UPDATE: Deutsche Rüstungsexporte seit 2012 +++Frieden 2024 in der Ukraine? (Umfrage + Leitkommentar: Das Ukraine-Dilemma) | Briefing 406 Update | Geopolitik, Ukraine, Russland

Briefing 406-UD Geopolitik, Ukrainekrieg, Angriffskrieg, Dilemma des Westens, die Politik, die Dilemmata fördert, Rüstung, Rüstungsexporte

Während wir am Morgen unseren Artikel „Frieden 2024?“ verfassten, hatte Statista uns offenbar über die Schulter geschaut und schnell eine passende Infografik erstellt. Wir haben sie erst nach der Veröffentlichung gesehen, sonst hätten wir sie bereits in den Ausgangsartikel integriert.

Es ist uns auch neu, dass Statista samstags Grafiken veröffentlicht. Die Säulengrafik  zeigt, wie viele Rüstungsexporte in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2023 genehmigt wurden. Ganz rechts, wo das letzte Jahr zu sehen ist, kommt es zur höchsten Säule. Wegen des Ukrainekriegs, in erster Linie.

Ukraine-Krieg sorgt für Rüstungsexport-Rekord

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

2022 waren die deutschen Rüstungsexporte trotz des Kriegs in der Ukraine im Vergleich zum Vorjahr um rund eine Milliarde Euro gesunken. Im vergangenen Jahr stieg die Wert an ausgeführten Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern wieder deutlich an. Die Summe von etwa 12,2 Milliarden Euro wertet Staatssekretär Sven Giegold in einer Pressemitteilung als „direkte Konsequenz der sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit“. Über ein Drittel dieser Exporte entfiel 2023 auf die Ukraine, die sich seit Februar 2022 im Krieg mit Russland befindet.

Rund elf Prozent der Rüstungsexporte von Gütern im Wert von 1,4 Milliarden Euro waren dabei für Drittländer bestimmt, die weder der EU noch der NATO angehören noch der NATO gleichgestellt sind. So wurden beispielsweise Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter im Wert von 256 Millionen Euro nach Südkorea exportiert. Zuletzt hatte dessen nördlicher Nachbar Nordkorea Granaten in Richtung der südkoreanischen Westküste abgefeuert.

Nach der Ukraine sind Norwegen (1,2 Milliarden Euro), Ungarn (eine Milliarde Euro) und das Vereinigte Königreich (657 Millionen Euro) die wichtigsten Empfänger deutscher Wehrtechnik.

Wie wir im untenstehenden Artikel geschrieben haben: Die Rüstungsexporte. Wobei der Anstieg der Rüstungsexporte in Deutschland nur zu einem winzigen Teil über höhere Unternehmenssteuern wieder das in die Kasse bringt, was an Kosten für Ukraine bisher entstanden ist, wir schätzen die Gesamtsumme auf weiter über 100 Milliarden Euro. Außerdem tendiert man in Deutschland zum Verschenken, während die USA, bei denen das Engagement tatsächlich  auch finanziell eher einen Sinn ergibt, nichts verschenken, sondern Kredite vergeben. Ob diese jemals zurückgezahlt werden können, ist im Fall der Ukraine fraglich – es sei denn, sie tritt der EU bei und in Wahrheit finanzieren die Geberländer der EU dann nach ihren vielen Geschenken auch noch die Waffenlieferungen der USA. 

Bei den Rüstungsexporten gilt es zu beachten, dass die hier ausgewiesenen Zahlen höchstwahrscheinlich nicht inflationsbereinigt sind. Die Inflation zwischen 2012 und 2023 betrug knapp 24 Prozent. Das bedeutet, dass die ca. 5 Milliarden aus dem Jahr 2012 heute 6,2 Milliarden wären, vorausgesetzt, Rüstungsgüter hätten sich in etwa so verteuert wie der „Warenkorb“, mit dem die Inflation berechnet wird. Interessanterweise wurde auch vor dem Ukrainekrieg, im Jahr 2021, ein neuer Höchstand innerhalb des betrachteten Zeitraums erreicht, während im ersten Jahr des Krieges die deutschen Rüstungsexporte sogar leicht zurückgingen. Offenbar wird die Ukraine nach dieser Statistik als den NATO-Mitgliedern gleichgestelltes Land behandelt, sonst könnte der grüne Bereich nicht so klein sein, wenn die Ukraine ein Drittel aller Rüstungsgüter erhielt bzw. ein Drittel aller Genehmigungen auf sie entfallen. 

