Briefing 385-UD Geopolitik, PPP, Rüstung, Verteidigungshaushalt, NATO-Ziel, Zwei-Prozent-Ziel, Missmanagement, Effizienz, Atomwaffen
Update: Als wir am 9.12.2023 den Ausgangsartikel zum 2-Prozent-Ziel geschrieben haben, hatten wir vermutet, dass auch bald etwas zu den Atomwaffen kommen würde, denn Aussagen, in denen Konfliktpotenzial liegt, wie jene, dass Joschka Fischer jüngst eine atomare Aufrüstung gefordert hat, lassen sich die Meinungsforscher von Civey in der Regel nicht entgehen.
Am 5.12., noch vor der Zwei-Prozent-Frage kam diese Umfrage aber schon, wir haben sie glatt übersehen. Deswegen bauen wir sie jetzt als Update ein. Den gesamten Text des Updates haben wir in Dunkelblau gefärbt, damit Sie unter anderem sehen, dass wir uns schon bei der Kommentierung des Zwei-Prozent-Ziels zur Atomrüstungsfrage positioniert hatten. Dementsprechend werden hier hier abstimmen. Untenstehend weiterhin die Möglichkeit, sich für oder gegen das Zwei-Prozent-Ziel zu entscheiden. Hier die Frage zu den Atomwaffen:
Begleittext von Civey aus dem Newsletter:
Der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) plädiert für eine Aufrüstung der Europäischen Union – unter anderem mit eigenen Atomwaffen. Die Welt habe sich verändert, begründete Fischer seine Forderung gegenüber der Zeit. Der Gedanke daran gefalle ihm eigentlich überhaupt nicht. Da der russische Präsident Wladimir Putin aber geleitet von seiner imperialen Ideologie ebenfalls „mit nuklearer Erpressung” arbeite, führe kein Weg dran vorbei.
Die Grünen haben sich eigentlich traditionell immer gegen atomare Aufrüstung ausgesprochen. 2020 forderte die grüne Fraktion etwa in einem Antrag an die damalige Bundesregierung, „durch eine konsequente Abrüstungs- und restriktive Rüstungsexportpolitik voranzugehen und sich für ein atomwaffenfreies Deutschland einzusetzen”. Die Einstellung hat sich jedoch seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine teils verändert. Während Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zu Beginn ihrer Amtszeit Waffenlieferungen generell ablehnte, verteidigt sie diese nun mit Verweis auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands.
Die Linke und die AfD sprechen sich ganz eindeutig gegen Aufrüstung und Atomwaffen aus. „Waffen schaffen keinen Frieden”, so begründet die Linkspartei ihre Haltung Ende November in einer Mitteilung auf ihrer Webseite. Sie wirft der Regierung vor, durch ihre Waffenlieferungen an die Ukraine zur Eskalation im Russland-Ukraine-Krieg beizutragen, der im Einsatz von Atomwaffen gipfeln könnte. Zugleich verweist sie auf die Rekordgewinne der deutschen Rüstungsindustrie, welche die Ampel zu ihrer Entscheidung motivieren würde.
Wir haben mit „eher ja“ gestimmt. Es steht gegenwärtig etwa pari. Inklusive der latenten Befürwortenden und Ablehnenden kommen beide Lager auf etwa gleich viele Stimmen. Hingegen sieht es beim Zwei-Prozent ziel erheblich anders aus. Warum das inkonsequent ist, erläutern wir mit Update-Ergänzungen im Anschluss an die Zwei-Prozent-Frage.
Ausgangsartikel, im Kommentar mit Update-Ergänzungen:
Das Zwei-Prozent-Ziel (Verteidigungsausgaben = mindestens zwei Prozent des aktuellen jährlichen Brutoinlandsprodukts) ist seit der Konfrontation zwischen US-Präsident Donald Trump und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einigen Jahren zu einer bekannten Größe in der Politik geworden.
