Filmfest 1026 Cinema
Ganz besonders Indie
Stranger than Paradise ist ein US-amerikanischer Independentfilm von Jim Jarmusch aus dem Jahr 1984 mit John Lurie, Eszter Bálint und Richard Edson in den Hauptrollen. Ursprünglich als 30-minütiger Kurzfilm konzipiert und gedreht (1982), erweiterte Jarmusch Stranger Than Paradise zu einem abendfüllenden Film in drei Kapiteln. Der Film wurde in Schwarzweiß gedreht.
Wenn Inhaltsangaben Wertungen enthalten, dann muss etwas dran sein, daher nehmen wir das Wort „ruhig“ als Aufhänger und stellen fest, dass wir selten einen Film gesehen haben, der über 90 Minuten so handlungsarm ist wie dieser erste Langfilm von Jim Jarmusch („Down by Law“, „Night on Earth“). Außerdem ist er so körnig, dass wir nachschauen mussten, um uns zu vergewissern, dass er tatsächlich auf 35 mm-Filmmaterial gedreht wurde, und nicht im 16 mm-Heimkinoformat. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist, dass dies ein amerikanisch-deutscher Film ist, denn an der Produktion war u. a. das ZDF beteiligt. Mehr dazu in der –> Rezension.
Handlung
Der Film erzählt in ruhiger Weise die eigentlich unspektakulären Erlebnisse des selbsternannten „Hipsters“ Willie aus New York City, seiner ungarischen Cousine Eva und Willies Freund Eddie. Die Handlung ist zum Teil absurd, dies ist aber nicht künstlich, sondern Ausdruck der Alltäglichkeit der Geschichte.
Der erste Teil des Films (The New World) handelt von der Ankunft Evas in New York, den Wochen, in denen sie bei ihrem Cousin lebt, und ihrer Abreise nach Cleveland, wo sie ihre Tante besuchen möchte. Im zweiten Teil (One Year Later) besuchen Willie und Eddie sie dort. Im dritten Teil (Paradise) reisen die drei gemeinsam nach Florida (Zusammenfassung in der Wikipedia).
Rezension
Vom Feeling ist der Film uramerikanisch und doch wieder nicht. Es geht immer um die Kohle, stellenweise ist dies ein Roadmovie von New York nach Cleveland, Ohio; von dort nach Florida, in einen kleinen Ort, der im Nirgendwo zu liegen scheint. Er liegt nicht in der Nähe von Miami, dem Ziel der Reise, das nicht erreicht wird, einen Strand gibt es immerhin. Vielleicht sind es die Figuren, insbesondere die ungarische Cousine, die einen europäischen Touch reinbringen. Die beiden Männer sind zwar „Hipster“, Kleingauner, Wettverrückte, also typische Unterschicht-Amerikaner, die sich durchschlagen und sich mit 600 Dollar in der Tasche reich wähnen. Der amerikanische Traum wird zitiert, mehr als einmal, und den leben anscheinend alle Menschen in den USA, vor allem, wenn sie gute Filmfiguren sein wollen.
Sie können auch daran scheitern, darüber gibt es epische Kinostücke. Tun sie das in „Stranger than Paradise“, dessen Titel schon auf die Fremdheit und die Verfremdung der drei Menschen anspielt, die hier Florida als ihr Paradies auserkoren haben.
Anfangs dachten wir, alles wird sich in einem einzigen Raum abspielen, nämlich in Willies Appartement, das in etwa die kleinste Wohnung darstellt, die wir je in einem amerikanischen Film gesehen haben. Intimer geht es kaum, als Menschen hier zu beobachten. Wie eben Willie, der mal pokert, mal auf Pferde setzt, aber keiner geregelten Arbeit nachgeht. Der Film beginnt damit, dass er aus seinem gemütlich-eintönigen Leben gerissen wird, weil Tante Lotte ihm sagt, Cousine Eva käme aus Ungarn angereist. Offenbar ging das manchmal doch, von jenseits des Eisernen Vorhangs, aber wir erfahren nichts über die Umstände, wie uns der Film ohnehin nicht viel darüber erzählt, wo die Menschen herkommen, was sie motiviert – es ist einfach und man kann alles Mögliche hineininterpretieren. Man muss es aber nicht, auch nicht aus Langeweile.
