Briefing 458 PPP, Wirtschaft, Gesellschaft, Geopolitik, Sozialausgaben, Sozialstaat, Verteidigung, Rüstung, NATO-Ziel
Unseren letzten Urlaubstag nutzen wir für einen Frühstart beim Wahlberliner und empfehlen eine Umfrage, die sich wieder einmal mit dem leidigen Thema Geld in Form des Staatshaushalts befasst, der vom Bundesverfassungsgericht schwer torpediert wurde. Seitdem reißen die Einsparungsdiskussionen erwartetermßen nicht ab und natürlich hat eine neoliberale Partei wie die FDP eine neoliberale Lösung für das Problem. Ressorttechnisch ist es allerdings nicht falsch, dass der Finanzminister (Christian Lindner von der FPD) sich zur Sache äußert. Zunächst die Abstimmung:
Finanzminister Christian Lindner (FDP) plädiert für Einsparungen bei Sozialleistungen, um mehr Geld für Verteidigung ausgeben zu können. Konkret sprach er sich letzte Woche im ZDF bei „Maybrit Illner” dafür aus, Sozialausgaben und Subventionen für zwei bis drei Jahre einzufrieren. Dies wäre „ein ganz großer Schritt zur Konsolidierung”, erklärte der FDP-Chef. Deutschland sei jetzt dringend auf „dynamisches Wachstum” angewiesen, um höhere Steuereinnahmen zur Verfügung zu haben.
Unterstützung erhielt Lindner aus den eigenen Reihen. Für FDP-Fraktionschef Christian Dürr stünden die Verteidigungsfähigkeit und die wirtschaftliche Stärke Deutschlands jetzt an erster Stelle. Daher werde es keine Ausweitung des Sozialetats in den kommenden Jahren geben, argumentierte er am Montag im RBB. Clemens Fuest, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, sagte im ZDF, dass angesichts der aktuellen Wirtschaftslage kein Weg an Kürzungen im Sozialbereich vorbeiführe. Höhere Ausgaben in beiden Etats seien unrealistisch.
SPD, Grüne und Sozialverbände kritisieren Lindner dafür, den Verteidigungsetat gegen soziale Interessen auszuspielen. Die Debatte sei „gesellschaftspolitisch zerstörerisch”, schrieb etwa Ulrich Schneider auf X. Der Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes verwies insofern auf die von Armut betroffenen Menschen und die enormen demografischen Herausforderungen hierzulande. Im internationalen Vergleich seien die Sozialausgaben nicht besonders hoch, argumentierte zudem Yasmin Fahimi in der BILD. Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes fordert eine Reform der Schuldenbremse statt Einsparungsdebatten.
Es gibt aktuell tatsächlich eine relative Mehrheit für „eindeutig falsch“ gegenüber „eindeutig richtig“ (47/32 Prozent). Das hat uns in diesen wüsten Zeiten geradezu überrascht. Aber warten wir mal ab, bis die rechte Blase eintrudelt, der keine Lösung für ein von der Politik selbst organisiertes Problem zu simpel und zu inhuman sein kann.
„Einfrieren“ kann man den Sozialetat nicht, ohne an der Normenlage etwas zu drehen, das weiß natürlich auch Christian Lindner. Das Bürgergeld erhöht sich beispielsweise mit der Inflation, das muss so sein, um den Verfassungsauftrag der Existenzsicherung zu erfüllen. Will Lindner das ändern, müssen wichtige Gesetze im Sozialrecht geändert werden, mit der Gefahr, dass sie danach verfassungswidrig sind. Außerdem werden weiterhin Ansprüche aus dem Recht der unterschiedlichen Gruppen von Geflüchteten bestehen, die sich nicht einfach beiseiteschieben lassen. In manchen Bereichen, wo es um die Daseinsvorsorge geht, müssen soziale Ausgaben sogar erhöht werden, damit der Laden nicht mittelfristig zusammenbricht, von Teilhabe und der Verbesserung der Situation vieler Menschen, mehr Integrationsangeboten, besserem Management von Missständen, die sich längst festgefressen haben usw. gar nicht zu reden.
Und immer dieselbe Leier als Kommentar der CDU: Vier Millionen Bürgergeldempfänger seien erwerbsfähig. Wenn man nur einen Teil der Menschen, die gerade Sozialhilfe empfangen, zur Arbeit bringen könnte, dann könne man Geld einsparen, ohne dass es jemandem wehtun würde. SR.de: Sozialausgaben einsparen, Wehretat erhöhen?