Seitdem steht es immer wieder in der Diskussion. Aber die Voraussetzungen ändern sich, das war in den letzten Jahren besonders stark zu bemerken: Im Jahr 2022 flammte, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, die Diskussion wieder auf und es kam zum Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro. Diese 100 Milliarden stehen außerhalb des diskutierten 2-Prozent-Ziels, weil außerhalb der etatmäßigen Verteidigungsausgaben. Mittlerweile befindet sich Deutschland aber auch in einer Haushaltskrise. Die Frage muss also lauten: Ist das Zwei-Prozent-Ziel trotz der 100 Milliarden extra für die nächsten Jahre eine richtige Vorgabe? Hier schon einmal die Frage:
Lesen Sie, bevor Sie abstimmen, aber möglicherweie noch den folgenden Begleittext von Civey, lesen Sie aber auch bitte unseren Kommentar. Das schreiben wir, weil derzeit 60 Prozent mit „eindeutig ja“ abgestimmt haben.
Begleittext aus dem Civey-Newsletter:
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat der Bundeswehr vor knapp einem Monat deutlich höhere Verteidigungsausgaben im zweistelligen Milliardenbereich bis ins nächste Jahrzehnt zugesichert. Das mit 100 Milliarden Euro ausgestattete Sondervermögen für die Bundeswehr sei nur „ein erster wichtiger Schritt”, sagte der SPD-Politiker auf der Bundeswehrtagung am 10. November in Berlin.
Scholz verkündete zugleich, dass Deutschland somit das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erstmals im kommenden Jahr erreichen werde. „Wir werden dauerhaft diese zwei Prozent gewährleisten, die ganzen 20er Jahre über [und] die 30er Jahre”, ergänzte der Kanzler. Den nötigen Kurswechsel begründete er mit der neuen weltpolitischen Lage, welche auch die deutsche Friedensordnung gefährde. Dabei nannte er etwa den Krieg in Gaza und den Angriff Russlands auf die Ukraine.
Die Union warnt Scholz davor, „unrealistische Zukunftsversprechen” abzugeben. Wer für die Bundeswehr zwei Prozent zusage, müsse deutlich mehr als 20 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr in den Verteidigungsetat stecken, sagte Unionsfraktionsvize Johann Wadephul dem ZDF zufolge. „Mehr Geld für die Bundeswehr bedeute nicht mehr Sicherheit, sondern lediglich ein „Konjunkturprogramm für deutsche und vor allem US-Rüstungskonzerne”, so kritisierte die Linke die geplanten Mehrausgaben für den Wehretat im Bundestag. Angesichts des Milliardenlochs im Bundeshaushalt ist es nun generell fraglich, wie realistisch das Zwei-Prozent-Ziel für 2024 sein wird.
Falls Sie noch nicht abgestimmt haben:
Alle NATO-Staaten sollten dieses Ziel alsbald erreichen, das war schon mit Trumps Vorgänger Barack Obama so vereinbart worden. Die USA haben damit natürlich keine Probleme, sie knallen fast 4 Prozent ihres ohnehin riesigen BIP für Rüstung raus und werden demnächst wohl erstmals einen Rüstungsetat von mehr als einer Billion Dollar haben. Das ist, grob gerechnet, das Doppelte des gesamten deutschen Bundeshaushalts. Es gibt natürlich eine ganz feine Lösung für das deutsche Problem, dieses 2-Prozent-Versprechen einzulösen: Das BIP sinkt und der Rüstungsetat bleibt konstant. Das Jahr 2023 bietet dazu eine gute Gelegenheit. Sie werden gemerkt haben, das war ein Scherz und kann nicht die Bewältigung eines Problems sein, über das ernsthaft diskutiert werden muss.