Gesamtwirtschaftlich betrachtet, sind die Rüstungsexporte eher die berüchtigten Peanuts, aber die oben angegebenen Zahlen decken sich mit dem, was Bundeskanzler Scholz der Ukraine für 2024 in Aussicht gestellt hat. Eine Verdoppelung der Waffenhilfe von 4 auf 8 Milliarden Euro. Die obigen 12,2 Milliarden Gesamtexport, gedrittelt, sind etwa die angesprochenen vier Milliarden für die Ukraine. Das heißt auch, wir werden 2024 ein neues Exporthoch bekommen, es sei denn, man stellt die Lieferungen an andere Adressaten fast vollständig ein. Das glauben wir aber eher nicht, denn es geht ja auch um Ersatzbeschaffungen seitens der Länder, die ihrerseits Rüstungsgüter an die Ukraine abgegeben haben sowie  um eine Ankurbelung der Munitionsproduktion, die unausweichlich erscheint, wenn man die Ukraine weiterhin sinnvoll unterstützen will. 

Dass damit aktuell tatsächlich viele Menschen getötet werden, sollte man bei all dieser Rechnerei nicht vergessen. Wir verstehen daher diejenigen, die sich am liebsten vom Rüstungsexport und sogar von der gesamten Rüstungsindustrie verabschieden würden. Letzteres ist indiskutabel, wenn man das Land eigenständig verteidigungsbereit erhalten oder, nach der Lesart einiger, wieder verteidigungsbereit machen will. Ersteres muss immer einzeln betrachtet werden. In Krisengebiete und an menschenrechtsverachtende Regime zu liefern, wie es in Deutschland immer wieder vorkommt, in ersterem Fall, weil Nicht-Krisengebiete zu Krisengebieten werden können, in Letzterem aufrung der allgemeinen guten Wirtschafts- und sonstigen Beziehungen, die vollkommen ethikfrei sind, muss immer diskutiert werden.

Hingegen einen NATO-Partner wie Norwegen zu beliefern, der nach der Ukraine im Jahr 2023 die meisten Rüstungsgüter aus Deutschland erhielt, möglicherweise auch in Form der oben angesprochenen Ersatzbeschaffungen? Die Gefahr, dass die Waffen eingesetzt werden, zumal für einen Angriffskrieg, ist verschwindend gering, außerdem kann Norwegen sich ein paar Rüstungskäufe leisten, ohne dass deswegen die Bevölkerung auf Wesentliches verzichten muss. Es ist damit ein klassisches Beispiel für ein Land, in das man ethisch vertretbar exportieren kann, um die Verteidigungsfähigkeit eines engen Verbündeten zu stärken. Der Fall Ungarn liegt anders, denn dessen aktuelle Regierung ist bekanntermaßen sehr putinfreundlich und außerdem gilt Ungarn als das demokratieschwächste Land in der gesamten EU, das gerne mal versucht, den Rest des Clubs ein wenig zu erpressen.

Und schon stellt sich einDilemma auf, das in Deutschland immer wieder mal viel pragmatischer beiseite geräumt wird, als es die „Wertepolitik“ im Grunde zulassen dürfte. Man drückt alle Augen zu und exportiert auf gut Glück und hofft, dass die Waffen nicht eines Tages gegen andere Freunde und gegen Demokratien eingesetzt werden, oder zum Beispiel im Inneren, wenn die Opposition immer stärker unterdrückt wird. So weit ist es in Ungarn noch nicht, wir sind nicht wieder im Jahr 1956, aber die Entwicklung ist offen und trotz der EU-Mitgliedschaft des Landes finden wir Rüstungsexporte dorthin riskant.

