Briefing 393 Gesellschaft, Religion & Bedeutung, Kirchen & Austritte, Niedergang des Christentums, Spiritualität vs. religiöser Fanatismus
Wir verknüpfen diesen Artikel nicht inhaltlich mit dem Weihnachtsfest, schieben ihn also nicht in Form eines Updates in diese Reihe. Dabei würde er doch eigentlich passen – zum Weihnachtsfest. Wie wichtig ist Religion in Deutschland?
Infografik: Wie wichtig ist Religion in Deutschland? | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
2022 lebten in Deutschland rund 45 Millionen Christ:innen, 20,9 Millionen davon waren römisch-katholisch, 19,1 Millionen evangelisch. Trotzdem scheint Religion für die Deutschen nur in ausgewählten Situationen überhaupt noch eine Bedeutung zu haben. Das legt die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der evangelischen Kirche nahe, die laut Angaben der Studienverfasser zum ersten Mal repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung ist. Lediglich in zwei Lebensbereichen halten religiöse Grundsätze mehr oder minder als eine Art Leitfaden her.
Ein Drittel der Befragten gab beispielsweise zu Protokoll, dass Religion bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen eine Rolle spiele, 13 Prozent davon maßen ihrem Glauben in diesem Kontext eine große Bedeutung zu. Bei der Kindererziehung waren 37 Prozent der Meinung, dass Religion eher oder sehr relevant sei.
Hinsichtlich der politischen Einstellung, der Arbeit und dem Umgang mit der eigenen Sexualität hat Religion für die Deutschen nahezu keine Bedeutung. Lediglich zehn (Sexualität), zwölf (Arbeit) und 15 Prozent (politische Einstellung) attestierten ihrem Glauben im jeweiligen Zusammenhang etwas oder große Bedeutung.
Selbst bei einer Filterung nach katholischer und evangelischer Konfession verschiebt sich das Bild nur leicht. So maßen 57 Prozent der Katholik:innen und 49 Prozent der Protestant:innen Religion mindestens etwas Bedeutung bei der Kindererziehung bei. Die Werte bei Politik, Arbeit und Sexualität wichen jeweils nur leicht zugunsten einer stärkeren Bedeutung von Religion ab.
Obwohl noch knapp die Hälfte der deutschen Bevölkerung einer christlichen Konfession zuzuordnen ist, haben die Kirchenaustritte besonders aus der katholischen Kirche auch aufgrund diverser Skandale in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. 2017 waren beispielsweise 167.504 Katholik:innen und 197.207 Angehörige der evangelischen Kirche ausgetreten, während die katholische Kirche im Jahr 2022 mehr als eine halbe Million und die evangelische Kirche rund 380.000 Mitglieder verloren hatte.
Ein Desaster von vielen in dieser Zeit
Sie werden am Ergebnis der Befragung gesehen haben, warum wir diesen Artikel gesondert publizieren. Was hat Weihnachten hierzulande noch mit Religion zu tun? Wenig bis gar nichts, und es ist keine gute Idee, den Zusammenhang überhaupt noch herauszuheben. Von 84 Millionen Menschen in Deutschland sind ohnehin nur noch etwas mehr als die Hälfte Christ:innen. Da knüpfen wir auch eine Kritik an: Wie wichtig ist Religion wird auf alle bezogen? Offenbar wurden hier nur eingeschriebene Katholik:innen und Angehörige evanglischer Kirchen befragt, zu Letzteren rechnen wir übrigens. Die Befragung hätte noch einmal anders ausgesehen, wenn man die vielen Ausgetretenen einbezogen hätte.
