Briefing 456 PPP, langfristige politische Bindung, traditionelle Nähe zu einer Partei
Die Sonntagsfrage Bund kennen Sie, es wird abgefragt, wen die Menschen wählen würden, wäre am nächsten Sonntag Bundestagswahl. Dabei kommt es aktuell etwa zu folgenden Werten:
- Union 30-32 Prozent
- AfD 17-19 Prozent
- SPD 14-15 Prozent
- Grüne 13-15 Prozent
- FDP 4-6 Prozent
- Die Linke 3-4 Prozent
- BSW 4-8 Prozent
Vor einigen Jahren haben wir einen Artikel veröffentlicht (noch im „alten“ Wahlberliner, daher hier nicht verlinkt), in dem es um die langfristige Parteipräferenz von Menschen geht. Wir sind über eine aktuelle Umfrage von Civey dazu sozusagen gestolpert, haben mit abgestimmt und waren vom Ergebnis ziemlich überrascht. Es hat sich nämlich über die Jahre kaum etwas verändert, wenn es um das geht, was Menschen als ihre langfristige politische Bindung ansehen. Wir geben die Werte näherungsweise wieder:
- Union 34 Prozent
- SPD 30 Prozent
- FDP knapp 9 Prozent
- Grüne knapp 9 Prozent
- Linke etwas über 8 Prozent
- AfD knapp 6 Prozent
- Weitere Parteien sind in dieser Darstellung (noch) nicht enthalten.
Die obigen Parteien decken demnach auch 94-95 Prozent des gesamten Wählerspektrums ab, die „Sonstigen“ spielen kaum eine Rolle. Unsere Überraschung war deshalb groß, weil diese Stabilität im aktuellen Wahlverhalten (siehe oben) kaum gespiegelt wird. Im Grunde bedeutet dies, dass es
- Doch eine große Anzahl von Protestwähler:innen gibt, auch und gerade bei der AfD,
- dass manche Parteien ohne ersichtlichen Grund aktuell viel besser oder schlechter liegen als ihr eigentliches Potenzial.
Letzteres wird vor allem bei der SPD und bei den Grünen sichtbar. Die SPD kann gerade einmal die Hälfte ihres offenbar immer noch sehr großen Potenzials für sich mobilisieren, hingegen wählen viele Menschen die Grünen, die sich ihnen eigentlich gar nicht zugehörig fühlen. Gerade in jüngerer Zeit hatte sich bei uns der Eindruck verfestigt, dass das grüne Kernmilieu nicht so groß sein kann, wie die gegenwärtigen Umfragen es suggerieren. Hingegen waren wir nicht sicher, wie viele Menschen noch eine Bindung zur SPD sehen, da es doch heißt, das klassische Arbeiter:innenmilieu löst sich immer mehr auf und weil man der SPD nicht so recht zutraute, sich bei den Angehörigen moderner Dienstleistungsberufe einen guten Namen zu machen. Die alte Tante galt eben als etwas altbacken.
Die Union hingegen kommt dank der schlechten Performance der Ampel-Regierung in etwa wieder an ihr Potenzial heran, ohne selbst sehr überzeugen zu müssen, nachdem sie bei der Bundestagswahl 2021 erheblich darunter geblieben war und ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis eingefahren hatte. Und damit zur Ampel-Regierung. Dass die FDP derzeit unter Soll liegt, ist klar, sie kann nur 80 Prozent ihrer neoliberalen Agenda durchsetzen, nicht 100 Prozent, und wir wissen ja, dass das Kapital den totalen, nicht nur den 80-prozentigen Sieg über die Mehrheit will. Das ist man ein wenig enttäuscht, die Ansprüche sind eben maßlos und demokratiefeindlich. Gut, das war etwas pointiert, lassen wir es zwei Drittel sein.
Dass hingegen die Grünen so gut laufen, wie schon bei der Bundestagswahl 2021, zuvor standen sie in Umfragen noch besser, ist schwieriger zu erklären. Ist es wirklich der Klimawandel, der alles andere überstrahlt, merken viele Wähle:innen nicht, dass die Grünen die größten Kompetenzprobleme aller Regierungsparteien haben oder ist es ihnen egal? Wir glauben, dass hier eine Rolle spielt, dass das nunmehr erweiterte Wählerspektrum dieser Partei überwiegend nicht sehr politisch versiert ist und daher in Einzelthemen denkt, nicht übergreifend.
