So unterschiedlich fällt das Arbeitslosengeld in Europa aus (Statista + Kommentar) | Briefing 457 | Wirtschaft, Gesellschaft

Briefing 457 Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeitslosengeld, Sozialrecht, Sozialversicherungen

Liebe Leser:innen, wir nehmen heute eine Grafik von Statista zum Anlass, eine kleine Artikelserie über die Arbeitswelt zu starten, ähnlich, wie wir es kürzlich zum Thema Ehe und  Scheidung getan haben – im Wesentlichen besteht sie aus Informationen, natürlich kommentieren wir auch ein wenig. Den Einstieg bildet eine Darstellung des Arbeitslosengelds in unterschiedlichen europäischen Ländern.

Infografik: So unterschiedlich fällt das Arbeitslosengeld in Europa aus | Statista

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.

Ist das französische Arbeitslosenversicherungsmodell wirklich so großzügig wie sein Ruf? Wie die Daten des Unédic zeigen, gehört Frankreich in Bezug auf die Höhe der Entschädigung nicht zu den besten der 15 verglichenen Länder in Europa.

Die Arbeitslosenversicherung in Frankreich deckt 57 Prozent des Referenztagessalärs ab, was deutlich weniger ist als in Dänemark, dem Land mit der höchsten Entschädigung in Höhe von 90 Prozent des Referenzlohns. Auch Luxemburg (80 Prozent des Brutto-Referenzlohns), die Schweiz (70 oder 80 Prozent), die Niederlande (75 Prozent) oder Italien (75 Prozent und ab dem 6. Monat degressiv: -3 Prozent pro Monat). Wie in Italien haben sich zwei weitere Länder für eine degressive Leistung für Arbeitsuchende entschieden: In Spanien erhalten Arbeitslose 70 Prozent des Referenzlohns für die ersten 180 Tage, danach 60 Prozent. In Belgien liegt der Satz in den ersten drei Monaten bei 65 Prozent, danach sinkt er je nach persönlicher Situation in mehreren Phasen.

Wie die Statista-Karte zeigt, zeichnen sich Schweden, Finnland, das Vereinigte Königreich und Irland durch ein Modell aus, in dem die Höhe der Arbeitslosenversicherung nicht vom Referenzlohn abhängt. In Schweden und Finnland gibt es eine Grundversicherung von jeweils 1009 Euro und 1110 Euro pro Monat. Während es auf den britischen Inseln eine Pauschale gibt, die in Irland bis zu 880 Euro pro Monat und im Vereinigten Königreich bis zu 380 Euro monatlich betragen kann.

Die Dauer der Entschädigung variiert in der Regel von 6 bis 24 Monaten je nach Land und Situation der Arbeitsuchenden, mit Ausnahme von Belgien, wo sie grundsätzlich unbegrenzt ist. In Frankreich kann die maximale Bezugsdauer etwa zwei Jahre betragen, ein ähnlicher Wert wie in Spanien, Deutschland und Dänemark zum Beispiel. Im Vergleich dazu ist die maximale Dauer der Leistungen geringer als in Portugal (18 Monate), Luxemburg (12 Monate), Irland (9 Monate), Großbritannien (6 Monate) und Schweden (300 Tage oder 450 Tage bei Kindern).

Zugegeben, diese Grafik ist ein Auftrag zum Weiterrecherchieren – an Sie, liebe Leser:innen, denn die Darstellung liefert zwar einen interessanten Vergleich, aber ansonsten mehr Fragen als Antworten.

Wichtig ist die Darstellung im Text, wie lange das gilt, was oben als Arbeitslosengeld bezeichnet wird. Nämlich höchstens zwei Jahre in den Ländern, in denen Zeitgrenzen benannt werden. Die Werte hingegen fallen fast überall erschreckend niedrig aus. Dänemark bietet 90 Prozent, hat aber auch ein beispielloses und umso beispielhafteres Reintegrationsmodell für Arbeitslose, in dem man es wirklich ernst meint mit Forderung und Förderung.

Die Sätze sind in fast allen Ländern so niedrig, dass wir uns sofort die Frage gestellt haben: Was passiert, wenn sie das Existenzminimum und die Wohnkosten nicht abdecken? Muss man dafür private Reserven gebildet haben oder gibt es eine Ergänzung? In Großbritannien beispielsweise liegt das, was man in Deutschland demnach als ALG I-Satz bezeichnen muss, bei lächerlichen 95 Euro pro Woche, und zwar als Höchstwert. Es sind nicht einmal Pfund (ein Pfund gegenwärtig 1,17 Euro). Kaum denkbar, dass damit jemand, der ein paar Monate arbeitslos ist und bisher nicht viel ansparen konnte, nicht pleitegeht. In Deutschland kann es hingegen passieren, dass das ALG II in Form von Bürgergeld und die Kosten der Unterkunft sogar den ALG-I-Satz übertreffen. Nicht einmal da haben wir aktuell den Überblick: Wird dieser ALG-II-Satz plus Wohnkosten durch das ALG I unterschritten, gibt es dann einen Zusatzbetrag? Und wie sieht es mit Wohngeld und anderen Sozialleistungen aus, wenn Menschen mit und ohne Arbeit nicht mehr über die Runden kommen? Welche Leistung ersetzt nach dem Ablauf des Arbeitslosengeldes das Arbeitslosengeld und bis zu welchem individuellen oder pauschalisierten Betrag? Selbst das schwedische Arbeitslosengeld sieht sehr niedrig aus und kann in einem vergleichsweise teuren Land unmöglich das Ende der sozialen Fahnenstange sein.