Es ist keine Kunst, Missmanagement mit Geld zuzuschütten
Wir haben uns in vergangenen Artikeln skeptisch zum Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro geäußert, aber hervorgehoben, dass die Verteidigungsfähigkeit des Landes gesichert sein sollte. Gleichwohl haben wir uns gewundert, dass Atomstaaten mit ähnlich hohen Rüstungsausgaben wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien, nie in dem Verdacht stehen, nicht verteidigungsfähig zu sein. Und zwar nicht wegen der Atomraketen, die sie besitzen (auf die tatsächliche Bedeutung der atomaren Abschreckung gehen wir weiter unten gesondert ein), sondern wegen der intakten konventionellen Streitkräfte. Die Bundeswehr hat nicht einmal eine aufwendige Atomwaffenverwaltung zu betreiben und schafft es trotzdem nicht, „kriegstauglich“ zu sein, wie es neuerdings heißt? Außerdem ist die Bundeswehr seit der Wende auf nur wenig mehr als ein Drittel ihres damaligen Bestandes geschrumpft, die NVA der DDR gar nicht mitgerechnet. Das senkt doch gewiss die Personalkosten erheblich, auch wenn man die nunmehr ausschließlich tätigen Zeit- und Berufssoldaten bezüglich der Besoldung nicht mit den Kosten für eine überwiegende Wehrpflichtarmee vergleichen kann. Die gesamte Logistik und Ausrüstung kann aber auf viel weniger Soldat:innen ausgerichtet werden.
Ist es eventuell möglich, dass gar nicht zu wenig Geld ausgegeben wurde, sondern, dass es in der Bundeswehr unter unfähigen Verteidigungsminister:innen zu großangelegtem Missmanagement im Materialwesen kam? Wir sind sehr vorsichtig damit, das Zwei-Prozent-Ziel mit der notwendigen Verteidigungsfähigkeit gleichzusetzen. Außerdem sitzt nun der Bundeshaushalt für 2024 fest und wir meinen, jetzt ist nicht der Zeitpunkt, gerade die Rüstungsausgaben zu erhöhen, sondern die Daseinsvorsorge der Menschen im Land zu sichern. Wir haben gelesen, dass promilitaristische Stimmen sich schon ausmalen, ob Wladimir Putin nicht als nächstes Ziel ein NATO-Land ins Visier nehmen wird und dafür seine jüngsten Drohgebärden gegen Estland als Beleg der Möglichkeit hergenommen. Wir halten das nach wie vor für ausgemachten Unsinn. Wir waren zwar auch vom Angriff auf die Ukraine überrascht, zumindest wären wir das gewesen, bis bekannt wurde, dass Putin Truppen an den Grenzen zum Nachbarn zusammenziehen lässt. Aber wir glauben, dass ein Angriff auf einen NATO-Staat noch einmal eine andere Kategorie darstellt und dass sich der Kreml-Herrscher das sehr wohl überlegen wird. Denn Länder wie Estland würden ja dann nicht nur durch die (marode oder nicht marode) Bundeswehr zu utnerstützen sein, sondern durch Truppen aus vielen weiteren NATO-Staaten. Es wäre der klassische Bündnis-Verteidigungsfall, der bei der Ukraine nicht vorlag.
Wie weit reicht die russische Bedrohung wirklich?
So zu tun, als ob Putin bei einem Erfolg in der Ukraine einfach immer weitermacht, als ob es keine Unterschiede zwischen den Angriffszielen gäbe, was deren Einbindung in mächtige Militärbündnisse angeht, halten wir für ausgemachten Quatsch, um es klar zu schreiben. So blöd ist man im Kreml nicht, das zeigt sich auch gerade in der Ukraine selbst: Verschiedene Kalkulationen Putins könnten aufgehen, wenn es so weiterläuft wie im Moment. Er ist ein Risiko eingegangen, aber es könnte sich auszahlen.
An eine Rückeroberung verlorenen Gebiets durch die Ukraine ist nicht mehr zu denken, eher ist zu befürchten, dass russische Truppen weiter vorrücken, wenn sich die ukrainischen Streitkräfte endgültig verbraucht haben. Nicht technisch, da kann der Westen immer noch viel tun, aber personell. Eine Riesenklatsche für das gigantische NATO-Bündnis, das mehr Rüstungsausgaben produziert als der Rest der Welt zusammen, eingeschlossen China mit seinem expansiven Rüstungskurs. Und die USA müssen sich vermutlich bald überlegen, ob sie sich der Herausforderung im Pazifik widmen oder weiter die Ukraine, Israel und wen sonst noch alles unterstützen wollen. Wir glauben, wenn es im Pazifik richtig heiß wird, China etwa Anzeichen setzt, dass es Taiwan angreifen wird, wird die Entscheidung eindeutig sein. Pazifik first, Israel second, der Rest wird nachranging behandelt und wird notfalls im Stich gelassen. Gilt das auch für Europa? Das ist eine äußerst wichtige Frage, wegen der Bündnisstrukturen.
