Briefing 384 Bürgerrechte, Freiheitsrechte, Demokratie, Lobbyismus, Repression
Wie sicher sind die Bürgerrechte in Deutschland? Wie stark sind sie gefährdet? Dies hat Statista heute in einer Grafik dargestellt, die auch einen Vergleich mit anderen europäischen Ländern beinhaltet.
Sind die Bürgerrechte in Gefahr?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
„Deutschland ist eine repräsentative Demokratie mit einer lebendigen politischen Kultur und Zivilgesellschaft. Die politischen Rechte und die bürgerlichen Freiheiten sind in Gesetz und Praxis weitgehend gewährleistet.“ Diese Einschätzung stammt aus der aktuellen Ausgabe des von Freedom House veröffentlichten „Freedom in the World“ Rankings. Indes sind sich die Menschen in Deutschland sich nicht ganz so sicher, ob mit dem Zustand der Freiheit in ihrem Land alles in Ordnung ist.
Waren 2019 rund 15 Prozent der Ansicht, dass das Thema „Bürgerrechte“ eines der wichtigsten Probleme des Landes ist, sind es mittlerweile über 20 Prozent der hiesigen Befragten der Statista Consumer Insights. Ähnlich stark ist die Sorge um die bürgerlichen Freiheiten in Italien gestiegen, wie der Blick auf die Statista-Grafik zeigt. Dagegen hat sich die Einschätzung der Spanier:innen bei diesem Thema nicht verändert.
„Bürgerrechte sind Grundrechte, die alle Bürger und Bürgerinnen eines Staates haben“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Dazu zählen beispielsweise Versammlungsfreiheit, Wahlrecht oder Freizügigkeit.
Wir erhalten die Newsletter des Freedom House und wissen daher in etwa, welche Akzente die NGO bei der Bewertung der Freiheiten in einem Land setzt. Wir bilden daher den oben zitierten, zusammenfassenden Text in voller Länge:
Deutschland ist eine repräsentative Demokratie mit einer lebendigen politischen Kultur und Zivilgesellschaft. Politische Rechte und bürgerliche Freiheiten sind in Recht und Praxis weitgehend gewährleistet. Das politische System ist von der totalitären Vergangenheit des Landes geprägt, mit verfassungsmäßigen Garantien, die autoritäre Herrschaft verhindern sollen. Obwohl Deutschland seit Mitte des 20. Jahrhunderts im Großen und Ganzen stabil ist, haben die politischen Spannungen in den letzten Jahren zugenommen, nachdem die Zahl der Asylbewerber im Land stark gestiegen ist und rechtspopulistische Bewegungen immer beliebter geworden sind.
- Nach dem Einmarsch des russischen Militärs in die Ukraine im Februar sind mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland eingereist.
Anmerkung: Mehr als eine Million ukrainische Geflüchtete und zusätzlich ca. 244.000 Asylsuchende, denn ukrainische Geflüchtete müssen keine Asylanträge stellen. Die Zahl der Asylsuchenden lag 2023 schon im September deutlich über der Gesamtzahl für 2022, auch aus der Ukraine kommen weiterhin Geflüchtete, wenn auch nach gegenwärtigem Stand nicht so viele wie 2022. Aktuell beherbergt Deutschland mehr als 1,1 Millionen Ukrainer:innen, die seit dem 24.02.2022 hierher gekommen sind.
- Im Dezember führten deutsche Sicherheitsdienste Razzien an mehr als 150 Orten im ganzen Land durch und verhafteten 25 Personen, die mit der sogenannten Reichsbürgerbewegung in Verbindung stehen, einer rechtsextremen Terrorgruppe, die beschuldigt wird, einen gewaltsamen Sturz der Regierung geplant zu haben. Die Ermittlungen zu der Bewegung dauerten zum Jahresende noch an.