Wir glauben nicht an die Zahl von vier Millionen, um es ganz offen zu schreiben, und wenn es so einfach wäre, vernünftige, die Menschenwürde nicht verletzende Jobs zu finden, wäre das längst geschehen. Und da setzt wieder unsere Kritik an: Die „Verwaltung“ der Bürgergeldempfänger ist teilweise beschämend, die tatsächlichen Möglichkeiten, sich zu qualifizieren und dauerhaft Arbeit zu finden, nicht so gut, wie konservativ-neoliberale Politiker es den Menschen weismachen wollen. Das hat viel damit zu tun, dass ein individuelles Fallmanagement vielfach eher Wunsch als Wirklichkeit ist, auch aus finanziellen Gründen. Und die Probleme werden zunehmen. Mangelhafte Grundbildung und Einstellungshindernisse aller Art sind bei Jüngeren weitaus häufiger als bei älteren Menschen, außerdem nehmen die einfachen, aber gerade auskömmlich bezahlten Jobs ab, mit denen man einstigen und sich weiterentwickeln kann.
Ein weiterer Faktor ist, dass populistisch mit dem angeblich gigantischen Sozialstaat unseriös umgegangen wird. Über 200 Milliarden Euro für Sozialausgaben? Aber nur, wenn man man den Steueranteil an den Renten einrechnet, der immer mehr anwächst, weil die Renten nicht mehr aus Beiträgen finanziert werden können:
Der größte Posten im Bundeshaushalt ist der Sozialetat, der fast 40 Prozent der Staatsausgaben ausmacht. Der größte Einzelposten darin ist die Rentenversicherung, für die die Bundesregierung 2024 127,3 Milliarden Euro eingeplant hat. Weitere 47 Milliarden Euro sind für Sozialleistungen vorgesehen. „Kanonen und Butter“: Ifo-Chef hält Kürzungen bei Sozialleistungen für unausweichlich (msn.com)
Dass neoliberale Ökonomen wie der Herr Fuest vom besonders kapitalnahmen Ifo-Institut einfach mal die Sozialausgaben kürzen wollen, ist ja nichts Neues, aber wenn man genauer hinschaut, weiß auch Christian Lindner, was in etwa maximal geht und was nicht:
„Mir geht es nicht darum, dass wir jetzt Dinge abschaffen müssen. Darüber kann man auch diskutieren. Aber das Wichtigste ist, dass nicht immer neue Subventionen, neue Sozialausgaben, neue Standards dazukommen“, sagte der FDP-Chef am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner“. Davon gebe es schon relativ viel. „Wenn es uns gelänge, mal drei Jahre mit dem auszukommen, was wir haben, dann wäre das ein ganz großer Schritt zur Konsolidierung.“ (Quelle wie vor)
Lindner geht es nicht ums Abschaffen, weil er weiß, dass das nicht geht, nicht, weil er es nicht gerne machen würde. Wir haben oben erwähnt, dass in vielen Bereichen bereits am unteren Limit dessen gefahren wird, was verfassungsrechtlich abgesichert ist. Ein Moratorium ist also kein Stopp des Ausgabenwachstums, sondern ein Stopp für neue Subventionen und Leistungen. Deswegen ist die Aufregung über Lindners Aussagen auch ein wenig übertrieben, wenn es um die Subjekt-Existenzsicherung geht. Allerdings bräuchte die Wirtschaft dringend Impulse zur Konversion aus der Politik und da sieht es anders aus. Gerade wirtschaftsfreundliche Ökonomen sollten deshalb genau hinschauen, wenn von einem Moratorium die Rede ist. Klimafeindliche Subventionen könnte man sehr wohl gegen klimafreundliche tauschen, aber per Saldo käme eher ein Plus heraus, wenn dabei auch Arbeitsplätze gesichert und neu aufgebaut werden sollen (mit denen dann wieder mehr von den oben erwähnten Bürgergeld-Empfänger:innen sinnvoll und nachhaltig in den Ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnten).
„Der Sozialstaat wird halt kleiner ausfallen, inklusive der Renten, denn Kanonen und Butter, beides geht nicht“, sagt Fuest sinngemäß. Natürlich, das Sozialstaatsprinzip kann man immer mal wieder auf seine Untergrenzen hin testen, aber, siehe oben, das wurde an vielen Stellen bereits getan. Und wenn die Renten immer schmaler werden, werden dafür andere Sozialleistungen ansteigen, damit das Existenzminimum für die Bürger:innen gewährleistet bleibt. Mit dem äußerst unangenehmen und für die Demokratie äußerst schädlichen Effekt, dass immer mehr Menschen wie Almosenempfänger:innen behandelt werden, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben.
Zwei Aspekte spielen hingegen seltsamerweise überhaupt keine Rolle, oder haben Sie irgendwo einen Hinweis darauf gelesen, dass die Steuereinnahmen 2022 gegenüber 2021 fast explodiert sind?