Und sie hätte noch einmal anders ausgesehen, wenn man die Angehörigen anderer Religionen in Deutschland befragt hätte, die ihre Identität viel stärker an der Religion ausrichten, namentlich die zahlreichen Menschen mit islamischer Religionszugehörigkeit. Für sie spielt in wichtigen Lebensbereichen die Religion eine weitaus größere Rolle. Manchmal keine gute, wohingegen man das Christentum heute kaum noch politisch missbrauchen kann. Das war aber jahrhundertelang anders. Erst die Aufklärung drängte die Möglichkeit, die christliche Religion als politische Waffe einzusetzen, langsam zurück. Sehr langsam, denn noch im frühen 20. Jahrhundert musste sie häufig im Sinne von „Gott mit uns“ für die Kriegsertüchtigung herhalten. Leider gibt es Länder wie die USA, in denen heute noch ein unguter Mix aus bigotter Form von Religiosität und Hurra-Patriotismus dafür sorgt, dass die Gesellschaft ein aggressives, rassistisches Gepräge hat und sich für auserwählt hält. God’s own country ist keine Floskel, wie so viele Bekenntnisse aller Art hierzulande, sondern daran glauben viele besonders im „Heartland“ wirklich. In den meisten anderen Ländern geht der Rechtsdrall nicht mit religiöser Erweckung einher. In Deutschland fand die Auftrennung von Nationalismus und Religion, die ohnehin nie so fundiert war wie in anderen europäischen Ländern, endgültig durch die antireligiöse bzw. offen antichristliche nationalsozialistische Ideologie statt.
Die Kirchen tun das Ihre, um den Zerfall religiös motivierter Werte zu beschleunigen. Ignoranz, Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensverhältnissen der Mehrheit sind dabei noch die geringen Vorwürfe, vor allem die katholische Kirche leistet sich zudem einen Skandal nach dem anderen, der auf marode innere Strukturen schließen lässt. Man könnte trotzdem christliche Werte leben, aber dazu bräuchte man einen Wertekompass, den man selbst immer wieder ausrichtet, und wer hat den heute noch, wo es keine Vorbilder in Kirche, Politik und Gesellschaft mehr gibt? Wo soll überhaupt noch eine Vereinbarung über zivilisatorische Minima herkommen, die christlich fundiert sind? Wir haben Parteien, die führen die Christlichkeit im Namen. Das ist im Grunde Blasphemie.
Im Grunde ist aber auch die christliche Religion etwas wirklich Schönes, kann spirituell und ethisch sehr viel geben. Doch wo wirkt sie noch?
Aber da sie vielfach durch die Institutionen korrumpiert wurde, die ihrer Verbreitung dienen sollten, ist sie in der Defensive. Natürlich ist die Abkehr von der Religion auch Teil einer allgemeingesellschaftlichen Entwicklung im Westen, nicht nur in Deutschland. Atheist:innen und nicht kirchlich Gebundene nehmen in Westeuropa rasant zu, auch in katholischen Ländern des romanischen Sprachraums, die eine andere Geschichte haben und viel einheitlicher im Glauben waren als Deutschland mit seiner fast einmaligen Splittung in einen evangelischen Norden und einen katholischen Süden – und einen atheistisch geprägten Osten, nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Dreiteilung ist eine Besonderheit, erklärt aber nicht die im Wesentlichen Abwendung von der Religion, die man auch in anderen „fortgeschrittenen“ Gesellschaften beobachtet.
Kirche wirkt kaum noch nach außen, setzt kaum gesellschaftliche Akzente, sondern genügt sich mittlerweile darin, ein paar mittelständische Menschen in festlicher Kleidung zu recht ansehnlichen Veranstaltungen einladen zu dürfen, die zum engeren langjährigen Zirkel einer Gemeinde gehören. Werbung bei Neuankömmlingen im Sprengel? Mehr als nur Spendenaufrufe? Einladungen zu Veranstaltungen? Gar Angebote zu persönlichen Gesprächen? Fehlanzeige. Zumindest haben wir das so erlebt, nachdem wir nach Berlin gezogen waren. Das wirkt zu allen anderen Problemen der Kirche auch hinter der Zeit, was den Umgang mit der Mehrheit der noch in den Kirchen verorteten Mitgliedern angeht, wenn nicht snobistisch und elitär.
Der Grundsatz, dass jeder selbst zum Glauben, zu Gott finden muss, ist schon deshalb antiquiert, weil Glaube und Kirche heutzutage lange nicht das Gleiche sind und den Kirchen nicht hilft, wenn dabei alles nur privat gelebt wird und sich niemand mehr in den Kirchen engagiert. Da haben andere Glaubensgemeinschaften einen viel offensiveren und psychologisch wirksameren Ansatz. Die große Manipulationsmacht der christlichen Kirchen ist ihnen sozusagen mit der institutionellen Macht verlorengegangen, als die Staaten säkular wurden. Woran man sieht, dass sie es ohne diese Macht kaum schaffen, Menschen zu halten oder sie gar „abzuholen“, wie es heute so schön heißt und was jeder kennt, der in irgendeiner Form im sozialen Bereich arbeitet. Aber, siehe oben, in den Kirchen ist man sich zu fein dazu. Deswegen gibt es auch nach unseren Beobachtungen kaum eine Wechselwirkung zwischen sozialer Arbeit und kirchlicher Arbeit. Selbst kirchliche Träger sind diesbezüglich kaum als solche zu erkennen. Man darf aber Beliebigkeit und Inklusion nicht miteinander verwechseln.