Ein weiteres Problem in den Ländern, die pauschalisiert zahlen: Jemand, der einen gut bezahlten Job verliert, steht plötzlich mit einem Bruchteil seines vorherigen Einkommens da und ist massiv insolvenzgefährdet. Deswegen wäre ein weiterer Aspekt, den es zu recherchieren gilt: Wie schnell kann man eigentlich seinen Job verlieren, wie gut ist man rechtlich dagegen abgesichert? Wie lange laufen Krankengeld oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall?  

Nach dieser Grafik zu sagen: Italien ist viel besser als Frankreich ist vermutlich zu kurz gegriffen, man muss die gesamten Sozialleistungspakete betrachten. Was wir schon häufiger gehört haben, siehe oben, ist, dass das dänische Modell besonders effizient ist und daher auch eine gewisse Großzügigkeit möglich ist. Das wäre wieder einmal ein Fall für das Prinzip „Best Practice“, von dem in der deutschen Politik noch niemand gehört hat, nämlich, sich umschauen, was andere besser machen und es hierzulande anwenden.

Sozialsysteme sind aber in entwickelten Ländern sehr komplex und ihre Qualität kann nur aus einer Zusammenschau aller Komponenten beurteilt werden. Allein in Deutschland gibt es 14 Sozialgesetzbücher, und auch sie regeln nicht alle Sozialstatbestände, wie zum Beispiel den Mieterschutz, der teilweise  im Privatrecht, teilweise im (sonstigen) öffentlichen Recht  angesiedelt ist.

 Sozialgesetzbuch (Deutschland) – Wikipedia

Ein Staat, der ein sehr gutes Arbeitslosengeld zahlt, aber sonst wenig fürs Soziale tut, kann in der Gesamtschau schlechter sein als zum Beispiel Deutschland mit seiner sehr komplizierten Regelung, in der versucht wird, alle Fälle von sozialem Bedarf penibel zu erfassen und zu kodifizieren. Das geht längst so weit, dass viele Menschen gar nicht wissen, welche Ansprüche sie tatsächlich haben und daher viele Möglichkeiten der sozialen Teilhabe ungenutzt bleiben.

Gleichwohl kann man festhalten: Wenn das, was wir auf der Karte sehen, die Spitzenposition Europas bei den Arbeitnehmerrechten auch im Bereich der Arbeitslosenversicherung repräsentiert, dann kann man sich gut vorstellen, wie es in anderen Ländern der Welt aussieht, wenn jemand den Job verliert. Und das wird wieder mehr relevant werden, auch in Deutschland, das ohnehin eine sehr fragwürdige Form von „Jobwunder“ in den letzten 15 Jahren hatte. Die Zange aus zunehmendem Konkurrenzdruck auf den Weltmärkten und dem vermehrten Einsatz von KI wird dieses Mal nicht dazu führen, dass man tatsächliche Verluste an Arbeitszeitangebot statistisch so gut verstecken kann wie bisher, seit der Schröder-Regierung die Erfassungsweise mehrfach geändert wurde, um möglichst wenige Menschen als arbeitslos deklarieren zu müssen. Die reale Unterbeschäftigung in Deutschland liegt mindestens doppelt so hoch wie die offizielle Arbeitslosenzahl.

Und da dies so ist, kommt es sehr stark darauf an, wie die Sozialsysteme greifen und welche Chancen Menschen dann haben, um wieder eine sinnvolle Beschäftigung zu finden. Vermutlich ist Deutschland auf dem Gebiet trotz erheblicher Ausführungsmängel zumindest rechtlich noch ganz gut aufgestellt, was wiederum zwangsläufig einen hohen, aber notwendigen bürokratischen Aufwand erfordert, um Teilhabe zumindest in der Theorie zu realisieren. 

Ein Vergleich der Systeme wäre aber Gegenstand einer umfassenden wissenschaftlichen Studie, sowohl auf der rechtlichen wie auf der Ausführungsebene, inklusive aller Unwägbarkeiten, die jede denkbare Methodik auf einem so vielschichtigen Gebiet beinhaltet.

Wie immer man das heutige deutsche Sozialsystem aber beurteilt: Früher wurde anstatt des Hartz-IV-Satzes für alle Arbeitslosenhilfe gezahlt, die ebenfalls, wie das Arbeitslosengeld und nach dessen Ende, prozentual vom vorherigen Nettolohn aus berechnet wurde.  Bereits seit 1969 aber gab es schon eine Verpflichtung, zumutbare Jobs anzunehmen, wenn man Arbeitslosenhilfe bezog; diese Verpflichtung kam nicht erst mit Hartz IV. Die Neuregelung der Regierung Schröder war vor allem eine Maßnahme, um Geld zu sparen und den Niedriglohnsektor zu fördern.

Die Grafiken der kommenden Teile werden Aspekte des Arbeitslebens beinhalten, die bereits mit Vergleichsmethoden hinterlegt sind, wie der Index der Arbeitnehmerrechte weltweit.

TH

 

 

 


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