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Crimetime 1186 – Titelfoto © SDR

Herzschuss und Schluss

Augenzeuge ist die 59. Folge der Fernsehreihe Tatort. Die vom Süddeutschen Rundfunk produzierte Folge wurde erstmals am 18. Januar 1976 im Ersten Programm der ARD ausgestrahlt. Für Kriminalhauptkommissar Eugen Lutz (Werner Schumacher) ist es sein sechster Fall.  

Das erste Tatort-Jahrzehnt muss den Beteiligten einen Riesenspaß bereitet haben, denn es wirkt heute noch so einfach, so locker, wie sie immer neue Handlungsvarianten aus dem Hut gezaubert haben. Und mögen sie schon damals noch so bausatzmäßig gewesen sein. Der filmische Realismus, gewürzt mit Sozialkritik, die für die meisten Zuschauer damals unterschwellig gewesen sein mag, ist heute recht gut wahrnehmbar. Die sehr trockene Art, zu filmen und die Menschen handeln, reden, denken zu lassen, hat einen umwerfenden Anti-Charme. Emotionen wurden in der Zeit so sparsam eingesetzt wie wohl nie zuvor und nie wieder danach. Dieser Stil kennzeichnet auch den 59. Tatort, sonst hätten wir keine solche Einleitung geschrieben. Mehr ins Detail gehen wir in der –> Rezension.

Handlung

In einer ländlichen Tankstelle wird der Besitzer das Opfer von Raubmördern. Der Heidelberger Weinhändler Jürgen Santner, zufällig Zeuge des Überfalls, gibt eine ziemlich dürftige Schilderung des Verbrechens zu Protokoll. Kommissar Lutz, dem der Fall übertragen wird, kann sich Santners Zurückhaltung nicht recht erklären. Seinen Verdacht, dass Santner von den Tätern erpresst wird, kann er nicht belegen. Während Lutz zunächst ergebnislos recherchiert, fasst Santner einen Plan. Er will sein Wissen gewinnbringend anlegen und macht sich ebenfalls auf die Suche nach den Tankstellenräubern. Er ahnt nicht, in welche Gefahr er sich begibt. 

Rezension

Wenn im wirklichen Leben, draußen auf der Straße, geschossen würde, und das kommt in Berlin hin und wieder vor, und es wirkt nicht so spektakulär wie in heutigen, von US-Vorbildern beeinflussten Krimis, dann erinnere man sich daran, wie kurz- und schmerzlos Morde auf dem Gehsteig oder an der Tankstelle noch in den 1970er Jahren ausgeführt wurden. Das Knallen ist bescheiden, die Dramatik, die um den Tod einer Person herum aufgebaut wird, ebenfalls. War das eine Rückkehr der Zeiten, in denen ein Leben nicht so viel zählte, in neuem filmischem Gewand? Durch diese sachliche Art der Bebilderung subtil kommentiert?

Mit vermutlich fünf Toten – genau erfährt man nicht, ob z. B. die beiden Geldtransport-Fahrer verstorben sind – dürfte „Augenzeuge“ einer der bis dahin leichenreichsten Tatorte gewesen sein, als er 1976 ins Fernsehen kam. Drei Tote sind jedenfalls belegt – der Tankstellenbesitzer, Gauner Blondie und Weinhändler Santner.

Das Drehbuch zeigt uns einen Plot, der keine Logikfehler enthält, demnach ist der Film ein Lehrstück für moderne Krimi-Autoren. Könnte man meinen, doch der Teufel steckt manchmal auch im Detail: Wieso trägt einer der Täter beim Tankstellen-Überfall eine Strumpfmaske (deren er dann auch noch verlustig geht), der andere nicht? Wie findet man in einem Gebüsch sofort eine Pistole, wenn man nicht weiß, dass sie sich dort befindet? Die Verwendung eines DKW-Kleintransporters mit Zweitaktmotor als mobiler, ziemlich schwerer Geldschrank kommt uns für die 1970er Jahre schon ein wenig untermotorisiert vor. Zudem ist die Erklärung der Barzahlung von Wochenlöhnen auch für jene Zeit schon etwas dürftig, zumindest für den vermutlich größeren Industriebetrieb, in dem Helga, Santners Geliebte, arbeitet.

