Nur Gespenster – Polizeiruf 110 Episode 409 #Crimetime Vorschau Das Erste 17.12.2023, 20.15 Uhr | #Polizeiruf #Polizeiruf110 #Rostock #König #Böwe #Pöschel #Tiesler #NDR #Gespenster #DGR

Crimetime Vorschau – Titelfoto © NDR, Christine Schroeder #DGR – Die große Rezension

Gespenster (Arbeitstitel) ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Polizeiruf 110. Der vom Norddeutschen Rundfunk produzierte Beitrag ist die 409. Polizeiruf 110-Episode und soll am 17. Dezember 2023 im Ersten ausgestrahlt werden. Es ist der 27. Fall des Rostocker Teams.

Handlung

Der Arzt Kai Wülker ist ermordet worden. Am Tatort werden DNA-Spuren von Jessica Sonntag gefunden, die seit vielen Jahren als vermisst gilt. Die Kommissarinnen Katrin König und Melly Böwe benachrichten deren Familie über diese aufwühlende Tatsache.[1]

Am Tatort des ermordeten Arztes Kai Wülker führt die Spur zu einem Cold Case: intakte DNA der seit mehr als 15 Jahren vermissten Jessica Sonntag. Die Kommissarinnen Katrin König und Melly Böwe konfrontieren die Familie von Jessica mit dieser aufwühlenden Nachricht, die von allen Familienmitgliedern unterschiedlich aufgenommen wird. Evelyn Sonntag, eine tieftraurige Frau, hat immer geglaubt, dass ihre Tochter noch am Leben ist. Der Vater, Robert Sonntag, hat vor allem gehofft, dass seiner Tochter wenigstens ein schneller Tod vergönnt war. Er ist erschüttert, dass Hoffen und Bangen wieder von vorne beginnen. Und dann gibt es noch den Bruder der Toten, Henrik Sonntag, dessen Leben durch das Verschwinden der Schwester völlig durcheinandergeraten ist. Auf der Suche nach Jessica müssen König und Böwe das Puzzle der Vergangenheit wieder zusammensetzen. Doch schon bald ist klar, dass der Arzt nicht das einzige Opfer bleiben wird.[2]

Stimmen

Nun heißt der Film also „Nur Gespenster“. Den ersten Film mit der Nachfolgerin von Sascha Bukow, Melly Böwe, habe ich gesehen („Seine Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen“). Ein Titel, der auch ein wenig auf die Teamsituation anzuspielen scheint, denn „die Neue“ ist im Film die Halbschwester von Bukow, im wahren Leben die Frau von Charly Hübner, dem Darsteller von Bukow, und heißt Lina Beckmann. Nominell sind bisher aber seit dem Start im Jahr 2010 und über nun 27 Filme hinweg drei Viertel des Teams erhalten geblieben. Katrin König (Anneke Kim Sarnau), die beinahe mit Bukow ein Traumpaar geworden wäre und die beiden Teammitglieder Pöschel und Tiesler. Wir haben heute an die übliche Vorschau eine rechtspolitische Betrachtung angeschlossen, die sich auf die Rostock-Polizeirufe bezieht – denn in einer in diesen Filmen eingebauten rechtspolitischen Frage hat das BVerfG vor wenigen Wochen eine Entscheidung getroffen. Aber zunächst, wie üblich, einige Stimmen zum Film:

Die Redaktion von Tatort-Fans meint: Verdrängung ist das große Thema dieses Polizeirufs, grandios verkörpert von Judith Engel in der Rolle der Evelyn Sonntag. Auch filmästhetisch wird der schwere Stoff eindrucksvoll in Szene gesetzt, angefangen bei der rätselhaften Bildcollage zu Beginn, vor allem aber durch das intensive Herantasten an die Figuren im Handkamera-Modus. So viel emotionale Nähe erlebt man als Zuschauer selten. Ob es allerdings sinnvoll ist, den inhaltlich sehr dichten Hauptplot noch um einen Nebenstrang um Katrin König und ihren Vater zu ergänzen, der für den Zuschauer zudem nur schwer nachvollziehbar ist, sei dahingestellt. Immerhin wird die horizontale Erzählweise so um eine Facette bereichert. Während Anneke Kim Sarnau allerdings nach Herzenslust wüten und um sich schlagen darf, ist der Ausnahmeschauspielerin Lina Beckmann (derzeit in Höchstform zu erleben im „Anthropolis-Marathon“ am Hamburger Schauspielhaus) anzusehen, dass sie mit Standardsätzen wie „Kennen Sie diesen Mann?“ eindeutig unterfordert ist. Mehr Charaktertiefe und Entwicklung wären auch dieser Figur und ihrer Darstellerin zu wünschen.[3]

