Briefing 416 Gesellschaft, Wirtschaft, Bürgergeld, Sanktionen, Jobangebot, Parteien, Personen, Politik
Heute haben wir in einem Artikel folgendes gelesen: Rechte Positionen waren in Deutschland eigentlich immer schon mehrheitsfähig, wohingegen linke Organisationen stärker dabei sind, Protest nach außen zu tragen.
Bezogen war das auf die einsetzende Protestwelle gegen die AfD, die nicht die Illusion erwecken sollte, Deutschland sei plötzlich besonders menschenfreundlich geworden und die Demokratie blühe auf wie nie zuvor. Eine klare Absage an eine menschenwürdige Politik war von jeher die Hartz-IV-Gesetzgebung in der Gewissheit, die Mehrheit dafür gewinnen zu können. Initiator Gerhard Schröder hatte sich ein bisschen verrechnet, aber vermutlich eher deshalb, weil es andere Felder gab, die zu seiner Abwahl 2005 führten. Lesen Sie in diesem Fall bitte unbedingt, was wir unterhalb des Civey-Textes ergänzen werden, bevor Sie abstimmen.
Begleittext von Civey aus dem Newsletter:
Die Bundesregierung hat am Montag mit dem Haushaltsfinanzierungsgesetz diverse Sparmaßnahmen auf den Weg gebracht. Den Empfängerinnen und Empfängern von Bürgergeld, welche zumutbare Arbeitsangebote ablehnen, könnten so bald die komplette Zahlung für bis zu zwei Monate gestrichen werden. Nicht betroffen wären laut ARD die Kosten für Unterkunft und Heizung, diese würde der Staat weiterhin übernehmen. Mit dem Gesetzesentwurf wird sich als nächstes der Bundestag befassen.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte Verschärfungen zum Bürgergeld bereits im Dezember angekündigt. Dabei machte er deutlich, dass sich die verschärften „Sanktionsmöglichkeiten lediglich „gegen Totalverweigerer” richten werde. Eine überwältigende Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger arbeite konstruktiv mit. Wer das nicht tue, müsse jedoch mit härteren Konsequenzen rechnen, so der Minister laut Bild. CDU-Sozialpolitiker Stefan Nacke äußerte sich dem Tagesspiegel gegenüber zustimmend – die Solidarleistung des Bürgergeldes dürfe „keine Einbahnstraße sein”.
Die Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD kritisieren das Vorhaben. „In einem Rechtsstaat ist es nicht vertretbar, Menschen als Sanktion hungern zu lassen”, sagte der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation Philipp Türmer laut Tagesspiegel. Ebenfalls ablehnend äußerte sich die Sozialvorständin der Diakonie, Maria Loheide: „Aus unserer täglichen Beratungspraxis wissen wir, dass Sanktionen besonders Menschen mit besonderen Problemen hart treffen”. Der Arbeitsmarkt-Experte Joachim Wolff verwies indes in der tagesschau darauf, dass sich der Effekt von Sanktionen langfristig umkehren könne und „Sanktionierte in instabileren Jobs” landen können.
Aus der Union kommen mittlerweile längst weit rechtere Töne. So ist das, wenn man erst einmal die Tür öffnet, vor welcher die Sozialstaatsabschaffer aufgestellt haben und sie damit hereinlässt. Vielleicht zur Erinnerung: Schon die Bestätigung, dass das Bürgergeld, damals Hartz IV oder ALG II, um ein Drittel gekürzt werden kann, war vom Bundesverfassungsgericht nur unter erheblichen Veknotungen befürwortet worden, denn das Bürgergeld oder Hartz IV stellt das Existenzminimum dar und ist damit untrennbar mit dem Art. 1 GG (Menschenwürde) verknüpft: Sie ist nicht mehr gegeben, wenn das Existenzminimum unterschritten wird, egal, wer es zur Verfügung stellt.