Die SPD mit ihrer Herkunft aus der Arbeiterbewegung hat immer noch ein Fundament, an dem man sie messen kann, die Union als konservative Partei, die noch nie so recht christlich war, wenn es nicht um die Anbindung der Kirchen, sondern um Realpolitik und politische Rhetorik geht, ist in vielen Gebieten geradezu gesetzt und mit ihr verbindet sich wie mit keiner anderen Kraft die Geschichte der BRD in den guten Zeiten. Der Wunsch, mit der Union wieder daran anknüpfen zu können, ist nachvollziehbar, auch wenn die Merkel-Epoche etwas anderes gezeigt hat. Die vorherige Kanzlerin galt vielen ja auch als nicht konservativ genug.
Uns wundert aber seit Ende 2021, dass die Grünen jedweden Quatsch machen oder absondern können, ohne dass es sich auch nur annähernd auf die Umfragen auswirkt. Vielleicht ist neuerdings noch etwas anderes zu beachten: Dass die Anti-AfD-Wähler:innen vor allem die Grünen stützen, weil diese als Gegenpol der AfD wahrgenommen werden. Dass also auch Solidaritätswähler:innen dabei wären, wäre jetzt Bundestagswahl. Das mag zwar unlogisch erscheinen, aber dennoch nachvollziehbar.
Hoffnungsvolle Botschaften enthält diese Darstellung zur langfristigen politischen Bindung auch: Die AfD hat nach wie vor nicht einmal 6 Prozent Stammwähler:innen, lag schon vor ein paar Jahren um 5 Prozent. Und die Linke kann, wenn sie sich berappelt und ihr Potenzial abruft, wieder zu einer wahrnehmbaren politischen Kraft werden. Vielleicht kann sie dann auch vermitteln, dass sie progressiver ist als die Grünen, gesellschaftspolitisch, und außerdem sozial und die Heimat für jene sein müsste, die humanistische Aspekte über ihre Stimmabgabe mitentscheiden lassen.
Die vielleicht wichtigste Botschaft ist aber, dass sich unter der Oberfläche die politische Tektonik kaum verändert hat. In „normalen“ Zeiten wäre zum Beispiel knapp eine rot-rot-grüne Regierung möglich, der Rechtsruck muss nicht von Dauer sein, die Demokratie steht nicht so auf der Kippe, wie es aktuell den Anschein hat. Dass ältere Wähler:innen verstorben sind, neue hinzukamen, scheint ebenfalls keine große Rolle zu spielen. Dabei dürfte ein Aspekt zu beachten sein, den wir mal „biografisch bedingte Konservativierung“ nennen wollen: Im Laufe des Lebens werden Menschen tendenziell konservativer, bewahrender.
Wer also als Jungwähler:in noch eher links gewählt hat, lässt das spätere Settlement ins Wahlverhalten einfließen. Das muss aber nicht so bleiben, wenn z. B. die grundkonservative Eigentumsideologie für immer weniger Wähler:innen umsetzbar ist. Es könnte aktuell aber den Grünen zugutekommen, dass der Klimawandel als neue Herausforderung alle Generationen anspricht, auch wenn sie nicht alle gleichermaßen davon betroffen sein werden.
Freilich nützt diese Feststellung einer Grundstabilität nichts, wenn ganz anders gewählt wird, als es die langfristigen politischen Präferenzen ausdrücken. Zum Beispiel im Herbst bei den Landtagswahlen im Osten. Da könnte man schon von einem Erfolg sprechen, wenn die AfD wenigstens nicht über 30 Prozent springt. Oder ist alles doch ganz anders und die Repräsentativität einer Online-Umfrage ist nur dann einigermaßen gegeben, wenn man, wie bei der regelmäßig aufgesetzten Sonntagsfrage mittlerweile Algorithmen entwickelt hat, die Verzerrungen glattbügeln? Bei der Langfristige-Bindung-Frage aber noch nicht, weil die Abweichungen noch nicht so gut dokumentiert sind, und es machen immer mehr oder weniger die Gleichen mit? Die Fehlertoleranz wird mit 2,5 Prozent angegeben, das ist normal. Wir wissen es nicht, aber wir können vergleichen mit dem Stand von vor etwa 7 Jahren. Und im Verhältnis dazu hat sich eben nicht so viel verändert.
Wie kommen Sie an die Umfrage? Wir haben sie hier gefunden, bei einem ganz anderen Thema: Ischinger gibt Macron recht: Bodentruppen-Debatte sei angebracht | WEB.DE.
TH
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