Was ist ein Rostock-Polizeiruf, in dem König (Sarnau) wüten darf und kein Bukow da ist, der auch wüten darf? Kein echter Rostock-Polizeiruf, oder? Wir haben weiter unten, vor dem Lesen der obigen Meinung, geschrieben, dass die horizontale Erzählung nun wohl abgeschlossen sei. Möglicherweise stimmt das nicht, aber die Frage nach dem Sinn stellt sich, insbesondere im Blick auf die oben angesprochene mögliche Asymmetrie.

Die Polizisten sind, wie immer in Rostock, furchtbar schroff untereinander, aber dafür bekommen wir zum Ausgleich immer wieder ganz tolle, ruhige Momente und Bilder, die beinahe erholsam sind. Und die brauchen wir auch, denn das eigentliche Thema des Polizeirufs ist sexuelle Gewalt gegen Kinder.

Deshalb suchen König und ihre Kollegin auch nach der vermissten Jugendlichen von damals. Erst dabei nimmt der Krimi richtig Fahrt auf. Es wird rau, es wird spannend, es wird engagiert: Denn es geht auch darum, wer alles wegschaut bei einem Missbrauch im engsten Kreis.

Kaum zu ertragen, wie sich die Film-Mutter aus ihrer Verantwortung winden will und den Missbrauch verharmlost. Ein wichtiges Thema, verpackt in einem soliden Krimi. Der muss sich zwar erst entwickeln, aber das wollen wir ihm mal zugestehen. Zumal das Thema sehr gut dargestellt und auch sehr gut hinterfragt wird. Diesen Polizeiruf sollte man gesehen haben! Vier von fünf Elchen.[4]

Sexueller Missbrauch gegen Kinder also. So wichtig, dass uns zur Bearbeitung des Falles sofort ein anderes Team in den Sinn gekommen ist. Beinahe hätte ich den Regisseur Andreas Herzog mit Ed Herzog verwechselt, dessen Gespür für Themen und Figuren mir in guter Erinnerung ist. Nach dem, was ich weiter unten noch ausführen werde, habe ich etwas die Befürchtung, dass gerade ein sehr sensibles Thema in Rostock auch im furiosen Spiel untergehen könnte, aber es muss ja nicht so sein, zumal das Team sich eben verändert hat.

Für übermäßig empfindliche Gemüter dürfte der „Polizeiruf 110 – Nur Gespenster“ nicht geeignet sein. Der Tatort zeugt von purem Sadismus. Möglicherweise ist in Rostock ein Racheengel am Werk. Nicht ohne Grund werden zu Beginn des Films drastische Bilder gewählt. Das harte Thema und das Mordmotiv (sie werden in der Kritik nicht gespoilert) lassen sich nur schwer weich erzählen. Und auch das Team, das noch immer miteinander fremdelt, hält keine Wohlfühlmomente parat. „Nur Gespenster“ gelingt der dramaturgische Spagat zwischen Familiendrama und Whodunit-Krimi nicht über die gesamte Spielzeit, ist aber dicht erzählt und reich an vielen kleinen, angenehm beiläufig eingeworfenen Nebenplots, emotionale Kraftfelder, die plötzlich aufpoppen, und steht damit in der Tradition dieses eigenwilligen, immer schon etwas raueren „Polizeiruf“-Ablegers. Dazu gehört nicht zuletzt die starke Physis der Schauspieler, die von der Handkamera maßgeblich unterstützt wird und einen Realismus-Eindruck hinterlässt, der sich nicht nur aus dem Thema ableitet.[5]

Wenn Tittelbach-TV überhaupt negative Sätze in einer Zusammenfassung unterbringt, dann darf man davon ausgehen, dass höchsten noch eine mittlere Wertung herauskommen kann. Hier sind es 4,5/6, in der Tat das, was wir hier in etwa als durchschnittlich verorten (wir haben noch keinen Tatort gesehen, der bei dieser Publikation mit weniger als 3,5/6 abschnitt). Also ist es demnach kein sensibles Thema, rau dargestellt, sondern ein böses Thema, das man auch entsprechend inszenieren kann. Dass das Team noch keinen Rückhalt für den  Zuschauer darstellt, ist das, was wir beim ersten König-Böwe-Polizeiruf auch empfunden haben und auch von der ersten hier abgebildeten Kritik nicht unerwähnt gelassen wird. Es passt noch nicht richtig, und das war bei Bukow und König von Beginn an anders.