Die Charaktere sind gut, weil sie so sind, wie sie sind. Es gibt keine Erklärung dafür. So kann es passieren, dass der bis dahin so ruhig wirkende Santner gegenüber Kunden plötzlich rüpelhaft wird, nur, weil das Drehbuch verlangt, dass er deshalb eine Auseinandersetzung mit seinem Schwiegervater durchstehen muss, die er im gleichen Stil führt.

Die Personen sind schon sehr klischeehaft, aber auch sprunghaf. Wie sich ein Kleingauner plötzlich zu einem Typ upgradet, der mit einem anderen Typ, der vorher auch noch nie ein großes Ding geplant hat, zu einem versierten Geldtransport-Überfall zusammenfindet, hat nicht ganz die Stimmigkeit klassischer Heist-Movies, in denen versierte Verbrecher sich für ein Projekt zusammenschließen. Ein solches erfordert ein erhebliches Maß an Logistik, Präzision und harmonischer Zusammenarbeit. Man muss es wohl auch einem gewissen Schalk, einer hintersinnigen Ironie zuschreiben, wie es hier gezeigt wird, denn die Figuren sind quasi Parodien auf die Gangster in großen Filmen, die sich auch gerne mal in ihren eigenen Schwächen verfangen: Damit ganz klar ist, auf welche Vorbilder ein Film anspielt, der stilistisch sehr von ihnen abweicht, ist der Geldtransport-Coup in Teilen dem berühmten Film „Gewagtes Alibi“ (1949) nachempfunden bzw. die Idee ist dort entlehnt worden. Ein wenig von „Duell“ (1971) ist auch dabei, als der Holztransporter den Geldtransporter nicht überholen lässt. Aber alles natürlich im Vorgartenformat des deutschen Fernsehens, und wir meinen, den Machern war das alles auch klar – darum der leicht parodistische Ansatz.

Eine klassische Film Noir-Handlung also, aufgenommen im vorgeblich hyperrealistischen Stil der 1970er, in dem es um Zufallsverbrecher geht, um Untreue, die in einer BMW-Sonderanfertigung ausgelebt wird (möglicherweise ein Baur-Cabrio auf Basis des letzten Vorgängers der 3er-Reihe), um beengte und unbefriedigende Familienverhältnisse, und um Jobs, die man ausübt, weil man Geld heiratet, um all diese angestauten Dinge, die sich in vielleicht einem von einer Million Fällen so entladen, wie es hier gezeigt wird.

Die Wahrscheinlichkeit war bei diesem Plot kein Gradmesser, sondern die schiere Möglichkeit, dass so etwas passieren könnte, wenn ganz, ganz viele Unwahrscheinlichkeiten zusammenkommen. In der Unbekümmertheit, mit der Tatorte in jenen Jahren konstruiert wurden, liegt beim heutigen Anschauen etwas ungeheuer Befreiendes: Wir merken nämlich, wie schwer wir’s uns mittlerweile selbst machen, das gilt für diejenigen, die heute Tatorte drehen ebenso wie für die Rezipienten. Die Ansprüche sind höher geworden, die Möglichkeiten, frei zu komponieren, geringer.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2023: Was wir oben beschrieben haben, ist der Regelfall des „seriösen“ Tatorts, mittlerweile gibt es (und gab es schon 2015) mehrere Schienen, die sich davon bewusst absetzen. Allerdings laufen auch diese Gefahr, Manierismen zu entwickeln, die alles auf eine bemüht abgefahrene Weise gestanzt wirken lassen.

Allein die heutigen Ermittlerfiguren mit ihren umfangreichen Lastenheften erfordern viel mehr Kopfarbeit seitens der Autoren, die dann bei Logik und Dramaturgie eingespart wird, wenn’s ungünstig läuft. 