- Die Ermittlungen im sogenannten Cum-Ex-Steuerbetrugsskandal – ein jahrelanges System, bei dem Teilnehmer auf betrügerische Weise Steuernachlässe erhielten, was zum Diebstahl von mindestens 10 Milliarden Euro (10,7 Milliarden US-Dollar) vom Staat führte – wurden das ganze Jahr über fortgesetzt. Im August wurde Kanzler Olaf Scholz von Mitgliedern der Hamburgischen Bürgerschaft zu Vorwürfen befragt, er sei in den Skandal verwickelt gewesen, als er 2016/17 Bürgermeister von Hamburg war. Scholz hat jegliches Fehlverhalten bestritten.
Sie können, wenn Sie möchten, in der Quelle weiterlesen, in der detailliert aufgeschlüsselt wird, wo es in Deutschland gut läuft und wo es hakt. Ein wenig hakt, muss man beifügen, denn weniger als 3/4 erreicht Deutschland nach dieser Einschätzung nirgends. Aufgrund der vielen Krisen und Veränderungen der letzten Jahre sind wir sehr gespannt auf den Report 2023. Zum Beispiel die Versammlungsfreiheit und den Kampf um die Genehmigung propalästinensischer Demonstrationen betreffend. Freedom House registriert sehr wohl, dass es Kämpfe schon länger gibt: Wie stark darf der Staat in die Bürgerrechte unter der Ägide der Terrorabwehr eingreifen? Hat das Bundesverfassungsgericht wirklich die Verfassung geschützt, als es für deutsche Verhältnisse der Zeit vor 2015 sehr weitgehende Eingriffe zuließ oder hat es sich der Politik und ihren repressiven Tendenzen gegenüber zu sehr dienlich gezeigt? Und in anderen Entscheidungen, das fügen wir bei, der Verschiebung der Freiheit in Richtung der Freiheit für das Kapital zulasten der Freiheit der Mehrheit zu sehr Raum gegeben? Das erwähnt Freedom House nicht, zumindest nicht im Report für 2022. Wir werden das weiterverfolgen und unseren Eindruck überprüfen, dass auch diese NGO sich nicht kapitalismuskritisch genug äußert. Ausbeutung gibt es in Deutschland nämlich nicht nur in der besonders bedrückenden Form des Menschenhandels, die kritisch erwähnt wird.
Bei den verglichenen Ländern zeigt sich nur in Frankreich eine leichte Verbesserung, was den Eindruck der Bürger:innen bezüglich ihrer Rechte angeht, überall sonst nimmt die Skepsis zu. Auch in Großbritannien, wo sich der Bürgerwille durch den Brexit ja auf eine sehr direkte und sehr eindrucksvolle, tief in das Leben der Menschen eingreifende Weise verwirklichen durfte, während das Freedom House nicht erwähnt, dass Volksentscheide bei uns der politischen Opportunität anheimgegeben sind, wie etwa das klare Enteignungsvotum des Jahres 2021 in Berlin bezüglich renditeorientierter Großwohnkonzerne. Für uns ist das ein klares Minus im Bereich der politischen Partizipation, wo Deutschland nach Freedom House hingegen volle Punktzahl erhält.
Eines ist wichtig zu beachten: Es geht um Bürgerrechte, nicht um Menschenrechte. Deswegen ist es im Grunde nicht angängig, die Rechte von Nichtbürgern mit den Bürgerrechten abzugleichen. Es wäre hingegen zulässig, zu sagen, in Deutschland ist der gesamte Grundrechte-Katalog des Grundgesetzes nicht allen Menschen zugänglich, das ergibt einen Abzug im Bereich der Grundrechte, aber nicht der Bürgerrechte. Dass zum Beispiel nach Ansicht des Freedom House (zu) wenig eingebürgert wird, ist im Grunde kein Tatbestand, der die Bürgerrechte selbst betrifft, die den Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit zur Verfügung stehen. Deutschland erhält auf dem Gebiet nur 3/4. Diese Diskrepanz aber entsteht vor allem dadurch, dass die Grafik sich auf Bürgerrechte bezieht, während Freedom House die Freiheitsrechte betrachtet. Sie gelten in Deutschland, soweit ihr Geltungsbereich gefasst ist, auf jeden Fall für Bürger:innen, nicht aber vollumfänglich für Nicht-Bürger:innen, auch wenn Letztere schon lange hier leben (Stichwort Ausländerwahlrecht).