Der Ukrainekrieg ist ein Sonderfall, den wir im folgenden Ausgangsartikel als „das Ukraine-Dilemma“ erläutert haben. 

TH

Kürzlich wurde uns eine Petition mit der Aufforderung zugesendet, die Ukraine nicht zu vergessen. Das tun wir ganz sicher nicht. Der Ukrainekrieg ist immer dabei, wenn es um die Bewertung der politischen und allgemeinen Stimmungslage geht. Es wäre sicherlich einer der größten Erfolge internationaler Politik, wenn 2024 ein Friedensschluss vermittelt werden könnte. Aber ist er realistisch? Dazu folgende Umfrage:

Civey-Umfrage: Gehen Sie davon aus, dass im Jahr 2024 erfolgreich Frieden in der Ukraine verhandelt werden kann? – Civey

Begleittext aus dem Newsletter:

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine vor knapp zwei Jahren gibt es immer wieder Forderungen nach diplomatischen Gesprächen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich laut Zeit zuletzt hinter die internationalen Bemühungen um Frieden in der Ukraine gestellt. In seiner Rede vor den Vereinten Nationen Ende September warnte er zugleich „vor Schein-Lösungen, die Frieden lediglich im Namen tragen“. Dazu erläuterte er: „Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat. Das muss nun endlich auch in Moskau verstanden werden.“ 

Der ukrainische Präsident Wolodomyr Selenskyj äußerte sich in seiner Videoansprache zum Jahreswechsel zuversichtlich. Der Tagesschau zufolge forderte er darin die Bevölkerung auf, die Zukunft aktiv mitzugestalten. Wenn alle mit anpackten, werde das neue Jahr genau so werden, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer es wollten. Friedensbemühungen im Ausland gab es zuletzt etwa aus Brasilien, Indien, Saudi-Arabien und dem Vatikan. Insofern habe Selsenkyj laut ntv Ende Dezember mit Papst Franziskus telefoniert und sich für die „gemeinsame Arbeit an der Friedensformel“, bedankt. 

Ein baldiger Frieden scheint trotz internationaler Bemühungen derzeit aussichtslos. Das scheint laut Deutschlandfunk unter anderem an der fehlenden Verhandlungsbereitschaft Russlands zu liegen. Russische Bedingung für Gespräche sei laut ARD die Entmilitarisierung und den neutralen Status der Ukraine. Diese Forderung wird von Beobachtern als Aufforderung zur Kapitulation gedeutet. Für die Ukraine geht es indes um die Frage ihrer Existenz als Staat. Daher fordert die ukrainische Regierung als Verhandlungsbedingung den kompletten Abzug der russischen Truppen aus besetztem Territorium, berichtet die Zeit.

Was meinen Sie? Die Umfrage ist zwar gerade erst gestartet (wir haben gegen 09:50 abgestimmt) und vielleicht sind die Samstags-Frühaufsteher besonders pessimistische Menschen, aber mit unserem „Unentschieden“ sind wir gegenwärtig ganz klar auf der zuversichtlicheren Seite. Gerade mal 13 Prozent sagen „ja“ oder „eher ja“. 10 Prozent tendieren wie  wir, also bleiben nicht weniger als 77 Prozent, die „nein“ oder „eher nein“ sagen. Dieser Mangel an Zuversicht kommt wem zuguste? Wladimir Putin natürlich. Er setzt auf Zermürbung, in der Ukraine selbst, aber auch bezüglich der Zustimmung zu deren Unterstützung im Westen. In beiden Fällen könnte er Erfolg haben.

Bei aller Skepsis gegenüber der immer weiteren Ausdehnung von Sanktionen gegen Russland und immer mehr finanziellem Einsatz bei der Unterstützung der Ukraine hat Scholz unumwunden in einer Sache Recht: Ein Frieden à la Putin ist kein Frieden, den sich ein anständiger Mensch und Demokrat wünschen kann. Es wird demnach immer wahrscheinlicher, dass die Anständigen in diesen politisch unanständigen Zeiten eine weitere Niederlage werden einstecken müssen, auch und gerade im Westen, wo tatsächlich etwas Idealismus bei den Bürger:innen mitschwingt, die der Ukraine die Stange halten. Die Politik betreffend sehen wir das anders, und sie verkauft natürlich auch eine Ware, auf deren Verpackung „Werte“ steht, aber es steckt Geopolitik und Rüstungsexport drin.