Der Film (Drehbuch: Astrid Ströher, Regie: Andreas Herzog) ist überladen, doch die Verästelungen halten jeder Überprüfung stand. Sie erschließen sich nicht nur gedanklich, sondern sind emotional so greifbar, dass diese größte aller Leerstellen – der Ausstieg von Kommissar Buckow – fast schon überwunden und verschmerzt erscheint.[6]

Wenn ich das jetzt etwas zusammenziehe, sorgt die Überladung dafür, dass die Leerstelle nicht direkt auffällt – was aber nicht bedeutet, dass Fans von Bukow sie nicht spüren werden.

Während König mit ihrem persönlichen „Gespenst“ kämpft – ihr eigener Vater sucht nach mehr als 40 Jahren Kontakt zu ihr – verdichten sich die Hinweise, dass Jessica lebt und sich an ihren Peinigern rächt. „Du bist der Nächste“, lässt sie ihren Vater wissen, der wenig später auf seinem Boot erdrosselt wird, zuvor aber gesteht, dass er seine Tochter vergewaltigt hat. Auch die Mutter, die die Lebenslüge immer gedeckt hat, bekommt zum Schluss der Folge einen Anruf aus der Vergangenheit und geht zu einem Treffpunkt mit Jessica. Dort begegnet sie aber nicht ihrer Tochter.[7]

Ui, jetzt ist es spannend! So macht man einen Teaser in Kritikform, denn in der Tat endet der Text der zitierten Quelle an dieser Stelle. Und wir beenden die Kritikenschau, denn es kommt noch eine Menge mehr, was Sie nicht in jeder Vorschau von uns zu lesen bekommen und die Konzentration lässt langsam nach, die Infektion, die ich mir vor ein paar Tagen eingefangen habe, fordert ihren Tribut. Zum Glück habe ich die folgenden Absätze schon am Morgen geschrieben.

TH

Rostock, das Team, Rechtsstaat und Gerechtigkeit

Der Wechsel von Bukow zu Böwe stellt trotzdem eine Veränderung dar, die das Team stark prägt. Es wäre wohl gar nicht möglich gewesen, König wieder einen Mann als Ermittlungspartner zur Seite zu stellen, ohne dass der Vergleich mit Bukow und damit entweder ein Glaubwürdigkeitsverlust oder ein emotionales Minus festzustellen gewesen wäre. Oder? Ich meine, doch. Aber dazu hätte man lange suchen müssen, um den richtigen Darsteller zu finden, der es genauso gut, aber hinreichend anders macht. Die Lösung, die man jetzt gefunden hat, halte ich nach dem Anschauen eines der drei bisher mit dieser Konstellation gedrehten Fälle nicht für optimal und sie suggeriert: Es gibt keinen 1:1-Ersatz für Bukow, das muss man akzeptieren. Mir wären ein paar Lösungen des Bukow-Dilemmas eingefallen, die nicht so sehr nach einem bereits bekannten Muster abgelaufen wären. Das Schema, das gegenwärtig in Rostock gespielt wird, ähnelt z. B.  dem des Tatorts Ludwigshafen mit dem Abgang von Mario Kopper und der Installation von Johanna Stern vor einigen Jahren, auch wenn die Hauptermittlerin Odenthal und ihr Dienstkollege Kopper kein Liebespaar wurden.

Rostock war auch deswegen ein so besonderer Polizeiruf, weil andere Schienen ins Schlingern kamen und nicht mehr so überzeugend wirkten, allen voran Magdeburg, wo man sich darauf kaprizierte, die Zuschauer möglichst von jeder Identifikation mit der Hauptermittlerin fernzuhalten und ein maximal düsteres Setting zu entwickeln. Mithalten mit Bukow und König konnten, auf andere Art, die Münchener Polizeirufe, die vor allem durch Qualität bis ins Detail glänzten und eine andere emotionale Temperatur hatten. In gewisser Weise waren sie gegensätzlich angelegt. Im Moment steckt einiges fest oder ist im Übergang begriffen. Kein einziger Polizeiruf ist aktuell auf dem Niveau, das vor einigen Jahren erreicht war. Deswegen kam bei uns nun erstmals folgende Überlegung auf:

Es gibt 22 Tatort-Teams und 4 Polizeiruf-Teams. Wir halten das für zu viel. Insgesamt 20 Städte würden vollkommen ausreichen. Einige Traditions-Tatortstädte sehen wir zu selten, andere bieten kaum Eigenständigkeit. Wie wäre es damit, zwei von vier Polizeiruf-Teams und vier von 22 Tatort-Teams zu streichen, die ganze Energie in die Qualität und Weiterentwicklung der übrigen zu stecken und die beiden verbliebenen Polizeiruf-Teams in die Reihe Tatort zu integrieren? Wir schreiben mit Bedacht nicht, welche Polizeiruf-Teams wir gerne weiterhin sehen möchten und welche Tatorte man abschaffen könnte, ohne dass die Reihe kollabieren oder wesentlich verlieren würde. Doch nach unserer Ansicht haben beispielsweise der NDR und der SWR jeweils einen Tatort zu viel. Beim NDR wird sich das Problem vielleicht von selbst lösen, wenn Tschiller aufhört. Dann gehen eben die Bundespolizisten Falke und Grosz in die Traditionsstadt Hamburg oder bleiben, was sie sind. Wenn es weniger Teams gibt, ist auch der Regionalproporz nicht mehr so wichtig, wie etwa in Bayern / Franken (BR) oder Rheinland / Ruhrgebiet / Westfalen (WDR), Rheinland-Pfalz / Baden / Alemannischer Raum / Schwaben (SWR).

Wir sind absolut nicht dafür, die öffentlich-rechtlichen Sender kaputtzusparen, aber seit Jahren müssen Tatort und Polizeiruf mit etwa dem gleichen Budget aufkommen, obwohl die Preise für alle Komponenten, von den Gagen bis zur Technik, steigen. Trotzdem soll die Qualität der Anmutung dieser Filme möglichst auf US-Serienniveau sein. Ein unmögliches Unterfangen. Die einzige sinnvolle Lösung unter diesen Voraussetzungen ist eine Reduktion. Dabei darf man gerne auf die Sparzwänge verweisen, falls Menschen ÖR-Gegner sind, aber natürlich unbedingt ihre Heimatstadt als Schauplatz eines Tatorts oder Polizeirufs sehen möchten. Selbst mit 20 Teams könnte man etwa 40 Sonntagabendkrimis im Jahr produzieren, und das reicht aus, um abseits der Sommerpause an jedem Sonntagabend eine Premiere zu zeigen, nach Feiertagen wahlweise montags, aber nicht zusätzlich. Mehr gute Drehbücher und Regisseur:innen, die geeignet sind, den Sonntagabendkrimi weiterzuentwickeln, gibt es im deutschsprachigen Raum ohnehin nicht. Wir müssen anfangen, nicht immer alles bewahren oder weiter expandieren zu wollen, das gilt auf vielen Gebieten. Vielleicht kommen wir dann auch wieder zu der Qualität, die allein durch Konzentration aufs Wesentliche entstehen kann.

Die 2000er und 2010er, in denen auch der Rostock-Polizeiruf seinen Höhepunkt begann und seine Höhepunkte erlebte, waren gute Jahrzehnte, nachdem man es geschafft hatte, die Übergangszeit der „Wende“ und die damit verbundenen Unsicherheiten, Fehlentwicklungen, Stagnationsphasen zu überwinden. Aber seit einigen Jahren beschleicht mich das Gefühl, es fehlt eine konzeptionelle Vorwärtsbewegung, man stochert herum, experimentiert mal hier, mal da, findet aber keine neuen Ansätze mehr. Das passt gut in eine Zeit der Angst und der reaktionären Einstellungen. Leider war auch der Polizeiruf Rostock an dieser Entwicklung beteiligt, etwa in der Form, dass es tatsächlich durchgelassen wurde, dass eine Ermittlerin Beweismittel fälscht, um ihre persönliche Vorstellung von Gerechtigkeit durchzusetzen. Natürlich, wo Recht zu Unrecht wird, ist Widerstand Pflicht. Aber nicht in der Form, dass man grob gesetzwidrig handelt und damit der ohnehin verbreiteten Ansicht Vorschub leistet, Willkür sei der Leitfaden in diesem Rechtsstaat geworden. Auch erzkonservative rechtspolitische Ansichten hat man gerne mal im Polizeiruf untergebracht, vor allem in Brandenburg und in Rostock. Gerade jetzt ist aber Kante angesagt gegen diesen Trend, das spielt neben der Qualität eine wichtige Rolle, wenn es um Konzepte für die Sonntagabendkrimis geht.