Was meinen Sie? Sind die Bürgerrechte auf dem Rückzug? Wir sagen: eindeutig ja.
Der Drang zu mehr Repression kann auch nicht durch gesellschaftspolitische Akzente wie das kommende Selbstbestimmungsgesetz ausgeglichen werden, denn Letzteres ist ein formales Recht, Ersteres zeigt sich im konkreten Staatshandeln. Deswegen halten wir auch die 4/4 in diesem Bereich für mehr als problematisch:
Sind die politischen Entscheidungen des Volkes frei von der Herrschaft von Kräften, die außerhalb der politischen Sphäre stehen, oder von politischen Kräften, die außerpolitische Mittel einsetzen?
Interessant, dass einerseits Deutschland eine lebendige Zivilgesellschaft bescheinigt wird, inklusive der ihre Interessen und Aktivitäten bündelnden NGOen, andererseits nicht vermerkt wird, dass eine ganze Reihe dieser NGOen es noch nicht geschafft hat, den undemokratischen, in Deutschland sehr ausgeprägten Einfluss kapitalistischer Lobbygruppen zu begrenzen, die immer wieder Entscheidungen gegen die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Das verstärkt den Eindruck, dass Freedom House bei Disparitäten, die durch neoliberale Politik, wie sie in Deutschland nach wie vor betrieben wird, nicht so genau hinschaut wie auf anderen Gebieten, die etwas mit Freiheit zu tun haben. Die Freiheit der Bürger, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, wird durch diese kapitalstarken Organisationen erheblich eingeschränkt. Die hiesigen Regeln sind auch bei weitem laxer als in Vorbild-Demokratien wie den skandinavischen. Wir würden Deutschland bei diesem Cluster allenfalls 2/4 geben.
Insgesamt kämen wir wohl bei einer eigenen Berechnung für Deutschland nicht über 80/100. Wir kämen auch wohl, anders als Freedom House, bei keinem Land auf die volle Punktzahl. 80/100 würden immer noch als „frei“ gelten, erst unter 75 setzt „teilweise frei“ ein. Das heißt, wir behaupten, anders als Querdenker und Verschwörungstheoretiker nicht, das Land sein unfrei. Aber es gibt viele besorgniserregende Tendenz, vor allem den Kern der Freiheit, die Demokratie, betreffend. Deswegen haben wir auch schon Beitragsreihen wie „Diskursverschiebung nach rechts“ aufgesetzt und verwenden oft das Hashtag #DemokratieinGefahr oder die beiden Tags #Demokratie in #Gefahr. So wie bei dem heutigen Artikel. Die Gefahren sind vielfältig, sie kommen von mehreren Seiten, und wir haben gegenwärtig den Eindruck, dass die Politik zwar versucht, die Schäden in Grenzen zu halten, das wollen wir auch der Ampelregierung bescheinigen, dass aber von rechts, von oben und von außen sehr stark an diesem Fundament der Freiheit gebohrt wird.
Leider muss auch dieses Mal ein Hinweis beigestellt werden: Wir müssen uns als Bürger:innen auch an die eigene Nase fassen. Die meisten Bürger:innen in diesem Land könnten viel mehr tun, um diese Demokratie wertzuschätzen und zu stärken. Sie scheint es vielen von uns uns aber nicht wert zu sein, und das stellt selbstvertändlich eine Gefahr für die Demokratie dar. Vieles, was beklagt wird, ist auch der Unfähigkeit zu verdanken, sich stark zu organisieren und Gegenmacht auf sinnvolle, konstruktive Weise herauszubilden. Dazu wiederum ist Voraussetzung ein Mindestmaß an politischer Bildung.
TH
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