Alle Palermo – Tatort 279 #Crimetime 1190 #Tatort #München #Batic #Leitmayr #Menzinger #BR #Palermo

Crimtime 1190 – Titelfoto © BR

Die Ablehnung liegt wie ein dunkler Schatten über Palermo

Alles Palermo ist ein Fernsehfilm aus der Krimireihe Tatort. Der vom Bayerischen Rundfunk unter der Regie von Josef Rödl produzierte Beitrag wurde am 29. August 1993 im Ersten als 279. Folge der Reihe erstgesendet. Für die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr war es der sechste Fall.

Die Szene, in der Ivo Batic der Veronica Ferres den angebotenen Beischlaf verweigert, werden wir so schnell nicht vergessen – er selbst hat’s vermutlich auch nicht getan, so dröge und uncharmant geriet der Moment, abgesehen von seiner prinzipiellen Fragwürdigkeit. Und selten hat Mirolsav Nemec so hölzern gewirkt wie in diesem 6. Fall, den er zu lösen hatte. Der Kollege Udo Wachtveitl bewegte sich auf ähnlichem Niveau. Was war geschehen? Und was ist seitdem geschehen? Es steht in der –> Rezension.

Handlung

Direkt an der Mülldeponie im Norden Münchens liegt die Gärtnerei von Anton Berger. Als der Besitzer eines Nachts ermordet wird, stoßen die Kommissare auf Bergers Vorliebe für Mädchen aus dem Rotlicht-Milieu. Tatsächlich scheint diese Spur vielversprechend, denn auf der Suche nach Bergers letzter Freundin, der Prostituierten Maria, treffen die Kommissare auf einen alten Bekannten: Den Zuhälter Sandler. Batic, der Sandler schon einmal in einem Mordfall laufen lassen mußte, verbeißt sich in die Idee, ihn diesmal um jeden Preis zu überführen.

Als Sandler jedoch mit Hilfe seiner Pflegemutter Anna Bürgl ein niet- und nagelfestes Alibi präsentiert, kommt es zum Streit zwischen den beiden Kommissaren. Leitmayr ist nicht mehr bereit, die Sturheit seines Kollegen zu unterstützen. Während Batic weiterhin auf Sandlers Fersen bleibt, konzentrieren sich Leitmayrs Ermittlungen nun auf Bergers Geschäftspartner, den Bauunternehmer Reisinger, der mit seinem ehrgeizigen Assistenten Karl Schweitzer immer wieder bei der Gärtnerei auftaucht. Leitmayr findet heraus, daß das Gelände der Gärtnerei beim Erweiterungsbau der Mülldeponie eine zentrale Rolle spielt und kommt allmählich hinter ein Netz von Korruption und Bestechung, das durchaus an sizilianische Verhältnisse erinnert: „Alles Palermo!“

Noch ahnen die beiden Hauptkommissare nicht, daß am Ende beide Spuren zu ein- und demselben Ziel führen werden.

Rezension

Mittlerweile bekommen wir eine Ahnung davon, warum die Münchener Qualitätskurve, die in der Rangliste des Tatort–Fundus abgebildet ist, recht weit unten begann und erst im Lauf der Zeit die Höhen erreichte, die man heute von den Münchenern kennt. (Anmerkung 2023: Die Rangliste ist leider mittlerweile nicht mehr erreichbar, deswegen gibt es auch keine Fortschreibung der auf ihr basierenden Grafiken der Entwicklung von Tatort-Teams  von uns, die quasi ein Alleinstellungsmerkmal des „ersten“ Wahlberliner waren). Die ersten Fälle waren in der Tat keine Meilensteine des Genres oder des Formats. Bewundernswert finden wir es, dass der Bayerische Rundfunk als eine solide Sendeanstalt aber an seine beiden Jungkommissare und an ihr Potenzial geglaubt hat. Dies trotz offensichtlicher Schwächen, wie wir sie schon in „Animals“ insbesondere bei Udo Wachtveitl festgestellt haben – sie fallen in „Alles Palermo“ weniger auf, weil Miroslav Nemec die schlechteste Vorstellung abgibt, die wir bisher von ihm gesehen haben.