Es ist erstaunlich, aber wahr: Die USA können trotz ihres weltweit einmaligen Militärs nicht drei, vier Konflikte gleichzeitig so führen, dass sie Chancen auf einen Sieg haben. Sie dürfen dazu nämlich nicht beliebig viele eigene Truppen einsetzen, das ist seit Vietnam unmöglich geworden. Sie müssen es mit Hilfe und Technik, wirtschaftlicher Eindämmungspolitik und Bedrohung durch massive Truppenpräsenz überall in der Welt hinbekommen, ihre Vormachtstellung zu behalten. Einen Krieg können sie mit eigenen Truppen nur noch führen, wenn der Sieg gut kalkulierbar erscheint und dabei nicht allzu viele Verluste an Menschen auf der eigenen Seite zu erwarten sind. So, wie die Golfkriege gelaufen sind und unbeschadet der miserablen politischen Ergebnisse dieser Einsätze.
Den Europa-ist-bedroht-Apologeten spielt gerade in die Hände, dass Israel so von dem Hamas-Angriff überrascht worden zu sein scheint. Man war nachlässig, heißt es, man hielt es nicht für möglich. Und dies, obwohl es in den letzten Jahren immer wieder Beobachtungen gab, die genau auf eine solche Möglichkeit hinwiesen. Sogar eine Geschlechterdiskriminierungsgeschichte hat man eingebaut, weil es vorwiegend weibliche Beobachtungsposten waren, die an der Grenze auf die Gefahr aufmerksam gemacht haben, die dann an höherer Stelle im patriarchalischen System ignoriert wurde. Es gab aber diese Beobachtungen und sind wir wirklich ganz sicher über die Hintergründe der Ignoranz? Wir werden uns dazu äußern, wenn das endgültige Layout des Gazastreifens nach dem aktuellen Krieg Formen annehmen wird. Heute soll das nicht das Hauptthema sein, sondern eher zur Herausstellung eines Unterschieds dienen.
Putins Truppensammlung östlich der Ukraine war ebenfalls vorher bekannt, und deswegen gibt es diesen Unterschied: Selbst im Ukrainekrieg hat Russland schon häufig Drohungen ausgesprochen, die aus guten Gründen nicht Realität wurden, besonders die atomare Drohung. Immer, wenn der Präsident oder sein Vorgänger Dimitri Medwedew sagen „das ist kein Bluff“, dann ist es einer und dies ist mittlerweile eine Art Ritual. Niemand hat hingegen bisher konkret aufklärerisch beobachtet, dass sich an der polnischen, estnischen oder an der Grenze zu anderen NATO-Staaten russische Truppen ballen. Vielmehr geht die NATO gerade in den baltischen Staaten sehr offensiv vor und verstärkt dort ihre Präsenz. Mag unter den gegebenen Umständen richtig sein oder nicht, aber so ist die erkennbare Lage.
Wichtiger ist also nach wie vor die Frage: Inwieweit können und wollen die USA Europa schützen, wenn es tatsächlich, aus welchem Grund auch immer, zu einem bewaffneten Konflikt kommen sollte?
Heißt das angesichts der Beziehungen, die unter einem republikanischen Präsidenten und wenn die USA sich anderswo gerade stark engagieren, nicht: Umso mehr müssen sich die Europäer anstrengen? Aber tun sie das nicht, gemessen an der Bedrohung, die ja für Zentraleuropa trotz der Unterstützung für die Ukraine nun nicht gerade vor der Tür steht? Muss unbedingt jedes einzelne Land eines Kontinents mit mehr als 500 Millionen Einwohnern mehr als zwei Prozent des BIP für Rüstung ausgeben oder würde es vielleicht ausreichen, wenn zum Beispiel der Durchschnitt bei zwei Prozent läge? Wenn einige Länder diese Vorgabe schon erfüllen, wäre Deutschland also nicht mehr gefordert und könnte darauf verweisen, dass man nominal ähnlich viel ausgibt wie Großbritannien und Frankreich. Diese Länder zahlen ja auch dafür, dass sie selbständiger agieren können als Deutschland, mehr Geld an ihre Streitkräfte aus.
