Filmfest 1008 Cinema
Anastasia ist ein US-amerikanischer Zeichentrickfilm der 20th Century Fox aus dem Jahr 1997 von Don Bluth und Gary Goldman. Er wurde 1998 für zwei Oscars in den Kategorien Beste Filmmusik und Bester Song nominiert.[1]
Als wir den Namen Don Bluth lasen, der für den Film als Regisseur verantwortlich zeichnet, dachten wir: Da war doch was? Richtig, der Mann war einer von Walt Disneys wichtigsten Zeichnern und prägte den gleichermaßen exakten wie lebendigen Stil der Disney-Filme zusammen mit einigen anderen erstklassigen Animationskünstlern. Er verließ die Disney-Studios, um unabhängig zu arbeiten, kehrte kurzfristig zurück, machte dann aber wieder allein bzw. für andere Studios weiter. Wir ordnen diesen Film daher nicht in die kommende Werkschau „Disney-Meisterwerke“ ein, obwohl er inhaltlich gut in die Reihe von Disney-Filmen der 1990er passen würde, sondern zeigen in im Rahmen der „normalen“ US-Chronologie, einer von beiden aktuellen Strängen hat das Jahr 1997 erreicht und wir schließen dieses Jahr mit „Anastasia“ vorerst ab. Mehr zu „Anastasia“ in der –> Rezension.
Handlung (1)
Die Tochter des Zaren Nikolai II., Anastasia Nikolajewna Romanowa, wächst wohlbehütet bei ihrer Familie auf. Doch der größte Feind des Zaren, Rasputin, der seine Seele an den Teufel verkauft und die Familie mit dem Tod verflucht, entfacht 1917 die Oktoberrevolution, und nur Anastasia und ihre Großmutter, Großfürstin Marie, können fliehen, da ein Küchenjunge ihnen einen Weg durch den versteckten Dienstbotentrakt zeigt. Unterwegs werden sie von Rasputin auf einem zugefrorenen Fluss gestellt. Es gelingt ihm, Anastasia in die Hände zu bekommen, doch diese kann sich befreien, woraufhin er im Eis einbricht. Sie beschließen, mit dem Zug nach Paris zu fliehen, doch nur ihre Großmutter schafft den Aufsprung auf den Zug, während Anastasia zurückbleibt. Sie wächst daraufhin in einem Waisenhaus auf und hat seitdem keine Erinnerungen mehr an ihre Herkunft oder an ihre Familie.
Ungefähr zehn Jahre später. Die Revolution ist schon lange vorbei, aber das Gerücht, dass die Zarentochter Anastasia noch lebt, ist weit verbreitet. Marie hat sich in Paris eine neue Existenz aufgebaut. Anastasia, die wegen ihres Gedächtnisverlustes Anya getauft wurde, soll außerhalb des Waisenhauses einen Beruf ausüben, doch sie beschließt stattdessen, ihre Familie zu suchen. Ihr einziger Anhaltspunkt ist ein Medaillon mit der Aufschrift „Zusammen in Paris“, den sie von ihrer Großmutter Marie als Kind bekommen hat, woran sie sich allerdings nicht mehr erinnert. Auf dem Weg nach Sankt Petersburg läuft ihr ein Hündchen zu, das sie Pooka tauft.
Da sie keine Papiere wie Ausweis und Ausreisevisum besitzt, will man ihr keine Fahrkarte ins Ausland verkaufen. Aber Anya bekommt einen Tipp, wo sie sich illegal Papiere beschaffen kann: Bei Dimitri, einem jungen Gauner, und seinem väterlichen Freund Vladimir. Ebendiese beiden versuchen krampfhaft, eine junge Frau zu finden, die sie problemlos als ‚Anastasia‘ verkaufen können. Denn die Zarenmutter hat eine Belohnung von zehn Millionen Rubel für die Wiederbringung ihrer Enkelin geboten. Bis jetzt sind Dimitri und Vlad jedoch erfolglos; sie können nicht mal ein ihr ähnliches Mädchen finden, geschweige denn eins, das sich entsprechend benimmt.