Ja, nun hat es doch mit Weihnachten zu tun, weil unsere aktuellen Beobachtungen dabei einfließen und jene aus den letzten Jahren. Die Kirche ist nicht präsent in der Gesellschaft, das ist ganz und gar offensichtlich. Vielleicht wird irgendwann auch die Kirchensteuer fallen, die im Grunde ein Überbleibsel aus der Form vor der Säkularisierung ist. Dann werden auch die Ressourcen fehlen, auf die man jetzt noch zurückgreifen könnte, um das Blatt zu wenden.
Keine Hilfe mehr bei gesellschaftlichen Problemen. Haben die Kirchen dabei je geholfen?
Wir würden es schade finden, wenn der christliche Glaube komplett verlorenginge, weil er, richtig gelebt, die besten Botschaften für eine kranke Welt hat, um sie zu heilen. Aber im Alltag kann eine Botschaft nicht wirken, die niemand mehr versteht und auf die niemand mehr vorbereitet wird. Es gibt andere Quellen für diese Botschaft oder ähnliche Botschaften, aber die Kraft des christlichen Glaubens an was auch immer wird den Menschen hier nicht mehr helfen, Krisen besser zu bewältigen, als das aktuell der Fall ist, so viel ist sicher. Die Kirchen hätten dafür, dass sie Menschen über viele Zeitalter hinweg kleingehalten, im Sinne der Herrschenden agiert, sie sogar in den Tod im Sinne religiös motivierter Kriege geschickt haben, in neueren Zeiten etwas zurückgeben können. Darin haben sie jämmerlich versagt und deshalb wird aus ihrer Verkleinerung auch keine Erneuerung erwachsen. Zumindest nicht in nächster Zeit. Sie haben keine Antworten auf die Herausforderungen dieser Zeit. Sie sind keine Mitstreiter der Armen und Marginalisierten, sondern ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, pflegen die Zirkel der Eingefleischten und werden so zu etwas, was sie zu Beginn waren. Zu einem von den vielen Menschen, die außen vor sind, skeptisch betrachteten Club von Minderheiten, die sich für besonders ethisch hochstehend halten. Mit einem Unterschied: Als das Christentum anfing, sich zu verbreiten, war es gefährlich, Christ:in zu sein und forderte Opfer. Jetzt fordert es nichts mehr, sondern wirkt so blutleer abgehoben wie weite Teile der Politik.
Noch klingen die Glocken. Gerade jetzt wieder, es ist 18 Uhr. Wie lange noch? Uns ist es mittlerweile fast egal, ob stattdessen der Muezzin vom Minarett der immer größer werdenden Moscheen herunterruft. Glaube, wem Glaube gebührt und wer noch den Eifer zeigt. Und wenn dadurch die Uhr des gesellschaftlichen Fortschritts rückwärtsgeht, dann liegt das auch an Kirchen, die keine Reformen begleiten und positiv ausgestalten konnten, sondern sich ihnen so gut wie möglich widersetzt haben. Auch in dieser Hinsicht ist die katholische Kirche besonders weit hinter der Wirklichkeit zurück. Es geht dabei nicht um Modeerscheinungen, sondern um Menschenfreundlichkeit, um Nächstenliebe und darum, den Fluch kirchlichen Bombasts zu bannen, der im Grunde mit dem Christentum nichts zu tun hat. Keine andere Glaubensgemeinschaft wirkt institutionell so verstaubt wie die römisch-katholische Kirche. Daran hat kein „Reformpapst“ etwas geändert, sondern es kam immer wieder zu Enttäuschungen. Dabei wäre die Zentralisierung des Katholizismus doch ein Vorteil gegenüber den protestantischen Kirchen, die sich ihren Weg sozusagen ohne Weisung von oben suchen müssen. Wenn von oben aber Widerstand gegen jedwede dringend notwendige Modernisierung kommt, dann kommt es eben zu erheblichen Verlusten an Mitgliedern. Man hat beinahe den Eindruck, dass die Katholische Kirche darauf angewiesen ist, dass Gesellschaften arm und unaufgeklärt bleiben, damit auch die Kirche stark bleiben kann, wie in Teilen Afrikas oder in Lateinamerika.