Ein Problem der Rostocker Polizeirufe

Wir gehen heute, wenn wir schon auf dem Pfad sind, ein wenig über den aktuellen Fall hinaus.

Die meisten Rostock-Polizeirufe mit Bukow und König habe ich hoch bewertet, weil sie einfach tolle Filme waren, aber dabei auch oft ein Auge zugedrückt, im oben angedeuteten Fall nicht, sondern eine starke Abwertung vorgenommen. Das dialektische Kölner Tatortkonzept mag schon etwas angestaubt wirken und könnte renoviert werden, ohne seine Vorzüge aufzugeben. Aber einer von dessen Vorzügen ist es, ausgewogen und rechtspolitisch unbedenklich zu sein. Stimmt das? Nun ja, meistens, auch dort gab es schon Beweismittelunterschlagung, um der Gerechtigkeit zu dienen. In Rostock hat man das aber ein ganzes Stück weitergetrieben und die Rezensenten haben sich überhaupt nicht daran gestört. Das deutet darauf hin, dass die Sonntagabendkrimis besonders nach dem Konzept von Eion Moore für den Rostock-Polizeiruf, von spektakulären Übergriffen gegen den Rechtsstaat seitens der Exekutive, die ihn schützen soll, gelebt haben. Auf dieses Element kann ich in Zeiten, in denen der Rechtsstaat so unter Druck steht wie jetzt, gerne verzichten, auch wenn legales Verhalten im Polizeidienst weniger thrillig ist als die Variante, ob es denn rauskommt und welche Folgen es hat, dass wieder mal jemand komplett aus der Rolle gefallen ist. Im Grunde ist das eine sehr billige und zweifelhafte Art, Spannung zu erzeugen. Wenn man das will, dann sollte man den Polizeikrimi am besten aufgeben und Films noirs drehen, die aus der Sicht von Antihelden gefilmt sind. Das wäre ehrlicher, als Polizist:innenfiguren immer weiter von der Wirklichkeit und zusätzlich von ihrer Vorbildfunktion zu entfernen.

Die meisten Kritiker:innen haben wohl keinen juristischen Background und auch kein besonders elaboriertes Rechtsverständnis und begreifen offenbar nicht, was Filme anrichten, in denen mit fundamentalen Rechtsprinzipien so beliebig umgegangen. Dies ausgerechnet am Standort Rostock, also im Osten, wo ohnehin viele Menschen Schwierigkeiten mit Demokratie und Rechtsstaat haben und Orientierungshilfe wichtiger wäre, als die Idee zu verfolgen, immer mal wieder zu testen, wie weit das Publikum und die rezensierenden Profis mitgehen, wenn man sich immer ein Stückchen mehr von der Basis eines verlässlichen Handelns der Staatsorgane entfernt. Von der Basis also, auf der wir letztlich alle stehen. Ich bin mir sicher, diejenigen, die diese Filme konzipieren, haben voll im Blick, was sie bei in dieser Hinsicht nicht geschulten oder allgemein weniger elaborierten Menschen damit bewirken, sie also manipulieren. Wir haben ja auch, bis auf den einen Fall, gesagt: Guter Film, wenn auch rechtspolitisch zweifelhaft, aber „guter Film“ zum Maßstab der Bewertung gemacht.

Da nun Bukow weg ist, der nicht immer legal gehandelt und eine krass gesetzwidrige Handlung seiner Kollegin gedeckt hat, ist es an der Zeit, dieses Problem der Rostock-Polizeirufe etwas mehr in den Vordergrund zu stellen und ein Fazit der Ära König-Bukow speziell unter diesem Aspekt zu ziehen.

Mit der De-Emotionalisierung, die zwangsläufig verbunden ist mit der neuen Konstellation, könnte man sich auch mehr bemühen, Spannung nicht daraus zu kreieren, ob herauskommt, dass eine Polizistin Beweismittel aktiv fälscht, nicht bloß unterschlägt, um im Grunde auch sich selbst Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Es ist sehr schlau gemacht, dass man dieses Verhalten auch aus ihrer Biografie herleiten kann, deswegen ist die horizontale Erzählweise der Rostock-Polizeirufe, die nun ebenfalls nicht mehr wie bisher fortgeführt werden kann, geradezu ein Geniestreich gewesen; Ehre also, wem sie gebührt und wo sie sich richtig anfühlt. Dadurch hat man aber auch ein sehr großes Verständnis für Übergriffe erreicht, die es trotz aller unterschiedlichen Voraussetzungen, die Menschen mitbringen, wenn sie sich einen Beruf wählen, nicht tolerieren darf.