Aus alldem ergibt sich das Ukraine-Dilemma. Wir hatten kürzlich versprochen, das etwas näher auszuführen, heute ist mal Zeit dazu:

  • Wer den Angriffskrieg von Wladimir Putin und seiner Herrschaftsclique in Moskau gutheißt, unterstützt oder bloß dessen Erfolg in Kauf nimmt, hilft allen Imperialisten und Diktatoren bei ihrem Vormarsch gegen die Demokratie.
  • Wer der Ukraine ihr Selbstverteidigungsrecht abspricht, ist ein Machiavellist, mindestens dies. Aber wie weit beinhaltet dieses Recht auch die Pflicht des Westens, sich mit immer mehr Einsatz und mit immer weniger Erfolgsaussichten dort zu engagieren?
  • Muss man nicht irgendwann eine Abwägung treffen und die Doktrin „Wer die Ukraine angreift, greift den Westen an“ hinterfragen?
  • Der Westen hat sich diese Doktrin selbst geschaffen und damit auch das Dilemma: Indem er ungeachtet aller Warnzeichen seit vielen Jahren unverdrossen die Ukraine versucht hat zu verwestlichen und dabei auch einen Putsch gegen eine demokratisch gewählte Regierung unterstützt hat. Man mag es Revolution nennen oder eben Putsch, es war keine westlich-demokratische Handlung, die zunächst 2014 zur Krim-Besetzung führte.
  • Auch die Nichtumsetzung der Friedensabkommen Minsk I und II beiderseits spielte beim russischen Angriff vom 24.02.2022 eine Rolle. Leider hat sich Angela Merkel tatsächlich so geäußert, dass man herauslesen konnte, diese Abkommen waren nur ein Fake, um der Ukraine Zeit zur Aufrüstung gegen Russland zu verschaffen. Dass das nicht funktionieren konnte, müsste den Strategen im Westen klar gewesen sein – es sei denn, sie engagieren sich selbst in einem Maße, wie das seit dem Zweiten Weltkrieg in vielen dieser Länder nicht mehr vorgekommen ist. In Deutschland ist das längst so. Nie war das Land seit 1945 so massiv an einem Krieg beteiligt.
  • Deutsche Politik unterliegt grundsätzlich starken Einschränkungen nach außen. Wer das nicht wahrhaben will, ist dumm oder hat böse Absichten. Demgemäß kann das Land nicht durch immer mehr Einsatz den Ukrainekrieg wenden. Ohne die USA ist das unmöglich, und dort sieht es gerade so aus, als ob die Unterstützung zum Spielball innenpolitischer Interessen werden sollte. Sie könnte nach der Wahl eines Republikaners  zum Präsidenten im Herbst ganz versiegen. Europa kann diesen Abgang aus dem Unterstützerkreis nicht auffangen, vor allem nicht bezüglich der Waffen- und Munitionsproduktion. Finanziell vielleicht eher, indem man z. B. die Waffen in den USA kauft und sie der Ukraine schenkt, aber da kommt wieder die Frage des Preises ins Spiel.
  • Ein autoritärer Staat wie der russische kann seiner Bevölkerung viel mehr zumuten als eine westliche Demokratie ihren tatsächlich Wahlberechtigten zumuten kann. Das ist ein Dilemma innerhalb des Ukraine-Dilemmas, besser geschrieben, einer Überschneidung. Demgemäß und wegen seiner großen Armee kann Russland länger durchhalten als die viel kleineren Streitkräfte der Ukraine, sofern der Westen nicht selbst eingreift – dies wiederum mit unvorhersehbaren Risiken. Es muss auch dann nicht in einem Atomkrieg enden, aber auszuschließen ist es nicht.