Zudem waren Plots wie der von „Augenzeuge“ herrlich unvorhersehbar. Dadurch, dass alles ging, war auch jeder Twist möglich, der heute für lächerlich befunden würde. Alle Jobs sind anspruchsvoller geworden, in den letzten Jahrzehnten, auch der Dreh von Tatorten. Das gilt nicht nur für die Handlungen, sondern auch für die Inszenierung. Wenn in den 1970ern der Schnitt in Ordnung war und ab und zu eine nette Perspektive dabei oder eine Szene, die sich nur durch die Bewegungen der Darsteller erschließt, wie die Planung des Geldtransport-Überfalls, während der nicht gesprochen wird (Vorbild wohl u. a. „Vier im roten Kreise“ von Jean-Pierre Melville, damals war dieser Film gerade erst sechs Jahre alt, in ihm wird während der Ausführung geschwiegen), dann waren das schon Highlights und natürlich ist das geschickt gemacht: Man weiß, hier wird ein Coup arrangiert, aber man weiß nicht, worum es dabei gehen wird. Ebenso, wie lange Zeit niemand ahnt, was Santner im Schilde führt. Man denkt zunächst nur: Es ist nicht relevant, dass er mit seiner Freundin im Wald zugange war! Die Polizei wird ja nicht seine Absicht bewerten, warum er gerade zu jener Zeit die Tankstelle anfuhr, als der Überfall am helllichten Tag geschah. Erst viel später kommt man darauf, dass Santner einen der Täter kannte und sich dies zunutze machen will. Heute würde man das alles viel erlesener bebildern, aber prinzipiell und ohne oben erwähnte Fehler und Fragwürdigkeiten würde diese Handlung auch heute noch funktionieren.

Dann könnte Kommissar Lutz auch im Wege der Ermittlungen seiner Leidenschaft frönen, wie schon vor vierzig Jahren, nämlich in Restaurants die Chefs belehren, wie man Saucen anrichtet:  „Lutz steckt bei seinen Ermittlungen oft die Nase in Kochtöpfe von Hausfrauen und Restaurants. Eigentlich wollte er den Beruf eines Kochs ergreifen; es ist dem Krieg geschuldet, dass daraus nichts werden konnte. Er ist Mitglied eines Amateurkochclubs, probiert Soßen, hört sich Tipps für die Verfeinerung von Gerichten an und mag gar nicht darauf eingehen, wenn ein Kollege fragt, ob man „irgendwo schnell was essen“ solle. Da verspeist er lieber im Büro die mitgebrachten Stullen und trinkt dazu seine Milch. Wenn er essen geht – sein Leibgericht ist „Hammel mit grünen Bohnen“ – dann nimmt er sich dafür Zeit, denkt aber auch dabei weiter die über die Lösung seiner Fälle nach (zitiert nach Tatort-Fundus).

Finale

„Augenzeuge“ ist im wörtlichen Sinn eine Räuberpistole. Von erfrischender Originalität und einer Derbheit, die darin besteht, wie emotionsarm sich menschliche Dramen vollziehen, wie der Ermittler auf all das reagiert und mit allen Menschen umgeht, inklusive dem eigenen Kollegen, wie rudimentär die Denke der Verbrecher in jeder Hinsicht ist. Die Welt ist faktisch, in den frühen Tatorten, nicht melodramatisch. Das heißt, sie wirkt so. Wenn wir wollen, können wir aber auch darüber nachdenken, wieso Richard Wagner ausgerechnet den Staubsauger in der Wohnung der Santners umstößt und wie wenig Worte, Pathos und vordergründige Empathie Dritter es braucht, um das Desaster einer still auseinanderbrechenden Familieneinheit darzustellen. So viel mehr wird heute mit einem riesigen Aufwand nicht ausgedrückt, wie in jenen Jahren, da der Tatort jung war und jede Bewegung einer Figur und jeder Dialogsatz spanned. Spannend für uns heute schon deshalb, weil die Menschen und das Land so anders wirken, als wir sie  heute kennen.  

7/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Regie Theo Mezger
Drehbuch Urs Aebersold
Produktion Thomas Kirn
Musik Jonas C. Haefeli
Kamera Justus Pankau
Schnitt Hans Trollst
Premiere 18. Jan. 1976 auf ARD
Besetzung

 


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