, aber mit klaren Schwachstellen: Viele der Figuren wären vielleicht vor zehn Jahren noch als progressiv wahrgenommen worden. Heute wirken sie bemüht woke und heben so wieder hervor, was sie eigentlich normalisieren wollen – Möglichkeiten fernab von Heterosexualität und Monogamie.
So gar nicht woke ist leider auch der Umgang mit weiblicher Sexualität. Die Schnitte in den Bäuchen der Opfer werden mit dem Aussehen von weiblichen Geschlechtsorganen verglichen, und sogar Cupcakes gebacken, die kleine Vulven aus Frosting zieren. Dieses pubertäre Gehabe hat der Film nicht nötig und ein Schocker ist die Abbildung einer Vulva auch schon lange nicht mehr. Wer Lust auf eine ansonsten aber durchaus überraschende Story hat, sollte sich den Tatort unbedingt ansehen.“
Und wieder ein Beweis dafür, was der ÖR-Rundfunk kann. Denn diese Kritik stammt von der ARD und sogar vom hessischen Rundfunk, der ja immerhin den Film produziert hat. Das ist beinahe so, als wenn der SWR-Check einen Tatort des SWR, also aus Stuttgart, Ludwigshafen oder dem Schwarzwald, kritisch unter die Lupe nimmt. Von solcher Fähigkeit zur Selbstkritik sind die Gegner des ÖRR meist weit entfernt. Immerhin ist das eine Premiere, denn wir haben erstmals eine Kritik von dieser Stelle zitiert.
„Der Traum vom perfekten Glück als surreale Film-Phantasie: In „Murot und das Paradies“ (HR) treibt Florian Gallenberger (Drehbuch, Regie) ein bizarres Spiel mit dem einsamen, lebensmüden LKA-Kommissar Felix Murot. Der gerät nach zwei rätselhaften Todesfällen in die Hände von zwei verführerischen Frauen, die ihm mittels neu verlegtem Port am herausoperierten Bauchnabel den Zugang zu einer Art Parallelwelt verschaffen, in der alle Träume wahr werden. Fantastische Bilder (Kamera: Holly Fink), Film-im-Film-Miniaturen und Kino-Zitate, eine erstklassige Besetzung (Hobmeier, Bugarin, Wuttke, Mattes) und eine abgedrehte Geschichte, die der Murot-Reihe des Hessischen Rundfunks alle Ehre macht: Denn auch im zwölften Film mit Ulrich Tukur und Barbara Philipp wird das gewöhnliche Realismus-Konzept der „Tatort“-Reihe nach Herzenslust gesprengt.“
http://www.tittelbach.tv/programm/reihe/artikel-6414.html
Für diese Einschätzung vergibt Tittelbach-TV 5/6; also eine überdurchschnittliche Wertung. Es ist ein bisschen lästig, es immer zu betonen, weil das bei 5/6 klar scheint, aber da die Wertungen für Tatorte erst bei 3 oder 3,5/6 beginnen, der Durchschnitt bei etwa 4,5 liegt, sind 5 eben überdurchschnittlich, obwohl es ohnehin so aussieht. Auch die Ähnlichkeit zu unserem Schema haben wir angesprochen. Von der Prämisse ausgehend, dass Tatorte grundsätzlich kein Schrott sind, fangen wir erst bei 5/10 an und geben in der Regel nur bei Sonderfaktoren wieder, etwa, wenn wir die politische Tendenz eines Films für sehr fragwürdig halten (Beispiel: Der Polizeiruf 110 „Für Janina“, in dem eine Ermittlerin Beweise so manipuliert, dass sie jemanden festsetzen kann für ein anderes Verbrechen als dasjenige, das gerade ausermittelt wird, mithin übt eine Staatsbeamtin Selbstjustiz). Da kann es auch mal einen Film treffen, der ansonsten gut gemacht ist. Bei den Murot-Tatorten mussten wir noch nicht zu einem solchen Sonder-Malus greifen.
„Der unglückliche Felix Murot muss auf der Couch von Dr. Wimmer konstatieren, dass sogar seine Leichen glücklicher ausschauen als er. Er leidet nicht nur an der ungerechten Welt, sondern auch an seinem eigenen tristen Alltag.
Da ist es folgerichtig, dass er sich selbst auf den Weg der Toten begibt und am eigenen Leib die extremen Glücksgefühle erfahren will. Das Spiel mit der eigenen Existenz war ja schon immer eine Konstante der Murot-Krimis: Der LKA-Mann überlebte einen Hirntumor, lag fast verblutend in einer Badewanne, er drehte Zeitschleifen und begegnete seinem Doppelgänger. All diese Filme wirken wie Vorübungen zu diesem besonderen Fall von Florian Gallenberger, einem kinoerfahrenen Regisseur, der mit Ulrich Tukur schon das Historiendrama „John Rabe“ gedreht hat.“
Tatort „Murot und das Paradies“: Warum die Leichen glücklich schauen (berliner-zeitung.de)
Zu den zitierten Filmen, die weiter oben schon benannt wurden, fügt die Berliner Zeitung „The Wolf of Wall Street“ hinzu. Wir werden immer gespannter, vielleicht finden wir weitere Vorbilder.