  • Anfangs sah es so aus, als ob große Fehler der russischen Streitkräfte und eine besonders rasche und beherzte Gegenwehr das beinahe Unmögliche erreichbar machen könnten, so haben es uns jedenfalls westliche Militärexperten geradezu mantrahaft verkauft. Nämlich, dass die Ukrainer die Russen zurückdrängen können, bevor sich der Krieg festfrisst. Leider hat er sich inzwischen festgefressen und vergleichen Sie mal die Statements der Realistischeren unter den Militärexperten, die mehr Wissenschaftler als Lobbyisten sind, wie sie sich heute gestalten, mit jenen vor einem Jahr oder noch vor der Sommeroffensive 2023, auf die so viel Hoffnung gesetzt wurde, ohne dass etwas Zählbares herauskam. Wir fanden es abenteuerlich, wie ein paar hundert Meter Geländegewinn als große Siege verkauft wurden und stellten uns dabei vor, dass das gerade mal einer Strecke von unserem Wohnhaus in Berlin bis zur nächsten U-Bahn-Station entspricht, während Russland beinahe ein Gebiet der Ukraine besetzt hält, das die Größe der früheren DDR hat. Etwas überspitzt formuliert, aber Sie verstehen, was wir meinen: Die Erfolge der Ukraine stehen spätestens seit dem Sommer 2023 in keiner guten Relation zu dem Aufhebens, das darum gemacht wird.
  • Diese Darstellungen ließen die Vermutung aufkommen, dass die Analysefähigkeit vieler Experten doch arg begrenzt ist – oder dass Propaganda, nicht ernsthafte Auseinandersetzung mit der Lage, das Motiv hinter dem Hypen der Gegenschläge war. Mithin: Es ging um ein Gegengewicht zur russischen Propaganda, es ging um die Agenda derjenigen, für die man spricht, nicht um eine ernsthafte Einschätzung.
  • Wir konnten nur die politische Lage beurteilen, nicht die militärische. Selbst jemand, der vor Ort ist, „um sich ein Bild zu machen“, als westlicher Politiker, kann das nicht, weil er nur ausgewählte kleine Ausschnitte dieses Bildes gezeigt bekommt. Im Krieg gibt es keine Wahrheit, wenn man nicht den totalen Überblick hat, und den hat aktuell niemand im Westen. Und hätte man ihn, würde man ihn ungeschönt an die Bevölkerung weitergeben? Also müssen wir uns auf die Einschätzung von Experten verlassen, die ebenfalls nur Bruchstücke oder Indizien oder das, was sie über Kriegsstrategie gelernt haben, zum Besten geben können. Nicht alles muss gewollt falsch sein, was wir hören oder lesen. Aber eines schält sich immer mehr heraus: Dieser Krieg ähnelt in seinem Gepräge, wenn auch nicht in der Größenordnung, dem Grauen des Ersten Weltkriegs, und der dauerte bekanntlich mehr als vier Jahre.
  • Kann jemand ernsthaft wollen, dass das so weitergeht, Selbstverteidigungsrecht der Ukraine hin oder her? Die Ukraine befindet sich aktuell in der Lage, in der Deutschland damals war. Die Ressourcen werden knapper, während die Gegner zahlreicher werden, die Kriegsschuldfrage lassen wir dabei außen vor. Die Unterstützung des Westens, im aktuellen Krieg, bleibt allenfalls gleich, Ausfälle an der Front können nicht mehr 1:1 ersetzt werden, die Infrastruktur leidet, während Russland sich in allen möglichen Schurkenstaaten Drohnen und anderes Gerät besorgt und die eigene Rüstungsproduktion mit Sicherheit noch weiter hochfahren wird. Was außerdem suggeriert, dass seine Wirtschaft besser läuft als zum Beispiel die deutsche. Auch Rüstungsproduktion trägt zum BIP bei, und im Falle Russlands gegenwärtig sicher nicht zu knapp.