Rechtspolitische Diskussionen kann man auch anstoßen, ohne dass man diese allzu große Toleranz für Unrecht im Dienst aufbringen muss. Zum Beispiel die ganz wichtige Frage, inwieweit man beim Vorliegen neuer Beweismittel und voranschreitender Technik jemandem noch einmal den Prozess machen darf, der einst freigesprochen wurde, denn darum geht es im Wesentlichen. Es ist ein wenig eitel, es auf so plumpe Weise zu tun, wie wir es hier gezeigt bekommen und damit das Publikum zu streicheln, dass jemand das Recht in die eigene Hand nimmt, anstatt ein Gefühl der Unzufriedenheit zuzulassen, das für eine ernsthafte Diskussion über dieses Thema viel konstruktiver wäre.

Ganz aktuell

Es gibt in der Tat ein Ringen darum, ob es zu einem erneuten Strafverfahren kommen darf. Es gibt bereits abgesicherte Tatsbestände, die das ermöglichen, aber in den Rostock-Polizeirufen und in anderen Krimis ging es um den Fortschritt der Technik, vor allem durch die DNA-Analyse, die in Deutschland erstmals 1988 im Rahmen der Krimaltechnik durchgeführt wurde. Nach einem jahrelangen Streit, in den sich, siehe oben, auch der Rostock-Polizeiruf einzuschalten gedachte und klar positioniert hat, nämlich pro Wiederaufnahmemöglichkeit, kam es 2021 zu einer Neufassung von § 362 StTPO, die besagt, dass bei unverjährbaren Verbrechen wie Mord ein neues Verfahren aufgrund veränderter Beweislage zulässig ist. Es war ein bestimmter Fall, der dabei in der Diskussion stand. Sehr instruktiv dazu: Bundesverfassungsgericht über Prozesswiederaufnahmen – ZDFheute.

Nun erfahren Sie den Grund, warum wir den ersten Rostock-Polizeiruf nach dem BVerfG-Urteil vom 31.10.2023 als Anlass genommen haben, eine Rechtsfrage darzustellen, die im Rostock-Polizeiruf ausführich und nach unserer Ansicht falsch behandelt wurde: Bundesverfassungsgericht – Presse – Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig

Das BVerfG als höchste Instanz zur Beurteilung deutscher Normsetzung hat entschieden, dass die Wiederaufnahme aufgrund verbesserter Technik bei der Beweisführung verfassungswidrig ist. Ja, bleibt da nicht bloß noch das, was König gemacht hat, um Gerechtigkeit zu erzielen? Nein, natürlich nicht. Um ehrlich zu sein, wir hätten eine andere Entscheidung des BVerfG bevorzugt, wenn wir nur die Einzelfallgerechtigkeit im Blick gehabt hätten. In der Tat ist es nicht einfach, zu akzeptieren, dass jemand, der nach neuer Beweislage nahezu sicher ein Mörder ist, frei bleibt, weil die neue Beweislage keine Wiederaufnahme eines Verfahrens ermöglicht.

Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Beschwerdeführer ist verfassungswidrig. Ihre Rechtsgrundlage, § 362 Nr. 5 StPO, verstößt gegen Art. 103 Abs. 3 GG. Das in Art. 103 Abs. 3 GG statuierte Mehrfachverfolgungsverbot verbietet dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zum Nachteil des Freigesprochenen aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel. Es trifft eine Vorrangentscheidung zugunsten der Rechtssicherheit gegenüber der materialen Gerechtigkeit. Zudem verletzt die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO auf Freisprüche, die bereits zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens rechtskräftig waren, das Rückwirkungsverbot.