Das wäre der Weg, den wir für richtig halten würden, in der aktuellen Haushaltslage, die selbstverständlich eine Neubewertung der Prioritäten erfordert. Mit Unsummen mehr an Geld als bisher die gröbsten Mängel beheben, falls sie wirklich so grob sind, wie von interessierter Seite dargestellt, das kann jeder, dazu muss Boris Pistorius kein herausragender Wehrkraftmanager sein. Aber das nun einmal auf den Weg gebrachte Sondervermögen sinnvoll, effizient einzusetzen und ansonsten bei der Expansion des Verteidigungshaushalts vorsichtig zu sein und doch die Verteidigungsfähigkeit zu sichern oder wiederherzustellen, das ist eine Leistung, mit welcher der Verteidigungsminister auch bei uns punkten würde. Gegenwärtig liegt Deutschland auf Rang 7 weltweit bei der Rüstung, noch vor Frankreich Militärausgaben nach Ländern weltweit 2022 | Statista. Das Zwei-Prozent-Ziel würde erfordern, dass man an die Ausgaben von Großbritannien (Rang 6) heranrückt. Wir halten das für überzogen, zumal in der Grafik das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro nicht inkludiert ist.
Eine Tatsache ist dabei sehr auffällig: Alle Länder, die vor Deutschland liegen, sind Atomstaaten. Von den Nicht-Atomstaaten hat Deutschland die höchsten Rüstungsausgaben. Daraus erwächst unweigerlich folgende Frage: Ergibt es Sinn, die konventionellen Ausgaben immer weiter zu erhöhen, aber auf die atomare Abschreckung zu verzichten?
Die heikle Frage nach der besten Methode, um Verteidigung und Abschreckung zu vereinbaren
Dass ausgerechnet Joschka Fischer sie zuletzt aufgeworfen hat, mögen wir nicht besonders, aber wir haben schon lange vorher darüber nachgedacht: Muss Deutschland sich nicht zu den europäischen Atommächten stellen, wenn die Zuverlässigkeit der USA erkennbar nachlässt? Es dürfte klar sein, wann wir uns darüber erstmals Gedanken gemacht haben: Als Donald Trump das Verhältnis zu Deutschland auf eine wirklich rüde Weise aufs Spiel setzte. Der nächste Republikaner im Weißen Haus könnte ähnlich europa- und deutschlandfeindlich sein, vor allem, wenn er wieder Donald Trump heißen sollte. Wir wissen, wie schwierig eine solche Diskussion in einem Land ist, das einmal weltweit führend bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie war, bis es sich eingegrünt hat. Aber es war ja nun einmal ein Grüner, der nun die militärische Nutzung der Atomkraft ins Spiel gebracht hat.
Ja, die weltweiten Bedrohungen nehmen zu. Aber woher kommen sie? Muss es gerade Russland sein? Oder liegen Gefahrenzonen in unruhigen Gebieten in Asien, die sich zu einem Weltenbrand auswachsen könnten? Viele Länder haben bereits Atomwaffen oder stehen an der Schwelle dazu. Noch nie wurde ein Atomstaat territorial angegriffen. Die Auflösung der Atommacht Sowjetunion geschah von innen heraus und war bisher ein einmaliger Vorgang unter den Atommächten.
Die atomare Abschreckung ist eine hochriskante Form der Friedenssicherung, aber bisher hat sie funktioniert. Dies war immer dann, wenn Nicht-Atomstaaten in Konflikte verwickelt waren, keineswegs der Fall. Hätte die Ukraine Atomwaffen gehabt oder hätte unter dem atomaren NATO-Schutzschirm gestanden, stünde sie jetzt nicht in einem immer mehr aussichtslos wirkenden Krieg. Käme es zu einer entsprechenden Umfrage, und eine solche wird es sicher noch geben, weil sich Fischers Einlassungen dazu anbieten, würden wir vermutlich für „eher ja“ stimmen. So haben wir oben heute abgestimmt.