Sie sind zeitweise im alten Palast untergekommen, wo niemand mehr wohnt seit dem Mord an der Zarenfamilie. Dorthin verschlägt es auch Anya. Sie wandert durch das leere Schloss und glaubt, sich an bestimmte Dinge (wie einen Ball, fürstliche Kleider, ihre Eltern und Geschwister) zu erinnern, denkt aber, dass es sich um Träume aus ihrer Kindheit handelt. Als Dimitri und Vlad sie bemerken, erschrickt die in ihre Gedanken versunkene Anya und läuft davon, aber die Kleingauner holen sie ein – genau vor einem Porträt der jungen Anastasia. Die Ähnlichkeit der beiden Gesichter nutzt Dimitri sofort aus: Er will Anya für seinen Plan gewinnen. Als sie ihm von der Suche nach ihrer Herkunft erzählt, beschließt er, sie der Einfachheit halber zu belügen. Anastasia glaubt ihm schließlich, dass sie – zumindest möglicherweise – tatsächlich Anastasia sein könnte. (…)
Rezension
Als wir hingegen „Fox Family Entertainment“ als Produktionsfirma lasen, dachten wir beim Anschauen des Films alsbald an den rechtslastigen Nachrichtensender Fox als Geldgeber, es handelt sich aber um die Filmfirma 20th Century Fox, die das Cinemascope-Verfahren erfunden hatte und u. a. Marylin Monroe zu ihren Topstars zählte.
Inhaltlich könnte es aber auch der Nachrichtensender sein, der wie kein anderer den Kriegstreibern innerhalb der US-Politik geneigt ist, denn so dümmlich wie in diesem Film die russische Geschichte zu verfälschen, das hätte sich Disney nie getraut und das größte Animationsstudio der Welt hat klugerweise die Finger vom schwierigen Stoff des Endes der Zarenfamilie Romanov und damit von der russischen Oktoberrevolution gelassen.
Was Don Bluth 1997 nicht zur Verfügung stand, war die endgültige Klarheit, die durch genetischen Abgleich seit 2008 herrscht: Es gab keine überlebende Zarentochter, die Leiche Anastasias wurde mittlerweile identifiziert. Der Vorwurf, eine glatte Lüge in die Welt gesetzt zu haben, trifft zumindest nicht vollständig auf die Hauptperson und deren Status zu und der Film reiht sich in die Werke ein, die Anastasias Weiterleben als quasi bewiesen angenommen haben (sowohl in Deutschland als in den USA kam z. B. 1956 ein Film über die vorgebliche letzte Zarentochter heraus, in der Rolle der Anastasia waren Ingrid Bergman und Lilli Palmer zu sehen).
Der Stoff ist auch atemberaubend, und was nun eine Super-Idee wäre: Die Geschichte der schönen Lügnerin zu erzählen, die sich als Anastasia ausgab, als sie 1927 in Berlin zunächst in den Landwehrkanal sprang und dann die Herzen der Menschen bewegte. Diese polnische Arbeiterin muss sehr interessant sein, denn wie man es mit einem solchen Hintergrund schafft, eine Zarentochter darzustellen, ist einer genaueren Untersuchung wert. Sicher wurde sie von Menschen mit Interesse an der Echtheit als Zarentochter gebrieft, wie dem in allen Filmen vorkommenden „Onkel Wanja“. Auch die Tatsache, dass ein Palastangestellter sie mit Details versorgt haben könnte, ist erklärend – aber da muss mehr gewesen sein, wenn sie nicht sofort und eindeutig als Schwindlerin entlarvt werden konnte. Eine Aura, die das Hineingeborensein in eine Herrscherfamilie denkbar erscheinen lässt.