Denn überraschenderweise, angesichts einer so kargen Produktion, die insgesamt gerade 90.000 Dollar gekostet hat und vom ZDF im Rahmen der Reihe „Kleines Fernsehspiel“ co-finanziert wurde (da hätte das ZDF also im Misserfolgsfall nicht über Gebühr Gebühren verbraten), überraschenderweise ist der Film nicht langweilig. Die Figuren sind nicht einmal irgendwie besonders, besonders schräg, besonders spritzig oder mit besonderen Macken behaftet, ihre Unterhaltungen sind dermaßen alltäglich, das lässt sich im realen Alltag kaum toppen, ihre Reaktionen sind nachvollziehbar, auch da kommt nichts Ungewöhnliches ins Spiel. „Stranger than Paradise“ ist kein Mainstreamkino, das ist allerdings unverkennbar, und die guten 7,3/10, die er gegenwärtig in der IMDb bekommt, stammen sicher vorwiegend von Filmfans der Kategorie, die ins Arthouse-Kino geht, wo eben Filme wie dieser laufen. Wenn wir uns richtig erinnern, war das bei uns genauso, nur waren wir noch etwas zu jung, um in ein Kunstfilm-Lichtspielhaus zu gehen, als dieses kleine, liebenswerte Werk 1984 herauskam – kurioserweise gibt es trotz deutscher Mitfinanzierung keine Synchronfassung, sondern nur Untertitel, und deren weiße Buchstaben verschwinden zeitweise in der oftmals sehr hellen Gestaltung der bewegten Bilder. Low-Key ist kein Stilmittel von „Stranger than Paradise“.
Wir sind aber auch ohne die Untertitel ganz gut mitgekommen, angesichts der klaren, langsamen und sehr einfachen Sprache, die ebenfalls dazu beiträgt, dass der Film etwas unamerikanisch wirkt, denn natürlich sprechen die Ungarn, Willie und Eva, Englisch mit Akzent. Dass Eddie das bei seinem Kumpel nicht aufgefallen ist und er ihn für einen Amerikaner gehalten hat, bis er durch Evas Besuch erfahren hat, dass Willie aus Europa stammt, verwundert nicht so sehr, der Typ ist eben auch ein wenig einfach. Eine der wenigen konfliktreichen Szenen bezieht sich auf diese Tatsache: Dass Willie gerne ein echter Amerikaner wäre und Eddies linkische Art, mit der Erkenntnis, dass der Freund eben nicht in den USA geboren ist, nicht sehr witzig findet. Der Begriff „Halt’s Maul!“ („Shut up!“) kommt in diesem Film sowieso recht oft vor.
Anfangs gebraucht Willie ihn auch Eva gegenüber häufig. Bis die beiden einander angenähert haben und Eva sich Respekt verschafft hat, weil sie einen ungeliebten Job für ungelernte Kräft in einem kleinen Diner versieht und auf eigenen Füßen steht, was Willie im Grunde nie erreicht hat. Es gibt im Verlauf des Films kleine, aber merkliche Veränderungen im Verhältnis der Figuren zueinander – auch Willie emanzipiert sich auf seine Weise, indem er das Handeln übernimmt, nachdem er von Eddie zu einer Wette auf ein Hunderennen animiert wurde, womit er sich überhaupt nicht auskennt und wobei die beiden fast die gesamten ca. 550 Dollar verlieren, die sie noch haben.
Zum Schluss haben sie dann offensichtlich wieder gewonnen – in einem Pferderennen. Kurz zuvor aber hat Eva, die allein in einem Motel zurückbleiben musste, einen Typ getroffen, der ihr Geld in die Hand gedrückt hat, das offenbar für eine Drogensache bestimmt war, so richtig erfährt man nicht, was es mit dieser seltsamen, kurzen Begegnung auf sich hat. Ansonsten hat das Trio nur noch zu Lotte, der gemeinsamen Tante von Eva und Willie, Kontakt und ein Mann auf der Straße wird daraufhin angesprochen, ob er den Weg nach Cleveland kenne. Das ist auffällig wenig, und so wirkt sich das geringe Budget auf die eigenartige, hermetische Stimmung des Films aus.