Hier ist es anders, hier haben wir für „eher nein“ gestimmt.
Ein paar Milliarden mehr für die Bundeswehr würden uns kein größeres Sicherheitsgefühl geben. Wohl aber wäre das der Fall, würden hier Atomwaffen lagern, über die Deutschland als demokratisches Land, das nach dem Zweiten Weltkrieg keine Hasardeure mehr als Spitzenpolitiker hervorgebracht hat, selbst verfügen könnte. Es ist sehr schade und bedauerlich, dass dieses Gefühl in den letzten Jahren entstanden ist, es ist ein enormes Zivilisationsversagen, aber es ist eine Tatsache.
Wir sind auch der Ansicht, dass die Atomwaffen selbstverständlich NATO-koordiniert werden müssten, aber nicht dafür, dass sie einem gemeinsamen EU-Regime unterstellt werden. Das ist wieder der Versuch von Menschen wie Joschka Fischer, einen unmöglichen Spagat hinzubekommen, nämlich pro-europäisch zu wirken, aber zutiefst nationale Angelegenheiten wie die Sicherung des eigenen Territoriums dabei gleich mitzuvergemeinschaften. Deshalb eine Gegenfrage: Glauben Sie, dass Frankreich das Kommando über seine Force de Frappe mit Deutschland teilen wird?
Nicht im Traum denkt man in Paris daran. Und das hat sehr wohl historische und nachvollziehbare Gründe. Die Rüstungskooperation zwischen Deutschland und Frankreich auf konventionellem Gebiet läuft auch bei Weitem nicht rund, immer wieder gibt es kleine und mittlere Fouls und Kompetenzgerangel und im Zweifel endet alles damit, dass am Ende in den USA eingekauft wird, wie bei dem Kampfjet, der dem Eurofighter nachfolgen soll. Auch beim Nachfolger für den Leopard 2 kam es zu Irritationen, weil eine deutsche Firma ein eigenes Modell demg geplanten Typ von KMW / Nexter gegenübergestellt hatte. Aber eine deutsch-französische Kooperation wäre der Kern einer europäischen Atomstreitmacht, nicht etwa ein Kordon, aus dem die gegenwärtig einzige Atomstreitmacht in der EU ausgeschlossen wäre und ihr eigenes Ding macht.
Wir sind abstimmungsseitig bezüglich des Zwei-Prozent-Ziels bei einer relativ kleinen Minderheit, in Sachen Atomrüstung hingegen stehen sich zwei etwa gleichgroße Blöcke gegenüber. Wir sagen aber: Konventionelle Hochrüstung ohne atomares Abschreckungspotenzial ist inkonsequent. Denn was wird wohl eher passieren? Dass Russland mal wieder eine Atomdrohung ausspricht, oder dass deutsche Truppen NATO-Gebiet konventionell verteidigen müssen? Kann es überhaupt zu einem konventionellen Krieg auf europäischem NATO-Gebiet kommen, wenn Deutschland als Ersatz bereitstünde, wenn die USA Ermüdungserscheinungen zeigen? Immerhin liegt uns Europa letztlich näher als den USA, das darf man nie vergessen. Dort wird global gedacht, mit deutlichen Akzentverschiebungen schon unter der Obama-Regierung in Richtung Pazifik. Die EU-Länder als NATO-Länder haben hingegen nur ihre oftmals direkten Nachbarn mitzuverteidigen und sollten jedweder imperialen Attitüde entsagen, wie die USA sie regelmäßig zeigen und Russland sie unter Putin gleichermaßen zeigen würde, wenn es dazu in der Lage wäre.
Wir lehnen das Zwei-Prozent-Ziel aber nicht kategorisch ab. Wir beschreiben unsere Haltung zusammenfassend so: Sollte es sich unter Ausnutzung aller Effizienzsteigerungsmöglichkeiten anhand der konkreten Lage zeigen, dass es notwendig ist, so weit hochzurüsten, dann ist es eben so und wir müssen den Informationen vertrauen, die dies belegen sollen. Wo dann allerdings im Haushalt gespart werden soll, ist uns nicht klar. Die Renovierung der Infrastruktur und die Sicherung sozialer Minima ist mindestens genauso wichtig, denn ein maroder Frieden ist immer auch ein unsicherer Frieden im Inneren. Gleichwohl: Insbesondere wäre die Aufstellung einer eigenen atomaren Abschreckung eine Notwendigkeit, für ein paar Jahre die Ausgaben zu erhöhen, das würden wir einsehen. Es hilft also nichts, die Schuldenbremse müsste dann so verfasst werden, dass sie das Land nicht einschnürt. Diese Ansicht vertreten wir ohnehin, unabhängig von den Gedanken über den Wehretat.