Was im „Anastasia“-Zeichentrickfilm wohl stimmt, ist, dass die Mutter der Zarin im Grunde keine Anastasias mehr sehen wollte, weil zu viele Kandidatinnen und zu viele Enttäuschungen auf ihr lasteten.
Aber sonst? Der Film lässt die Revolution von 1917 (nicht 1916, wie der Film suggeriert, und die Romanovs starben erst 1918, hier wird alles in wenige Wochen zusammengedampft) als ein Werk des bösen Rasputin erscheinen, der die vorher ach so glücklichen Menschen im riesigen Zarenreich auf die Idee gebracht hat, mal so richtig unzufrieden zu sein, warum auch immer, und Revolution zu machen. Zehn Jahre später sind sie dann alle abgehalftert, aber weil die Russen bekanntermaßen unverwüstlich sind, tanzen sie trotzdem auf den Straßen, wobei nicht nur die abgerissenen Klamotten, sondern auch die fehlenden Zähne auffallen. Man mag von den Bolschewisten halten, was man will, aber diese Art, den sozialen Hintergrund der Revolution zu negieren und die Verhältnisse sozusagen umzudrehen, die für die meisten Menschen im Zarenreich alles andere als lustig waren, das ist schon böswillig, zumal auf diese Weise Kinder schon in eine pro-aristokratische Richtung beeinflusst werden, ohne sich wehren zu können.
Da ist die Tatsache, dass die Story in Paris spielt, weil das nun mal die Stadt der Liebe ist, die Story der einzigen ernst zu nehmenden falschen Zarentochter sich aber weitgehend und bis zum Ende in Deutschland abgespielt hat, das hier nur als Transitland benannt wird, erscheint angesichts dieses Raubzugs durch die Geschichte als eine beinahe zu vernachlässigende Größe. Dabei passt die falsche Zarentochter in Berlin doch so gut in das Zeitkolorit der 1920er und man hätte den Glauben vieler an diese Person schön in Bezug zu den politischen Verhältnissen setzen können.
Die politische Indoktrinierung schafft der Film allerdings und zwar, ohne die Roten auch nur zu erwähnen, das ist beinahe eine Meisterleistung. An ihrer Stelle wird der manische Rasputin als Alleinverursacher allen Übels identifiziert, der auf die spätere Geschichte der Anastasia in Wirklichkeit keinen Einfluss mehr hatte – und der letztlich ein Opfer der Zarenfamilie wurde, nicht etwa umgekehrt. Dass er zum Beispiel vor dem desaströsen Krieg mit Deutschland gewarnt hatte, kann in einem Film wie diesem sowieso keinen Eingang finden. Die Akte Rasputin ist noch abenteuerlicher als die der letzten Zarentochter bzw. der Frauen, die versucht haben, die Zarentochter zu spielen, aber die Art seiner Verwendung des Priesters im Zeichentrickfilm spottet jeder Beschreibung.
Die Höllenszenen, die ihn nach seinem Tod zeigen, wie er weiter Anastasia nachstellt, gehören zu den gelungensten im Film, auch wenn sie vielleicht für kleinere Kinder etwas rau ausgefallen sind. Aber Don Bluth war nun einmal ein Disney-Mann, und da musste das Gute, die Prinzessin, einen starken, einzelnen Antagonisten bekommen, der sie bedrängt. Außerdem findet sie auf ihrer Wanderung aus dem Waisenhaus einen kleinen Hund. Auch dieser Sidekick, der die Identifikation der Kinder mit der Prinzessin steigern soll, ist 1:1 aus den Disney-Filmen übernommen, in denen menschliche Figuren beinahe immer einen liebenswürdigen tierischen Begleiter zur Seite gestellt bekommen; gleich, ob Märchen oder Realgeschichte die Grundlage des Films bilden (letztere ist allerdings die Ausnahme, uns fällt gegenwärtig nur „Pocahontas“ ein, der etwas früher entstand wie „Anastasia“ und in der Auslegung der Hauptfigur gewisse Ähnlichkeiten aufweist).