Wir dürfen so etwas heute schreiben, weil die beiden so gut geworden sind. Man ist wirklich mehr als erstaunt, wie die an sich gearbeitet haben und wie der Sender ihnen sicher dabei geholfen hat. Mit Sylvia Koller hatten sie eine starke Frau im Hintergrund, welche für die Batic und Leitmayr verantwortlich war und Anfangsfehler wurden so lange korrigiert, bis die späteren Top-Tatorte möglich waren. Darin haben die beiden Münchener (ursprünglich drei) sich als eines der humorvollsten und prägnantesten Teams herausgestellt – zudem waren manche Drehbücher, die der BR angenommen hat, so gut, dass in Kombination mit der Weiterentwicklung der Ermittler nur Gutes herauskommen konnte.

In „Alles Palermo“ werden sie schauspielerisch jedenfalls von Friedrich von Thun, von Jacques Breuer, von Veronica Ferres und knapp von Andreas Giebel überspielt. Selbst Michael Fitz als Carlo Menzinger wirkt in seiner knappen Rolle mehr zu Hause als die beiden Hauptkommissare in ihren weit ausgebauten Darstellungen.

So war das also in jener Zeit, als man Jungschauspielern eine Chance gab, anstatt beinahe alle Neubesetzungen an Promis zu vergeben. Ähnlich gelagert war die Bestellung der damals ziemlich unbekannten Ulrike Folkerts zur Ludwigshafener Teamchefin Lena Odenthal im Jahr 1989, zwei Jahre vor dem Start der heutigen Münchener, die es mittlerweile auf sagenhafte 67 Tatorte gebracht haben (Stand 2015, als der Rezensionsentwurf verfasst wurde, 94 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung). Wir können uns gut vorstellen, dass es zu Beginn der 1990er manchen Fan der Münchener Ikonen Veigl, Fischer usw. gab, die keineswegs zufrieden mit dem Wechsel zu den Jungspunden waren. Das Dumme an dieser Betrachtung: Man müsste allen neuen Teams, die derzeit unterwegs sind, ähnliche Chancen geben, sich zu entwickeln, wie die Münchener sie bekommen haben. Niemand kann wirklich sagen, ob MTV-Moderatoren und andere Neukommissare das Zeug haben, langfristig ihre Rollen zu tragen, oder ob sie so limitiert bleiben, wie sie im Moment wirken.

Das Dumme am Dummen: Wir leben nicht mehr in 1991 und die ARD mit ihren kaum noch zählbaren Standorten ist selbst schuld, dass man den Ermittlern heute nicht mehr diese Ruhe gönnt wie vor beinahe 25 Jahren (2023: 32 Jahre für Batic und Leitmayr). Die Konkurrenz ist riesig geworden, die Unterscheidbarkeit einiger Teams voneinander, vor allem im Osten, ist zu gering, die Figuren sind zu flach. Genau das waren die Münchener im Tatort „Alles Palermo“ auch noch, aber der Druck auf den BR war sicher geringer, als er es heute wäre, wenn es darum ginge Nachfolger für die beiden zu finden. Daher ist die Tendenz der ARD, neben sehr jungem Personal auf Topschauspieler zu setzen, die wir ohnehin alle kennen, verständlich.

Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung 2023: „Im Osten“ hat man mittlerweile komplett durchgewechselt, ebenso in Berlin, wohingegen etwa die Hälfte der Teams, die im Westen 2015 tätig waren, noch aktiv ist.

Der Fall „alles Parlermo“ als solcher ist uns nicht so fremd, und die Art, wie bei der Auftragsvergabe an Baufirmen manipuliert wird, erscheint uns realistisch. Ob dieses Kaufen durch Strohmänner, um den Wert von Grundstücken hochzutreiben, in dieser Form stattfinden kann, ist Sachfrage, denn es muss sich ja für alle lohnen – und sei es nur dadurch, dass durch Subvergaben bei Bauaufträgen wieder Geld an die Unternehmerkollegen zurückfließt, dessen genaue Höhe kaum zu kontrollieren ist. Über die nützlichen Aufwendungen mussten wir schmunzeln. Ganz so einfach ist das heute nicht mehr, sich vom Finanzamt die Schmiergelder als steuermindernd anerkennen zu lassen, aber die Zeit nach der Wende war sowieso eine besonders wilde.