  • Ein Gamechanger könnte die Lieferung noch aufwendigerer und schlagkräftigerer Waffensysteme aus dem Westen werden. Die Taurus-Raketen, die gegenwärtig gefordert werden, wären aber wohl nicht dieser Gamechanger. So weit sind sogar wir schon, das zu erkennen, nur einige Experten und viele Politiker behaupten wieder mal das Gegenteil, wie schon bei bisherigen Lieferungen, die vielleicht den Untergang der Ukraine hinausgezögert haben, aber nicht die Rückeroberung der russisch besetzten Gebiete einleiten konnten. Nur eine massive Luftüberlegenheit der Ukraine inklusive mit hochtrainierten westlichen Piloten besetzter hochmoderner Kampfflugzeuge könnte auch am Boden für einen Umschwung sorgen. Nur die USA könnten in der Hinsicht ernsthaft helfen, und selbst diese Luftüberlegenheit wäre noch keine Gewähr für den Sieg der Ukraine, solange nicht hochwirksame Waffen aus diesen Flugzeugen abgeschossen werden. Man sieht gerade im Nahostkrieg, wie schwierig es ist, trotz einer totalen Luftüberlegenheit einen materiell komplett unterlegenen Gegner auszuschalten, ohne dabei erhebliche „Kollateralschäden“ zu verursachen. In einem sehr dicht besiedelten Gebiet selbstverständlich, aber dafür ist die ukrainische Front ja auch um ein Vielfaches größer.
  • Wegen dieses Unterthemas, über das wir bisher nicht geschrieben haben, folgende Darstellung, die Frage ging an Chat-GPT, welche Wirkung die Taurus-Lenkflugkörper haben und wie viele die BRD an die Ukraine davon liefern könnte: Die Bundesregierung prüft derzeit die Lieferung von Taurus-Lenkflugkörpernan die Ukraine 1Der Taurus KEPD-350 ist ein fünf Meter langer und fast 1,4 Tonnen schwerer Lenkflugkörper, der von Kampfflugzeugen abgeworfen wird und dann, von einem Strahltriebwerk angetrieben, selbstständig sein zuvor festgelegtes Ziel am Boden findet 1. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 1170 Stundenkilometern, also knapp unter der Schallgeschwindigkeit, fliegt der Taurus in einer Höhe von nur etwa 35 Metern und ist somit für feindliches Radar kaum aufzuspüren. Seine Reichweite beträgt bis zu 500 Kilometer 1Der Taurus ist in der Lage, auch mehrere dicke Stahlbetonwände zu durchdringen und eignet sich somit zur Bekämpfung von Hochwertzielen wie Bunkern oder Führungsgefechtsständen 1. Die genaue Anzahl der Taurus-Systeme, die Deutschland an die Ukraine liefern könnte, ist nicht bekannt.
  • Wir haben weiterrecherchiert. Deutschland selbst verfügt über 150 dieser Taurus-Systeme, die einsatzbereit sind. Weitere 450 sind gegenwärtig nicht einsatzbereit, könnten aber für die Ukraine „reaktiviert“ werden. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland selbst kaum noch welche davon zur Verfügung hat. Nicht klar ist, ob eine eingrenzende Programmierung, die dafür sorgt, dass die Flugkörper nicht auf russischem Gebiet eingesetzt werden können, nicht von ukrainischen IT-Spezialisten rückgängig gemacht werden könnte. „Taurus“-Marschflugkörper: Große Reichweite, große Zerstörungskraft | tagesschau.de.
  • Das führt uns zu einem weiteren Bestandteil des Dilemmas. Ganz klar ist, dass die Ukraine große Erfolge damit erzielen könnte, russisches Gebiet anzugreifen. Weniger im materiellen als im psychologischen Sinne, das ließe sich vor der russischen Bevölkerung, die medial wattiert ist, denn doch nicht dauerhaft geheim halten. Das Sub-Dilemma: Darf die Ukraine mit Angriffen auf russisches Gebiet zurückschlagen? Wir halten die Ablehnung dieser Variante der Kriegführung für absurd. Die Ukraine wird auf ihrem Gebiet angegriffen, also darf sie auch eine Vorwärtsverteidigung auf dem Gebiet des Angreifers durchführen. Das war noch in jedem Krieg so und warum sollte der Ukrainekrieg eine Ausnahme bilden? Der Westen, der zwar die Ukraine ertüchtigen, dies aber verhindern will, verhält sich doppelzüngig und ängstlich, und natürlich ist diese Ängstlichkeit von den russischen Strategen längst als Vorteil auf ihrer Seite erkannt worden. Sie wird aber nicht auszuräumen sein, also beeinflusst sie den Kriegsverlauf negativ, zumal, wenn man dafür Waffensysteme in ihrer Wirksamkeit künstlich beschränken muss.