In Europa wirkt hingegen, wer sich bei der Glaubensausübung strikt an die Maximen der Kirche hält, rückständig, in einem gewandelten Umfeld, und muss sich aktiv gegen den gesellschaftlichen Trend stellen. Das ist nicht jedem gegeben, zumal es sich um ein höchst zweifelhaftes Heldentum handelt, das vor allem Ausschlüsse hervorbringt.
Der gewalttätige Exzeptionalismus
Was aber nicht nur für das Christentum bzw. seine Katholische Kirche gilt: Glaubensgemeinschaften sollten endlich aufhören damit, sich selbst mit einem Alleinvertretungsanspruch für die Richtigkeit dieses Glaubens auszustatten. Das bringt einen massiven Unfrieden in die Welt, nach wie vor, und konterkariert ökumenische oder interreligiöse Ansätze jeden Tag. Gerade die „abrahamitischen“ Religionen bzw. deren Institutionen sind in der Hinsicht von einer eisernen und grausamen Überheblichkeit geprägt. Wo Religion noch inklusiv wirken kann und man auf der Basis einfacher Werte oder auch theologisch fundiert nach Gemeinsamkeiten suchen kann, wird in der Realität oft das Gegenteil von Spiritualität zum religiös motivierten Antrieb für Hass und Krieg. Auch das dürfte ein Grund sein, warum viele Menschen, die sich nach Ausgleich und Frieden sehnen, nichts mit dieser vergifteten Form von Religion zu tun haben möchten.
Wir merken das an uns selbst. Welchem Glauben Menschen, die wir treffen, auch immer angehören, wir sind zumeist froh, wenn sie durchblicken lassen, dass sie diesen Glauben nicht so ernst nehmen. Warum? Weil die Art, wie Glauben von Predigern vielerlei Herkunft verkauft wird, Unfrieden stiftet. Vereinbarungen und natürlicher Umgang sind mit weniger religiös geprägten Menschen meist viel einfacher. Es muss kaum erwähnt werden, dass da offensichtlich etwas schiefläuft bei dem, was als Glaube gilt. Dass die christlichen Kirchen nun auf die Idee kommen, noch einmal so richtig dagegenzuhalten, braucht nicht befürchtet zu werden, es wäre auch falsch. Die Suche nach dem Kern der christlichen Botschaft und nach Wegen für dessen Implementierung in die soziale Realität wäre der Weg. Uns fällt, so weit wir auch den Kreis ziehen, niemand, keine konkrete Person ein, die persönlich für diesen Weg steht. Im Denken und im Tun, mit Herz und Hand.
Das ist keine sehr fröhliche Vorweihnachtsbotschaft. Sie bringt uns sicher auch nicht dem Himmel näher. Sie beinhaltet Beobachtungen, keine Verheißungen. Was wir in der Grafik oben sehen, ist nicht nur für den Umgang mit der Religion relevant, sondern für den Umgang miteinander in dieser Gesellschaft. Wir brauchen auch keine Glaskugel, um voraussagen zu können, dass es 2024 nicht besser werden wird. Nirgendwo ist Aufbruch, Zuversicht, die nach außen wirkt. Dass ein paar gut situierte Menschen noch in die Messe gehen und Kirchenlieder singen, während drumherum die Lage immer bedrohlicher wirkt, ist im Grunde bloß ein Ausdruck dieser Abspaltung, die wir in so vielen Bereichen sehen. Christen müssten sich vielen Entwicklungen in diesem Land entgegenstellen, die wir derzeit sehen, wenn sie die christliche Botschaft – nicht als Mission, aber als Aufgabe begreifen. Einzelne mögen das tun, aber die christliche Gemeinschaft, eine breite Basis von Menschen, die Menschenrechte und Nächstenliebe verteidigen? Davon sehen wir nichts. Davon sehen wir, wie schon vor 90 Jahren, nichts.
TH
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