Dass viele Unternehmer tatsächlich glauben, sie tun damit etwas Gutes, weil sie ihren Leuten die Beschäftigung sichern (freilich zulasten der Mitarbeiter von ehrlicheren oder weniger geschickten Mitbewerbern), können wir uns ebenfalls gut vorstellen. Wer einmal in einem gut vernetzten Architekturbüro gearbeitet hat, weiß, wo die Fäden zusammenlaufen – besonders natürlich bei privaten Ausschreibungen. Die Art, wie Angebote so lange manipuliert werden, bis sie passen, ist wirklich nichts Besonderes. Und irgendwo, irgendwie, fließt natürlich auch hier etwas an diejenigen zurück, die für die Vergabe zuständig sind oder es ist eine andere Form von Geben und Nehmen im Gang.

Die U-Bahn-Verfolgung ist nach unserer Ansicht hingegen von der Wirklichkeit ein Stück entfernt. Nicht nur, weil es kaum möglich sein dürfte, eine normal fahrende U-Bahn per Auto zu überholen, auch nicht als fahrerisch besonders ausgebildeter Polizist, es musste auch einiges konstruiert werden damit man diese Verfolgung so ausdehnen konnte. Anmerkung 2023: Natürlich hat man sich das von Filmen wie „The French Connection“ abgeschaut. In Berlin halten U-Bahnen manchmal mitten auf der Strecke oder fahren langsamer, ohne dass sich jemand etwas dabei denkt, weil wieder irgendeine Taktung nicht stimmt, man hätte die Bahn in München auch etwas langsamer fahren lassen können, denn Sander wusste sowieso recht früh, dass er verfolgt wurde. Und die Türen kann man ja nicht einfach öffnen, während der Fahrt. Also hätte er mitten im Tunnel eines der großen, unteren Fenster einschlagen müssen – mit dem Nothammer. Vielleicht hätte er dann durch den Schacht aussteigen können. Wenn das möglich wäre, hätte er die U-Bahn aber auch per Notbremsung anhalten und genau das tun können. Dass man alles per Video verfolgen kann, ist hübsch, gab es Anfang der 1990er vermutlich so in Berlin noch nicht. Selbst heute gibt es in den Berliner U-Bahnhöfen  tote Winkel.

Kleinere Unstimmigkeiten wie die, dass Batic und Leitmayr in einem Parkhaus jemanden erkennen, den sie noch nie  zuvor gesehen haben, nehmen wir als Beweis mit, dass früher nicht alles besser war und die Kühe nicht unbedingt größere Köpfe hatten.

Finale

Wegen der konservativen, manchmal steifen Inszenierung, die auch für die Schauspieldefizite der Münchener Kommissare mitverantwortlich sein dürfte, sind selbst einige Szenen mit den guten Nebendarstellern nicht überzeugend geraten: Der plötzliche Einbruch des 3. Bauunternehmers bei den Verhandlungen mit Reisinger ist zu unmotiviert und dann zu seicht, ebenso die Beichte von Schweitzer / Bürgl am Ende im Angesicht seiner Mutter, die das Motiv des anfänglichen Mordes erklärt. Technisch ist der Film ein Howcatchem, aber eher noch ist die Frage nach dem Motiv des Täters diejenige, die für Spannung sorgt. Kein uninteressanter Tatort, aber da sagen wir mal aus Überzeugung: Die heutigen Batic und Leitmayr, nach heutigem Verständnis inszeniert, hätten uns da mehr liefern können.

6/10

©  2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Ivo Batic – Miroslav Nemec
Franz Leitmayr – Udo Wachtveitl
Anna Bürgl – Ruth Drexel
Reisinger – Friedrich von Thun
Karl Schweitzer – Jacques Breuer
Maria Zell – Veronica Ferres
Sandler – Andreas Giebel
Menzinger – Michael Fitz
Baurat – Werner Abrolat
Senator Schwaninger – Helmut Hagen
Sigmund – Ulf Söhmisch
Herbig – Ludwig Schütze
sowie – Marin Abram, Peter Rappenglück, Rudolf Klaffenböck, Hans Bergmann, Leonard Lansink, Inka Calvi, Michael Wüst, Ivo Vrzal-Wiegand
und andere
Als Gast – Hans Brenner

Musik – Roman Bunke
Kamera – Volker Tittel
Buch – Josef Rödl
Regie – Josef Rödl


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