Ja, schwierig. Zugegeben. Aber kein Freibrief für Beweismittelfälschung. Was wir hier auch gleich lernen: Nicht nur materielles Recht unterliegt dem Rückwirkungsverbot, sondern auch Prozessrecht. Es darf also nicht nur jemand nicht verurteilt werden, der nach heutigem Recht eine Straftat begangen hat, die zum Zeitpunkt der Begehung aber nicht strafbar war, sondern auch die Voraussetzungen für die Verfolgung einer auch zum Zeitpunkt der Begehung bereits strafbaren Handlung, die aber vor der Rechtsänderung bereits mit einem Urteil belegt wurde,  dürfen nicht nachträglich so geändert werden, dass dieses Urteil aufgehoben und der Fall noch einmal vor Gericht aufgerollt werden kann. Das heißt auch: Selbst, wenn das BVerfG den geänderten § 362 stopp für verfassungskonform erachtet hätte, hätte niemand danach wieder vor Gericht gestellt werden dürfen, der vor dessen Inkrafttreten im Jahr 2021 sich strafbar gemacht hat. Damit wären die allermeisten „Cold Cases“ weiterhin nicht neu verhandelbar gewesen. Auch derjenige, der zur Änderung der StPO und zur Erklärung der Verfassungswidrigkeit dieser Änderung geführt hat – und auch die Fälle, um die es im Polizeiruf Rostock ging.

Ob man sich nun im Rostocker Polizeiruf veranlasst sieht, die geklärte Rechtslage zu akzeptieren oder die Polizist:innen noch mehr freidrehen zu lassen, gerade, weil die Rechtssicherheit über die Einzelfallgerechtigkeit gestellt wurde, bleibt abzuwarten. Vorerst wird es jedenfalls nicht mehr dazu kommen, dass aufgewärmte „Cold Cases“ zu Verurteilungen viele Jahre nach der Tat führen können. Das gilt natürlich nicht im umgekehrten Fall: Selbstverständlich darf jemand, der zu Unrecht verurteilt wurde, aufgrund neuer Beweismittel rehabilitiert werden. Auch in diesem Fall gibt es keine wirkliche Gerechtigkeit, denn die zu Unrecht im Gefängnis abgesessene Lebenszeit ist nun einmal verloren, für immer. Auch in diesem Fall darf der nunmehr möglicherweise festgestellte echte Täter aber nicht „ersatzweise“ eingebuchtet werden.

Die meisten Länder, die man als rechtsstaatlich bezeichnen kann, haben übrigens ähnliche Vorschriften in Sachen Rückwirkungsverbot wie Deutschland, es handelt sich also nicht um eine exklusive Ausnahme, die das Grundgesetz aufgrund der deutschen Vergangenheit gemacht hätte, der Rechtsgrundsatz des Ausschlusses der Mehrfachverfolgung geht bis ins römische Recht zurück.

Die Frage ist aber nicht ketzerisch, die wir zum Abschluss stellen: Über Jahrhunderte, Jahrtasuende hinweg haben sich die Möglichkeiten, eine Straftat aufzuklären, kaum verändert, daher war dieser Rechtssatz auch sehr logisch und sollte Willkür des Staates verhindern. Das hat sich aber in den letzten Jahrzehnten geändert. Die Kriminaltechnik hat gewaltige Fortschritte gemacht, fast alle neueren Gewaltverbrechen, sofern sie als solche erkannt werden (anders mglw. bei Giftmorden unter Verwandten), werden rückhaltlos aufgeklärt, die Quote liegt bei Mord mittlerweile bei 96 Prozent. Kann man einen Rechtssatz also trotz dieser neueren Entwicklung noch so aufrechterhalten, der diese Entwicklung nicht reflektiert? Beim betr. Urteil es nämlich ein Minderheitenvotum, die Entscheidung erging nicht einstimmig. Insbesondere wird darauf verwiesen, dass es schon bisher Ausnahmen vom Grundsatz, nicht zweimal für dieselbe Tat vor Gericht gestellt werden zu dürfen, gab, und diese Ausnahmen nun aufgrund neuerer Entwicklungen ergänzt werden sollten. Die Argumentation dazu ist sehr interessant und wir meinen, relevant. Allerdings steht eines auch nach dieser abweichenden Meinung außer Frage: Das echte Rückwirkungsverbot. Mithin, des bleibt bei Fällen, die vor der Gesetzesänderung im Strafverfahren zu einem Freispruch geführt haben, bei diesem Freispruch. Ob es gerecht ist oder nicht, an diesem Prinzip des Rückwirkungsverbots, das auch Verfahrensvorschriften umfasst, sollte nicht gerüttelt werden. Das bedeutet auch, dass die praktische Anwendung des neuen § 362 V StPO sehr eingegrenzt gewesen wäre, hätte das BVerfG ihn bestehen lassen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Rostocker Polizeirufe in eine rechtspolitische Frage sehr tief eingestiegen sind, aber das Problem haben sie nicht hinreichend kenntlich gemacht, sondern auf eine sehr manipulative, dem Rechtsempfinden einer angenommenen Mehrheit gegenüber liebedienerische und nicht gangbare Weise „gelöst“, ohne sich mit der rechtspolitischen Problematik ernsthaft auseinanderzusetzen. Gerade in diesen Zeiten ist es deshalb am Ende wichtig, wieder einmal festzuhalten: Demokratie und Rechtsstaat bedeuten nicht Willkür der Mehrheit, bis hin zu Terror, Verfolgung und Mord, sondern Schutz individueller Grundrechte auch gegen eine mehr und mehr die Zivilisation preisgebende Mehrheit. Die Grundrechte mussten immer schon verteidigt werden, waren nie von Angriffen frei.