  • Wenn zum Beispiel von russischem Gebiet aus Kampfdrohnen abgeschossen werden, die Zerstörungen in der Ukraine anrichten, aber die Abschussbasen nicht angegriffen werden können, weil alle westlichen Systeme so programmiert sind, dass ihre Einsatzfähigkeit an der ukrainischen Grenze endet, ist das eine absurde Situation, die leider wiederum die Absurdität dieses Krieges aufzeigt, und diejenige der westlichen Idee, ständig Geld in die Ukraine zu pumpen und Waffen zu liefern, aber bitte nicht so, dass die Ukraine siegfähig und der Westen oder die NATO klar als Kriegsbeteiligte erkennbar werden. Mithin, bei begrenztem Risiko für den Westen. Die russischen Verbündeten haben keine Scheu, Gerät zu liefern, das in der Ukraine eingesetzt wird, um diese zu zerstören, die russische Armee selbst hat keine Bedenken, dieses Zerstörungswerk zu vollbringen. Dadurch entsteht eine weitere Asymmetrie in einem ohnehin ungleichen Kampf. Die Diktatoren der Welt, die System-Lieferanten aus Nordkorea und dem Iran und Komponentenlieferanten aus China werden diese Schwäche des Westens mit einigem Genuss beobachten.
  • Die Ukraine nicht ganz aufzugeben, aber weiterzumachen wie bisher, ist demgemäß schon eine Niederlage. Bei all seinem Imperialismus zeigt der Westen immer wieder Skrupel oder Vorsicht, wenn es darauf ankommt, Flagge zu zeigen, seine Gegner nicht. Mithin ist es ein wirtschaftlich noch immer überlegener, aber auch hinterhältiger und halbherziger Imperialismus, der zu immer deutlicheren Niederlagen führt. Wenn die Ukraine einen größeren Teil ihres Gebietes verlieren oder sogar aufhören würde zu existieren, wäre der bisherige Gipfel dieser Niederlagenserie, von dem US-Desaster in Vietnam vielleicht abgesehen.
  • Damit ist das Dilemma komplett. Wie bisher kann es nicht weitergehen, das dürften wohl mindestens hinter vorgehaltener Hand auch viele Experten so sehen. Aber jede Änderung der westlichen Strategie würde entweder die Niederlage beschleunigen oder in eine direkte Konfrontation mit dem angreifenden russischen Staat münden, obwohl die Ukraine keinerlei Anspruch auf Hilfe wie etwa ein NATO-Land hat. Das hat man nun davon, dass man die Ukraine zwar immer mit dem möglichen Beitritt in die NATO gehätschelt und die Russen damit geärgert, aber ihn nicht vollzogen hat. Westliche Politik ist auf horrende Weise einerseits bösartig, andererseits inkonsequent und verliert dadurch die Vorteile, die die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens immer noch bietet. Hinzu kommt der geopolitische Schaden, der mit dieser Politik bei den „Neutralen“ angerichtet wird, die sehen, dass der Westen moralisch nicht überlegen ist, wenn man die Geschichte bis zum Ukrainekrieg ehrlich und – sic! – neutral analysiert, und zudem richtiggehend dumm agiert, weil er keine echte Strategie hat.
