Einer sah den Mörder – Tatort 178 #Crimetime 1194 #Tatort #Stuttgart #Lutz #SDR #Abschiedsfall #Mörder

Crimetime 1194 – Titelfoto © SDR

Den Mörder sehen, bedeutet Abschied nehmen

Einer sah den Mörder ist die 178. Folge der Fernsehreihe Tatort. Die Erstausstrahlung der vom Süddeutschen Rundfunk produzierten Folge erfolgte am 23. Februar 1986 im Ersten der ARD. Für Kriminalhauptkommissar Eugen Lutz (Werner Schumacher) ist es sein 16. und letzter Fall. Mit dieser Folge tritt der letzte Tatort-Kommissar der „Gründerzeit“ des Tatort, der hier selbst unter Mordverdacht gerät, aus der Reihe ab.

„Wanderpokal“ Kommissar Lutz, der in vielen Städten des Südwestens ermittelte, war eine Institution. Der erste Tatort-Kommissar, der fünfzehn Dienstjahre absolvierte, dabei 16 Fälle löste, inklusive seinen eigenen, den letzten. Wer einmal selbst in Verdacht gerät, ein Mörder zu sein, der kann diesen Job nicht mehr ausüben, so sagt Lutz am Ende und geht ab. Wie auch sein Assistent Richard Wagner, der unter den Nebenfiguren ebenfalls zu den Großen  zählt – gleichberechtigte Ermittler gab es in den frühen Tatortzeiten nicht.

Handlung

Kommissar Lutz gerät unter Mordverdacht: Eine Frau, mit der er vor Jahren ein Verhältnis hatte, wird tot aufgefunden. Ein Zeuge sagt aus, Lutz zur Tatzeit im Haus der Ermordeten gesehen zu haben. Als dieser Zeuge kurz darauf umgebracht wird, scheint die Lage für den Kommissar hoffnungslos; doch Lutz – vom Dienst suspendiert – ermittelt auf eigene Faust.

Kommissar Lutz wird beauftragt, den Mordfall Lisa Kern aufzuklären. Bei der Spurensicherung im Haus der Ermordeten taucht ein dubioser Zeuge auf: Herr Kalmus. Er behauptet, den Kommissar zur Tatzeit im Haus gesehen zu haben. Derart in die Enge getrieben, gibt Lutz zu, dass er Frau Kern persönlich kannte – vor Jahren hatte er ein Verhältnis mit ihr. Als nun auch noch die Sensationspresse über die Verwicklungen des Kommissars herfällt, muss Lutz vom Dienst suspendiert werden. Da wird Kalmus ermordet aufgefunden. Erneut wurde Lutz am Tatort gesehen. Die Obduktion der Leiche fördert eine erdrückende Beweislast zutage: Frau Kern und Kalmus wurden mit derselben Tatwaffe umgebracht – der Waffe von Lutz.

Lutz entkommt nur knapp einer Verhaftung, indem er bei einem Freund untertaucht. Von seinem Versteck aus versucht er, den Ehemann der Ermordeten als Täter zu überführen. Dieser hat jedoch ein wasserdichtes Alibi: Seine Sekretärin verbirgt sich für ihn. Doch ist die Sekretärin wirklich so unbefangen, wie sie vorgibt?

Rezension 

Lutz‘ erster Tatort war der vierte überhaupt, als er sich verabeschiedete, hatte der zehn Jahre später in Dienst getretene Schimanski schon Halbzeit. Lutz’ Tätigkeit spannt sich von der Will-Brandt-Zeit über die Schmidt-Ära bis hinein in die erste Amtsperiode von Helmut Kohl. Wenn man bedenkt, was sich in dieser Zeit alles getan hat, der weiß, was es heißt, 15 Jahre lang den Zuschauergeschmack zu treffen, der sich   in jenen 15 Jahren stark veränderte. Heutige Teams mit etwa 15 Jahren Dienstzeit, wie Ballauf und Schenk oder Lürsen (Stand zum Zeitpunkt der Abfassung des Entwurfs: jeweils 18 Jahre, Lürsen hat inzwischen aufgehört, Ballauf und Schenk feierten im vergangenen Jahr 2022 ihr 25-jähriges Jubiläum) haben gerade mal während der Schröder-Kanzlerschaft und der Merkel-Zeit im wiedervereinigten Deutschland gedient. In der Zeit von 1998 bis heute, meint man, ist viel weniger passiert. Allerdings mit einer wichtigen Ausnahme: Die Medienrezeption hat sich durch das Privatfernsehen und die neuen Medien noch einmal gewandelt.