Vielleicht hat die Senatsmehrheit beim BVerfG deshalb ein klares Zeichen gegen die Aufweichung von „Ne bis in idem“ gesetzt. Ich glaube, es hat dies an einer Stelle getan, an der man hätte anders entscheiden können, zumal die praktischen Auswirkungen ja durch ein weiteres verfassungsrechtliches Verbot, das der echten Rückwirkung, begrenzt gewesen wären. Vielleicht glaubte man auch, diese zweite Leitplanke nicht so gut darstellen zu können. Allerdings ist auch „Ne bis in idem“ nicht gerade volkstümlich, zumal er nicht berücksichtigt, dass in den letzten Jahrzehnten eine stürmische Weiterentwicklung der Aufklärungsmöglichkeiten für Gewaltverbrechen stattgefunden hat, die dieser Grundsatz nicht berücksichtigen konnte. Nach unserer Ansicht verändert das sehr wohl die Abwägung und da es weitere, schon bisher bestehende Gründe für die Wiederaufnahme gibt, wie etwa ein schlampig durchgeführtes Verfahren, Urkundenfälschung, nachträgliches Geständnis (dieses spielt ebenfalls in einem der Rostock-Polizeirufe eine Rolle, konnte dort aber nicht beweisfest gemacht werden, da nur gegenüber der Ermittlerin unter vier Augen und ohne Dokumentation abgegeben), kann man m. E. auch neue Beweise aufgrund verbesserter Ermittlungsmethoden inkludieren. Am Ende bleibt es aber bei eingeschränkten Möglichkeiten einer Wiederaufnahme – wegen des Rückwirkungsverbotes. Dieses müsste man also für die gegebenen Fälle ebenfalls aufheben, und das wäre noch einmal eine andere Diskussion.

Dass wir das Label „Die große Rezension“ gesetzt haben, entspricht zwar nicht exakt dem Textinhalt, der in solchen Fällen normalerweise auf unserer Kritik nach dem Anschauen relativ wichtiger oder für uns besonders interesssanter Filme basiert, aber soll erläutern, dass  es sich hier um eine besonders umfangreiche Vorschau handelt, die wir durch allgemeinen Polizeiruf-Rostock- und Rechtsaspekten erweitert haben.

Besetzung und Stab

KA-Analystin Katrin König – Anneke Kim Sarnau
Kriminalhauptkommissarin Melly Böwe – Lina Beckmann
Henning Röder, Leiter der Mordkommission – Uwe Preuss
Kriminaloberkommissar Anton Pöschel – Andreas Guenther
Kriminaloberkommissar Volker Thiesler – Josef Heynert
Evelyn Sonntag – Judith Engel
Robert Sonntag – Holger Daemgen
Henrik Sonntag – Adrian Grünewald
Michelle Carstensen – Senita Huskić
Günther Wernecke – Wolfgang Michael
u. v. a.

Regie – Andreas Herzog
Buch – Astrid Ströher
Bildgestaltung – Marcus Kanter
Musik – Chris Bremus

[1] Polizeiruf 110: Nur Gespenster – Wikipedia

[2] Nur Gespenster – Polizeiruf 110 – ARD | Das Erste

[3] Polizeiruf 110: Nur Gespenster – Tatort Fans (tatort-fans.de)

[4] Polizeiruf-Kritik am 17.12. aus Rostock „Nur Gespenster“ (swr3.de)

[5] https://www.tittelbach.tv/programm/reihe/artikel-6459.html

[6] „Polizeiruf 110: Nur Gespenster“ aus Rostock: Der Tod als Totalschaden – TV-Kritik (rnd.de)

[7] „Polizeiruf 110 – Nur Gespenster“: Neuer Krimi aus Rostock geht unter die Haut – TV SPIELFILM

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