Anastasia ist natürlich wunderbar gezeichnet und in ihrer Mischung aus frech, sogar burschikos und aristokratisch ganz auf modern gemacht, ihre Energie einerseits und ihr Liebreiz auf der anderen Seite sind beste Disney-Schule, wobei ihre Gesichtszüge durchaus ein wenig prägnanter gehalten sind als die früherer Disney-Heroinnen, und da liegt auch die Ähnlichkeit zu Pocahontas, die etwas „ethnisch“ aussehen und prägnante optische Merkmale wie die hohen Wangenknochen und die schräg stehenden Augen haben durfte. Ein weiteres Beispiel für diesen Trend der 1990er ist „Mulan“, der kurz nach „Anastasia“ entstand und der asiatische Züge stärker als in früheren Filmen lebendig werden ließ. Gegenüber vielen Disney-Filmen hat „Anastasia“ sogar den Vorzug, dass der männliche Part recht gut ausgeformt ist – kein sülziger Prinz, sondern ein rechter Schlemihl mit einer recht kantigen Optik ist das Love Interest der in diesem Film echten Prinzessin.
Die Animation der Charaktere ist auf Disney-Niveau, die Hintergründe sehr detailliert, aber auch arg überzuckert, ja geradezu pompös. Der russische Hang zum Glitter kommt darin recht gut zum Ausdruck, nicht aber die damalige Anmutung von Städten wie St. Petersburg. Hingegen sind die aktionsreichen Handlungselemente wie die Zugfahrt in den Abgrund, die schon seit „Union Pacific“ ein Klassiker des Actionkinos ist, ansprechend und rasant gestaltet, wie der ganze Film keine Längen kennt, sondern einen richtigen Swing hat. Unterstützt wird dieser von Musiknummern, die ebenfalls geradewegs aus dem Disney-Kanon abgeschaut sind; Don Bluth wusste natürlich nur zu gut, dass die erfolgreichsten aller Disney-Filme geradezu animierte Musicals waren. Ob die musikalische Qualität der Musiknummern mit denen der besten Disney-Filme mithalten kann, bezweifeln wir allerdings, obwohl es eine Oscarnominierung für die Musik gab (wie bei den meisten Disney-Meisterwerken, die manchmal den Musik-Oscar auch gewannen). Diese Abstriche gegenüber Disney, die wir hier empfinden, liegen auch darin begründet, dass die Musikszenen manchmal etwas wahllos wirken und außerdem die kontrafaktische Tendenz des Films unterstützen (wie etwa bei der Darstellung der tanzenden Revolutionsgeplagten in „Was man sich erzählt in St. Petersburg“, das damals in der Realität bereits Leningrad hieß.
Finale
Auf die oftmals hohen Bewertungen, die wir für Disney-Filme vergeben, kann „Anastasia“ nicht kommen, und das Gemeine daran ist, dass wir es beinahe als Verrat an der gelungenen Figur der Prinzessin empfinden, dass wir ihrer Geschichte die volle Zustimmung verweigern. Nicht nur Kinder werden durch Animationsfilme emotionalisiert – umso gefährlicher sind sie, wenn sie dermaßen der Wahrheit ins Gesicht springen, wie „Anastasia“ das tut. Selbst die folgende Bewertung ist im Grunde zu hoch, aber sie berücksichtigt die Animationskunst und das dramaturgisch gelungene Storyboard.
60/100
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1), kursiv, tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Don Bluth, Gary Goldman |
|---|---|
| Drehbuch | Susan Gauthier, Bruce Graham, Bob Tzudiker, Noni White |
| Produktion | Don Bluth, Gary Goldman |
| Musik | David Newman (Musik), Stephen Flaherty (Songs) |
| Schnitt | Bob Bender, Fiona Trayler |
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