Diese wird aber vor allem durch die Art befördert, wie die USA gefilmt werden, nämlich als eine Ansammlung von Baracken mit dominanten Linien von Telefonleitungen und –masten, die horizontal und vertikal das Bild teilen, darüber hinaus gibt es einige Industrieschornsteine und Bahnhofsgleise, die im Nirgendwo zu liegen oder ins Nirgendwo zu führen scheinen. Durch die körnige, an Kontrasten reiche, aber an Zwischentönen arme Bebilderung wirkt alles gleich und ziemlich verlassen, egal, ob es in Cleveland, auf der Reise oder wo auch immer ist, es entsteht ein geradezu surrealistischer Eindruck von Landschaft und Gegenständen. Praktischerweise ist es Winter, dadurch werden die Cleveland-Szenen mit Schnee und Matsch, mit eintönigem Weiß und einigen Spuren darin, noch eindringlicher. Lediglich New York wirkt ein wenig anders, als es zwei Mal kurz auftritt: Als Eva die Wohnung von Willie Richtung Cleveland verlässt und als Willie und Eddie ebenfalls nach Cleveland fahren. Aber auch die Stadt wirkt trostlos und ausgesprochen hässlich, wie ein Alptraum, den Menschen nach ihrem Wesen geschaffen haben, wie die Interieurs von Willies Wohnung und dem Häuschen seiner Tante.
Es wird häufig ferngesehen, die einzigen sachlichen Gespräche, außer Geld betreffend, beziehen sich auf Ereignisse im Fernsehen, während mit Emotionen sehr sparsam umgegangen wird, sowohl in Worten wie in Taten. Auch das Lakonische verstärkt den Eindruck, man ist auf einem Trip, von dem man nicht weiß, was hat zu ihm geführt, welchen Sinn hat er, wo sind die Grenzen zwischen Zufall und Willensakt. Es ist ein Driften durch die Tage und so finden und verlieren sich die Menschen konsequenterweise wieder. Vor allem Eva, die das durch sie geformte Dreigespann hätte ankern können, geht auf kuriose Weise den beiden anderen verloren.
Sie lassen sie im Motel allein, irgendwann beschließt sie, nach Europa zurückzufliegen – und in einer Aufwallung von Willenskraft fahren Willie und Eddie zum Flughafen, um sie zurückzuholen. Dann aber sitzen die beiden im Flugzeug nach Europa, während sie längst wieder ausgestiegen ist und allein in den USA.
Finale
Der Reiz dieses kleinen Films, der bewusst im Stile eines Anfängerwerks gehalten ist, dessen zuweilen lange Schwarzblenden das Fragmentarische im Leben, nicht nur seiner Figuren, hervorhebt, erschließt sich aus vielen Details, aus denen sich ein Bild ergeben könnte, wenn man daran interessiert ist, sich eines zu machen. Man kann aber auch den spannenden Momenten folgen und dabei bemerken, dass der Film recht vorhersehbar ist, dass er sogar üblichen Handlungsmustern folgt. Jedoch sind die Sicht und das Filmen selbst originell und erinnern sehr an die Art, wie die New Yorker Indie-Filmer um 1960 herum angefangen haben. Eine Huldigung an John Cassavetes & Co., der vorhergehenden Generation unabhängiger Kinomacher, dürfte „Stranger than Paradise“ trotz seines eigenständigen Stils beinhalten.
Ergänzung anlässlich der Veröffentlichung des Textes im Jahr 2023: Kürzlich hart Arte eine Reihe von Filmen von Jim Jarmusch angeboten, darunter „Night on Earth“. Wir haben sie aufgezeichnet und können nach „Down by Law“ und „Stranger than Paradise“ im Laufe der nächsten Jahre vielleicht eine kleine Werkschau aus den Rezensionen dazu machen.
75/100
© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2014)
| Regie | Jim Jarmusch |
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| Drehbuch | Jim Jarmusch |
| Produktion | Sara Driver Otto Grokenberger |
| Musik | John Lurie |
| Kamera | Tom DiCillo |
| Schnitt | Jim Jarmusch Melody London |
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