Jetzt geht es also weiter rückwärts. Wird das BVerfG angerufen werden und diesen Änderungen stattgeben? Wir haben Hubertus Heil bis jetzt als einen vernünftigen Politiker kennengelernt, auch im Vergleich mit allen seinen SPD-Vorgänger:innen. Vielleicht hofft er, dass die aktuellen Haushaltsberatungen längst Schnee von gestern sind, wenn das BVerfG diese Totaleinstellung der Bezüge kassieren wird. Wir halten diese Idee von Heil, falls sie vorhanden ist, die wir ihm also unterstellen, weil wir ihn nicht für einen Sozialstaatsverächter halten, für riskant. Das BVerfG hat in den letzten Jahren eine Art angenommen, die Verfassung einseitig konservativ auszulegen, die dazu führen könnte, dass des die Tatsache billigt, dass Menschen in diesem Land verhungern können. So weit sind wir also schon wieder, und zwar, ohne dass die AfD bereits mitregiert. Allerdings tut sie es in gewisser Weise bereits, zulasten der Demokratie: Die übrigen Parteien übertrumpfen sich mittlerweile dabei, immer wieder ein Stückchen nach rechts zu rücken. Nur die Linke macht im sozialen Bereich da noch nicht mit. Würde sie das tun, wäre sie für uns endgültig unwählbar.
Da oben die Praxis erwähnt wird, möchten wir auch noch etwas beisteuern: Wir sehen voraus, dass immer mehr Menschen auf eine Art krankgeschrieben werden, die ihren Wiedereinstritt ins Arbeitsleben quasi verunmöglicht, zumindest den ersten Arbeitsmarkt betreffend. Ärzt:innen werden, vollkommen zu Recht, ihre Patient:innen schützen, wenn diese sich hilfesuchend an sie wenden, weil sie vom Jobcenter mit „zumutbaren“, in der Regel also mistigen Jobangeboten konfrontiert werden.
Hingegen war der Grundsatz: Weiterbildung vor Aufnahme von prekären Jobs, die niemals zu nachhaltiger Beschäftigung führen, für uns ein richtiger Schritt, der mit dem Bürgergeld die umgekehrte Vorgehensweise ablösen sollte. Jetzt wurden schon wieder kleine Vergünstigungen für Menschen geikppt, die den oft mühsehligen Weg der Weiterbildung, speziell in höherem Alter, gehen wollen. Die Haushaltslage wird dafür hergenommen, kontraproduktive Einschnitte in den Sozialstaat vorzunehmen – schon wieder, möchte man schreiben. Dass Sanktionierte jobmäßig instabiler werden, ist dabei noch sehr konziliant ausgedrückt.
Um die Dimensionen von Sanktionen zu verdeutlichen, haben wir einen etwas älteren Artikel ausgepackt, der die Situaton vor der Einführung des Bürgergelds beschreibt: Studie zu ALG II-Empfängern: Betteln wegen Hartz IV-Sanktionen | nd-aktuell.de.
Die rechtsdrehende Politik in Deutschland, auch innerhalb der Ampel, hätte kein Problem damit, diesen Zustand wiederherzustellen. Wenn man das Grundgesetzt nicht bis zum Quietschen verbiegt, ist dieser Zustand nicht verfassungsgemäß.
In dem Zusammenhang möchten wir auch dringend vor dem Narrativ warnen, Hartz IV habe zu einem Jobwunder in Deutschland geführt. Es gab schon kein Wirtschaftswunder, sondern nur eine erklärbar Aufholbewegung aus der Stunde null heraus, viel weniger gibt es bei genauerem Hinschauen ein Jobwunder durch Hartz IV. Im Wesentlichen wurden nach dem Inkrafttreten der Hartz-IV-Regeln prekäre Arbeitsverhältnisse aufgebaut, die keine langfristige Perspektive enthielten, sondern vor allem in den von Kanzler Schröder so gehypten Billiglohnsektor führten. Menschen dort hineinzudrücken, ist durch den Mindestlohn um einiges schwieriger geworden, was es jedoch immer noch gibt: eine große Zahl von Menschen, die nicht als arbeitslos gelten, aber trotzdem nicht in einem Beschäftigungsverhältnis am ersten Arbeitsmarkt tätig sind. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit wurde so lange geändert, bis die Zahlen gepasst haben., immer weitere Menschengruppen gelten dadurch nicht mehr als arbeitslos, obwohl sie weit von einem auskömmlichen Arbeitsverhältnis am ersten Arbeitsmarkt entfernt sind.