„Psychedelische Glückssuche als peinliche Männerphantasie“ lautet der Titel einer eher verhaltenen Kritik zu dem Film. Glückssuche als peinliche Männerphantasie: „Murot und das Paradies“ | WEB.DE, eine Bewertung gibt es aber, wie bei der zuvor zitierten Stelle und den meisten Kritiker:innen, nicht.
„Aus den tolldreisten Fantasien eines Mannes in der Midlife Crisis hätte ein Feuerwerk entstehen können, doch leider füllen die kurzweiligen Ausflüge in Murots Unterbewusstsein nur einen kleinen Teil des Krimis aus, der sich ansonsten in ermüdenden Monologen verliert und so lange in Zeitlupe um seine Hauptfigur kreist, bis einem die Augen zufallen. Dass Felix Murot im Kern jemand ist, der seinen feinen Zwirn ablegen und aus sich herauskommen möchte, wissen wir seit einer gefühlten Ewigkeit und durften die vermeintlichen Tabubrüche auch schon mehrfach und mit deutlich mehr Esprit geschmückt bestaunen. Der neuste Wiesbadener „Tatort“ liefert uns dahingehend nichts Neues, vielmehr stellt sich eine gewisse Übersättigung ein. Einfach nur interessant in die Kamera schauen ist am Ende schlichtweg zu wenig, auch wenn das Gesicht dem großen Ulrich Tukur gehört.“
„Tatort“ an diesem Sonntag: Langsam ist der Bogen in Richtung Zumutung überspannt [Kritik] (msn.com)
Diese Kritik ist dann überwiegend negativ, nach dem Motto „Uaaah, alles schon geseh’n!“. Könnte aus Berlin kommen. Aber drehen wir uns nicht alle irgendwie im Kreis und ist es nicht diesem Muster entsprechend und besser als vieles im Realleben, dieses Drehen wenigstens im immer neuen Varianten gezeigt zu bekommen? Nun ja, jetzt sind wir etwas abgekühlt. Die Spannung bleibt trotzdem und ich glaube nicht, dass mir bei einem Murot-Krimi die Augen zufallen werden, wie es an anderer Stelle bedrohlich vermerkt wird. Es sei denn, ich schaue den Film vollkommen zur Unzeit, etwa so früh am Sonntagmorgen, wie ich diese Rezension schreibe, oder zu spät in der Nacht an einem Werktag.
Ein recht breites Meinungsspektrum haben wir herausgesucht, ohne Anspruch auf Repräsentativität. Unsere eigene Meinung folgt der Sichtung, die vermutlich doch wieder etwas auf sich warten lassen wird. Wir müssen tatsächlich erst einmal die Rezensionen in der Rubrik „Crimetime“ veröffentlichen, die noch im Archiv herumlungern, bevor wir uns wieder den neuen Tatorten widmen. Da wird wohl auch ein Murot-Tatort keine Ausnahme bewirken.
Handlung
Zusammen mit seinem Analytiker versucht Kommissar Felix Murot, der gerade eine Depression durchmacht, der Frage nach dem Glück auf die Spur zu kommen. Zeitgleich werden im Umfeld der Frankfurter Bankenwelt nacheinander zwei sonderbare Leichen entdeckt. Den beiden Toten wurde der Nabel entnommen und ein bizarrer Port gelegt, mittels dessen man sie an eine Nabelschnur andocken und so ernähren konnte. Die Ermittlungen führen Murot in eine verstörende Unterwelt, ganz nah heran an ein großes, unglaubliches und vor allem unwiderstehliches Glücksversprechen. Dann, eines morgens vor dem Badezimmerspiegel, stellt Murot bestürzt fest, dass auch er mittlerweile keinen Nabel mehr hat, sondern den absonderlichen Port trägt. Er ist nun selbst Teil des abgründigen Geschehens, ständig in Gefahr, dass ihn seine verzweifelte Suche nach dem Glück zerstören könnte.
Besetzung und Stab
Hauptkommissar Felix Murot – Ulrich Tukur
Assistentin Magda Wächter – Barbara Philipp
Psychoanalytiker Dr. Wimmer – Martin Wuttke
Gerichtsmedizinerin Dr. Dr. Kispert – Eva Mattes
Thorben Pohlmann – Jan Krauter
Detlev Nübel – Alex Kapl
Bianka Löschner – Karen Dahmen
Eva Lisinska – Brigitte Hobmeier
Ruby Kortus – Ioana Bugarin
u. v. a.
Drehbuch – Florian Gallenberger
Regie – Florian Gallenberger
Kamera – Holly Fink
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