Im Jahr 2022 wurden in Deutschland insgesamt 895,7 Milliarden Euro Steuern vor der Steuerverteilung von Bund, Ländern und Gemeinden (Gebietskörperschaften) eingenommen. Gegenüber dem Vorjahr war dies ein Anstieg um 62,5 Milliarden Euro (+7,5 %). Steuereinnahmen – Statistisches Bundesamt (destatis.de)
Uns hat das auch überrascht, aber es ist so. Mag sein, dass Corona zuvor die Einnahmen gedeckelt hat, wie etwa durch Umsatzsteuerermäßigungen während der Hochphase der Pandemie, weshalb in dem Bereich 2022 eine besonders starke Zunahme zu verzeichnen war, und in der Tat gab es 2020 ein „Corona-Loch“, aber schon 2021 war der vorherige Höchststand aus dem Jahr 2019 wieder überschritten. Steueraufkommen (Deutschland) – Wikipedia
Interessanterweise redet in der FDP und bei den neoliberalen Ökonomen niemand darüber, dass die Bezieher hoher Einkommen und vor allem die Besitzer großer Vermögen in Deutschland maximal geschont werden, damit die Ungleichheit immer weiter zunimmt. Man muss verstehen, dass vor allem ihre Pfründe es sind, die durch höhere Militärausgaben geschützt werden und weiter anwachsen dürfen, sie haben zuletzt von jeder Krise profitiert, per Saldo auch von den fragwürdigen Regulierungen der Bankenkrise, werden seit mehr als 15 Jahren immer stärker privilegiert. Mit „stärker“ ist gemeint, dass das Anwachsen der Privilegien sich beschleunigt, nicht, dass die bestehenden Privilegien automatisch zu wachsender Ungleichheit führen, das war zuvor schon der Fall und ist ebenfalls ein Problem für die Demokratie. Solange wir nicht sehen, dass die Politik sich endlich traut, auch die Mächtigen und Reichen ins Boot der Finanzierung neuer Anforderungen zu nehmen, ist für uns jede Diskussion über eine Kappung des Sozialstaats obsolet.
Ein letzter Aspekt betrifft die Wehrausgaben selbst: Wieso kommen Länder wie Frankreich und Großbritannien, die, anders als die Bundeswehr, auch eine Atomstreitmacht zu verwalten haben, mit weniger Rüstungsausgaben aus als Deutschland, ohne dass ihre Armeen dadurch als verteidigungsunfähig gelten, wie das von der Bundeswehr so gerne behauptet wird? Missmanagement mit immer mehr Geld verlängern, kann nicht die Lösung sein. Ein Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, der aus dem Vollen schöpfen kann, muss nicht nachweisen, dass er auch ein guter Manager ist, der seine Mittel effizient einsetzt. Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, das die Erhöhung des Verteidigungsbudgets mit einer Zielmarke versieht, wird vielleicht noch eine geostrategische Rolle spielen, aber eher, um Donald Trump den Wind aus den Segeln zu nehmen, was seine Angriffe gegen andere NATO-Länder angeht, als um die Bundeswehr wesentlich zu verbessern. Letzteres muss auf administrativer Ebene geschehen. Wie mittlerweile konstant in solchen Fällen würden wir empfehlen, sich bei Ländern umzuschauen, die aus viel weniger Mitteln viel mehr machen, wie Israel. Man muss nicht alles übernehmen, nicht die Handhabe, dass das Land so durchmilitarisiert ist, das wäre ja auch wieder viel teuer, aber etwas mehr Effizienz kann man sich dort sicherlich abschauen. Es gibt weitere Aspekte im Themenkreis der Bundeswehr, die diskutiert werden müssten, das können wir an dieser Stelle nicht tun.
Wie wir abgestimmt haben, könnten Sie allerdings aus dem Kommentar erlesen haben. Wir sind eindeutig gegen den Lindner-Vorschlag, auch wenn er sich bei näherem Hinsehen nicht als so gravierend entpuppt, wie die knalligen Schlagzeilen zu seinen Äußerungen vermuten lassen. Der Sozialstaat darf keine Verhandlungsmasse sein, wenn es um höhere Militärausgaben geht. Es erstaunt uns immer wieder, wie simpel neoliberale Ökonomen gestrickt sind und wie wenig sie das Ganze im Blick haben. Politiker wie Christian Lindner haben das nach unserer Ansicht sehr wohl im Blick: Die Diskussion soll in Richtung Zustimmung zur Militarisierung und im Sinne der Rüstungsindustrie anstatt auf Gemeinsinn, gesellschaftliche Fortentwicklung und eine friedenssichernde Politik gelenkt werden. Wir erwarten deshalb von der SPD und Olaf Scholz, dass er sich konsequent diesen verbalen Angriffen auf den Sozialtaat entgegenstellt.
Mehr Effizienz bei der Verteidigungsverwaltung und endlich mehr Gemeinschaftsbeiträge von ganz oben sind die Gebote der Zeit. Und reformiert jetzt diese hirnrissige, zukunftsschädliche Schuldenbremse! Es muss doch langsam jedem klar sein, dass sie für Zeiten wie diese nicht taugt und dass sie genauso kurzsichtig war wie das Denken – genau, neoliberaler Ökonomen, die keine Berechnung der gesellschaftlichen Gesamtkosten ihrer Forderungen Ideen anstellen.
TH
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