  • Das ist vor allem den Amerikanern mit ihrer erratischen und selbstbezogenen, im Grunde hochgradig primitiven und nur auf militärisch-wirtschaftliche Überlegenheit und ggf. gewaltsame Durchsetzung derselben möglichst ohne eigene Verluste ausgerichtete Politik anzulasten, aber Europa hängt nun einmal mit drin. Den USA erwächst außerdem mit China ein Gegenspieler, der diese Art von Politikgestaltung immer offener als fragwürdig erscheinen lässt. China hat dabei nicht viel zu verlieren, kann nur expandieren, die USA hingegen stehen mit ihrem Weltdominanz-ohne-echten-Einsatz-und-ohne-Risiko-Modell der letzten Jahrzehnte hingegen mit dem Rücken zur Wand. Und mit ihnen wiederum die Europäer.
  • Nirgendwo zeigt sich das Versagen dieser Art von Politik derzeit so deutlich wie in der Ukraine. Ja, es könnte 2024 Frieden geben. Wenn Russland das geschwächte Land doch bald überrennt, in dem es zum Beispiel vom Norden her eine weitere Front eröffnet und die ukrainischen Truppen einkesselt. Kommt Ihnen dieses Strategie bekannt vor? Oder indem es einfach die bisher eroberten Gebiete offiziell annektiert. Der Westen wird das nicht verhindern können, mit seiner oben beschriebenen Form von Politik. Oder er organisiert selbst einen Kompromissfrieden mit, der zu dem Problem führen wird, wo diese Restukriane künftig bündnisseitig verortet sein soll, der zunächst aber grundsätzlich auf das Gleiche hinauslaufen würde.
  • Putin hat gar keinen Grund, jetzt nachzugeben, wo sich das Blatt mehr und mehr zu seinen Gunsten wendet und wo politische Veränderungen im Westen ihm vielleicht bald noch besser in die Hände spielen werden. Wir finden diese Entwicklung „werteseitig“ desaströs, aber folgerichtig, weil sie auch die Wertearmut westlicher Politik enttarnt. Unter Gegnern ohne viel Moral gewinnt der Ruchlosere und derjenige, der ein höheres Risiko zu gehen bereit ist. Und natürlich mehr Truppe einsetzen kann, weil der Westen nicht mit eigenen dagegenhalten wird. Verluste an Menschen und Material? Die waren Diktatoren schon immer egal, während das westliche Imperium die Riesenschlappe der USA anlässlich der letzten offenen Konfrontation in Vietnam nicht wirklich hat verwinden können und seitdem auf eine Weise versucht sich zu behaupten, die schlicht und ergreifend heimtückisch und feige zugleich ist. Eigene Truppen werden nur noch eingesetzt, wenn der Sieg bei wenig Verlusten quasi zu 100 Prozent feststeht, wie in den Golfkriegen. Anschließend hat man dann keine Idee, was aus diesen Kampfzonen eigentlich werden soll und schürt damit weitere Konflikte. Verschwörungstheoretiker sagen, das ist alles von den Eliten in Washington so gewollt. Gerade der Ukrainekrieg zeigt unserer Ansicht nach, dass man mit dieser Zuschreibung die USA überschätzt und dass Europa sich unabhängiger stellen müsste. Doch EU-Europa kann man geopolitisch gar nicht genug überschätzen.
  • Der Westen schafft sich seine Dilemmata selbst, und das ist besorgniserregend, selbst unabhängig vom Ausgang dieses Krieges. Wir sind durchaus der Ansicht, dass Demokratien nicht bis zum Äußersten gehen sollten, Kriege betreffend. Aber dann dürfen sie auch nicht ständig in anderen Ländern herumintervenieren, Kriegsgründe mitverursachen und Kriege fördern, Kriege verlängern, sich dabei festfahren, ein ums andere Mal, und am Ende nichts als Verwüstung zurücklassen. Das schwächt die Demokratien mehr als eine defensivere und friedfertigere Grundhaltung.  
  • Wir wagen keine Vorhersage, wie es bis Ende 2024 mit dem Ukrainekrieg weitergehen wird. Deswegen unsere Abstimmung mit „unentschieden“.

TH


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