Diesen betreffend, müssen wir noch etwas hinterherschicken: In diesen volatilen Zeiten ist das, was oben steht, selbstverständlich eine vorläufige Einschätzung. Wir vertreten in dieser Sache keine dogmatische, sondern an den dringendsten Notwendigkeiten orientierte Position, soweit wir diese Notwendigkeiten kennen und einschätzen können. Dieser Nachsatz gilt leider wiederum nur eingeschränkt für die Atomrüstung: Wir glauben nicht, dass es in den nächsten Jahren zu einer weltweiten Friedensordnung kommen wird, die so viel Sicherheit schafft, dass die atomare Erst- und Nachrüstung noch mit guten Gründen abgelehnt werden könnte. Deutschland ist eine ähnliche Mittelmacht wie Frankreich oder Großbritannien, zumindest will man mittlerweile überall mitmischen. Das birgt Gefahren, wie man gerade am sich rapide verschlechternden Verhältnis zu Russland sieht. Wenn man dabei „werteorientiert“ handeln möchte, sogar ausnahmsweise ohne Doppelstandards, darf man nicht atomar erpressbar sein. Nur Atommächte haben überhaupt die Möglichkeit, international Druck auszüben. Das müsste dann auch mit einer Änderung im Sicherheitsrat der UN angehen, die permanenten Mitglieder betreffend. Es gibt immer mehr Atomstaaten, dieser Tatsache muss die Struktur angepasst werden. Großbritannien ist für einen eigenen Sitz eigentlich zu klein und Frankreich ebenso. Da könnte man westlich des Rheins mal zeigen, ob man wirklich kooperationsbereit ist: Ein eigener Sitz für die EU wäre der Ersatz dafür. Unter der Prämisse, dass mindestens die beiden größten Militärmächte und Volkswirtschaften Atomwaffen besitzen.
Hinter dieser Idee stehen weitere Probleme, und zwar erhebliche, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass eine Zeitenwende auch eine strategische Neuausrichtung bedeuten muss und nicht einfach nur ein bisschen mehr von allem, was bisher offensichtlich verprasst wurde. Sowohl militärisch als auch wirtschaftlich muss Deutschland, um eine kohärente Politik machen zu können, ein kohärentes Konzept, das beide Bereiche einschließt, entwickeln. Wir sind sicher, dass man dabei die Mehrheit der Bevölkerung wird mitnehmen können, wenn es klug ausgedacht wirkt. Nicht zu defensiv, nicht zu anspruchsvoll im Sinne einer Neudefinition der Rolle des Landes in der Welt. Es geht eher um die Bestandssicherung, denn eines ist ganz offensichtlich: Deutschland und Europa werden im Vergleich zum Rest der Welt schwächer, nicht stärker. Die Verteidigung wird also, wenn man nicht auf Neutralität setzen will, schwieriger. Gerade haben zwei Staaten ihre formale Neutralität aufgegeben, weil sie sich aufgrund des Ukrainekriegs unsicher fühlen: Finnland und Schweden. Deutschland müsste in die Lage kommen, diese wertvollen Partner, die für eine Atomstreitmacht zu klein sind, mitzuschützen, wenn es darauf ankommt. Warum nicht gegen einen kleinen Obolus, der die Atomwaffenverwaltung zu einer gemeinsamen Angelegenheit aller macht, die wirklich umfassend kooperieren wollen? Um auch dies klarzustellen: Eigene Waffen heißt nicht, Verfahren nach Gusto, sondern natürlich in Abstimmung mit den NATO-Partnern. Auf dass es niemals zu einem Einsatz kommen muss.
TH
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