Wir haben schon vor fast 13 Jahren in einem Artikel für den „ersten Wahlberliner“ ausführlich dargestellt, wie die Lage statistisch geschönt wird. Hartz IV für fast alle, die aus dem Job gefallen sind, hat vor allem zu eklatanten Vermeidungsstrategien geführt, die wiederum illegales Handeln mit sich bringen.
Des Weiteren gibt die Zahl der durchschnittlichen jährlichen Arbeitsstunden, die eine:e Erwerbstätitge:r in Deutschland durchschnittlich leistet, immer mehr nach, was bei gleichbleibendem Angebot natürlich eine höhere Erwerbstätigkeitsquote mit sich bringt.
Bei den Jobcentern selbst hat sich über die Jahre das eine oder andere verbessert, auch das im verlinkten Artikel erwähnte Fallmanagement. Wenn man diese Verbesserungen jetzt aber alle wieder kassiert, in der üblichen ergebnisblinden Panik-Politik doppelter Natur, die die Ampel vollführt, wird man weitere vollständige Partizipationsausschlüsse und damit den sozialen Niedergang fördern. Die Ampel hat Angst vor den Rechten und sie hat Angst vor dem Bundesverfassungsgericht mit seiner immer destruktiveren Rechtsprechung, die man ihm mit der unsäglichen Aufnahme der Schuldenbremse in die Verfassung sehr erleichtert hat.
Was Deutschland braucht, ist ein neuer Deal, keine neuen Ausschlüsse und Diskriminierungen, was dazu notwendig ist: Dass vor allem die Privilegierten etwas mehr beitragen, nicht, dass die Armen in den Hunger getrieben werden, weil sie einen Rest von Würde für sich reklamieren. Es ist auch nicht angängig, dass die Tafeln immer mehr die Aufgaben des Staates übernehmen müssen. Gerade besonders aufgrund persönlichen Verhaltens fragwürdige Politiker aus der Union wie Jens Spahn tun sich auf dem Gebiet des Bürgergeld-Bashings auffällig hervor und offenbaren dadurch auch keine sehr enge Beziehung zu den Grundwerten der Verfassung. Vielleicht sollte man nicht immer nur die AfD-Politiker im Blick haben, wenn es darum geht, das Instrument der Grundrechte-Verwirkung nach Art. 18 GG nach bisheriger vollkommener Unwirksamkeit verstärkt in den Vordergrund zu rücken, um dem Rechtsdrall im Land wenigstens auf kleinster, individueller Ebene zu begegnen. Wann streicht die Union eigentlich das „C“ endlich aus ihrem Namen?
Leider müssen wir so dagegenhalten, weil wir das Umfrageergebnis natürlich schon gesehen haben. Nicht weniger als 63 Prozent der Abstimmenden finden diese Maßnahmen, die Menschen einer Lebensgefahr aussetzen können, absolut, also wirklich mit einem vollständigen „ja“ in Ordnung. Zum Glück ist Demokratie nicht der Terror der Mehrheit, sonst gäbe es gar kein Sozialstaatsprinzip. Es gibt Momente, da wünschen wir denjenigen, die sich hier so ungnädig zeigen, dass es ihnen mal passiert, sei es durch eine Erkrankung, sei es durch einen Unfall mit folgender Berufsunfähigkeit, dass sie auch mit dem System Jobcenter in Berührung kommen und verstehen lernen, welch einer Hetze gegen Ärmere sie hier das Wort reden bzw. diese mit ihrem Abstimmungsverhalten unterstützten. Es ist zum Fremdschämen, anders kann man es nicht ausdrücken.
TH
Entdecke mehr von DER WAHLBERLINER
Melde dich für ein Abonnement an, um die neuesten Beiträge per E-Mail zu erhalten.