Wenn man den letzten Lutz von 1986 mit dem ersten von 1971 vergleicht, kann man Entwicklungen feststellen, obwohl der Regisseur derselbe ist, die SWR-Allzweckwaffe Theo Mezger. Dieser hat seinen Stil vorsichtig modernisiert, am Ende trägt Wagner Jeans und die Musik ist etwas mehr elektronisch, aber im Grundsatz ist es bei der nüchternen Erzählweise geblieben, die gerade dann, wenn ein Kommissar mustergültig selbst in einen Fall verwickelt ist, ihre Licht- und Schattenseiten hat. Einerseits schön zu sehen, wie versucht wird, präzise auf Lutz‘ Gefühlszustand einzugehen, seine Handlungen nach der Suspendierung plausibel zu machen, das gelingt auch weitgehend. Außerdem hatte Mezger immer schon einen sehr kritischen Blick auf die Umwelt. Kaum ein kriminelles Ereignis in der Öffentlichkeit, bei dem sich nicht gleich Horden von gierigen Gaffern versammeln oder, noch schlimmer, Denunzianten sich zu Wort melden, wie in „Einer sah den Mörder“. Bemerkenswert ist deshalb, dass Assistent Wagner zu Beginn auf so dreiste Weise frech gegenüber Lutz ist, dass es unsympathisch wirkt – wie er dann aber doch betroffen reagiert, sehr abgestuft und insgesamt, seiner Art gemäß, zurückhaltend betroffen, als sich die Verdachtsmomente gegen seinen Chef verdichten.

Andererseits wird eine so kalte Atmosphäre hergestellt, dass man beim Zuschauen friert. Auch dieses Mittel, den Zuschauer auf Distanz zu halten, ist in vielen frühen Tatorten zu beobachten und Mezgers dokumentarisch angehauchter Stil ist dazu bestens geeignet. Wenn es zu Emotionen kommt, so sind diese manchmal dezidiert negativ, scharf negativ. Da ist noch nichts von der postmodernen Vagheit, obwohl die Figuren nicht ausschließlich böse oder gut gezeichnet sind. Wir lernen anhand dieser älteren Tatort-Krimis, dass man Differenzierung eben nicht durch die Suggestion erreichen muss, alle sind so verstrickt und alles ist so verworren, dass am Ende keinerlei Schuld mehr auf irgendwen kommt – dass man sich aber zu den Figuren auch nicht mehr wertend stellen und sich selbst an ihnen überprüfen kann, weil man ja noch nicht in einer vergleichbaren Ausnahmesituation war. Das Situative hat gegenüber dem Prinzipiellen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen und auch dies ist natürlich eine Zeiterscheinung: Fahren auf Sicht und mit Glück die Meisterung einer aktuellen Situation durch deren geglückte Adaption, aber keine Statements und keine Visionen mehr. Anmerkung anlässlich der Veröffentlichung Ende 2023: Wir hatten keine Glaskugel, als wir den vorausgehenden Satz im Jahr 2015 geschrieben haben.

Wie wäre es heute, wenn ein Polizist unter Verdacht gerät? Nicht so wie bei Lutz, in den meisten Fällen. Heute weiß jeder Kriminaler, dass man den Beamtenstatus nicht leichtfertig aufs Spiel setzen darf, schon gar nicht, wie Assistent Wagner, für den Betrieb einer Tankstelle mit Gebrauchtwagenhandel. Was in den 1980ern noch halbwegs glaubwürdig erscheint, wenn auch ironisch angehaucht, wie dieser ganze Film, da würde man sich heute nur noch an den Kopf fassen. Da muss schon jemand einen ganzen Mietskasernen-Block erben, wie Carlo Menzinger in München, um dem sicheren Staatsdient Dienst adé zu sagen. Auch das ist aber ein paar Jahre her, es war vor der Bankenkrise von 2008-2009. Heute müsste man jeden in Verwahrung nehmen und seinen Zustand ausgiebig untersuchen und dokumentieren, der freiwillig das Privileg aufgibt, einen sicheren Job beim Staat zu haben.

Finale

Der Fall „Einer sah den Mörder“ ist hingegen eher banal – es geht in erster Linie um die Tatzeit, und da wir noch keine DNA-Analyse haben (in Deutschland wurde die erste 1988 durchgeführt), müssen Indizien wie der Besitz der Tatwaffe erst einmal herhalten, um ein bedrohliches Szenario gegenüber Lutz aufzubauen, der nicht beweisen kann, dass er nicht zur Tatzeit am Tatort war – weil er nämlich an jenem Tag ausnahmsweise zu spät im Büro erschien, an dem der Mord an seiner guten Bekannten geschieht. Es ist blöd, wenn man auf ein Geständnis des wahren Täters angewiesen ist, ihn also auch mit psychologischem Geschick überführen muss.

6,5/10

© 2023 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)

Kursiv, tabellarisch: Wikipedia

Regie Theo Mezger
Drehbuch Fritz Eckhardt
Produktion Werner Sommer
Musik Jonas C. Haefeli
Kamera Justus Pankau
Schnitt Hans Trollst
Premiere 23. Feb. 1986 auf ARD
Besetzung

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