Scholz‘ Absage an Einsatz westlicher Truppen in der Ukraine: Gut? (Umfrage + Kommentar) | Briefing 463 | Geopolitik

Briefing 463 Geopolitik, Ukrainekrieg, NATO-Truppen, Bodentruppen, Kampftruppen, Kampfeinsatz

Laut ZDF-Politbarometer ist die Zustimmung zu mehr Waffen für die Ukraine in der deutschen Bevölkerung in letzter Zeit gestiegen (ZDF-Politbarometer – ZDFheute). Seit fast einem Jahr wird über die Lieferungen von Taurus-Marschflugkörpern an die  Ukraine diskutiert, jetzt hat sich Kanzler Scholz klar geäußert und eine solche Lieferung abgelehnt. Also klingt es logisch, auch Bodentruppeneinsätze abzulehnen. Trotzdem stößt man immer wieder auf ein Dilemma, weil grundsätzlich und seit Langem die politischen Weichen falsch gestellt wurden.

Obwohl Scholz selten so deutlich wird, sollte man vielleicht ein „vorerst“ beifügen und noch einmal genau nach den Gründen für das „Nein“ forschen und darüber nachdenken, ob diese auch dann gelten wird, wenn die Ukraine bei ihrem Versuch, den russischen Angriff abzuwehren, weiter in die Defensive gerät. Davon, dass dies der Fall sein wird, geht mittlerweile die Mehrzahl der Beobachter aus. Wir haben mehrfach geschrieben, dass wir eine Wende nur  mit westlichen Bodentruppen für möglich halten. Nun hat der französische Präsident Macron sich öffentlich in dieser Richtung geäußert. Wir haben uns gewundert, dass es so lange gedauert hat, bis Civey daraus eine Umfrage formt, aber hier ist sie:

Civey-Umfrage: Wie bewerten Sie es, dass Bundeskanzler Olaf Scholz den Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine ausschließt? – Civey

Und hier der Begleittext dazu aus dem Newsletter:

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat eine Debatte über eine Beteiligung im Russland-Ukraine-Krieg ausgelöst. Er sagte am Montag auf der Ukraine-Hilfskonferenz in Paris, dass er eine Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine nicht ausschließe, wenn es um das Ziel ginge, Russlands Sieg zu verhindern. Der französische Außenminister Stéphane Séjourné relativierte anschließend, es gehe nicht um direkte Kriegsbeteiligung. Man erwäge „neue Unterstützungswege” wie Cyberabwehr oder Minenräumung, die eine Präsenz erfordern könnten, berichtete die Zeit.

 Die Ukraine begrüßt die angestoßene Debatte. Macrons Überlegungen zeigten ein Bewusstsein für die Risiken, die Europa durch ein militaristisches, aggressives Russland drohten, sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak der WELT nach. Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico sprach laut FR vor der Konferenz von Thesen, wonach einzelne Staaten eine Soldatenentsendung überprüften. Litauens Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas schließe dem Spiegel zufolge eine Entsendung grundsätzlich nicht aus, aber nur solange es nicht um direkte Kampfhandlungen ginge.

Ein Einsatz westlicher Truppen in der Ukraine wurde anschließend von den USA, der NATO und zahlreichen EU-Ländern vehement ausgeschlossen. Auch hierzulande wurde die Debatte parteiübergreifend kritisiert. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte am Dienstag auf X klar: „Es wird keine Bodentruppen europäischer Staaten oder der NATO geben. Das gilt.” Kreml-Sprecher Dimitri Peskow warnte laut FR, „dass die Entsendung westlicher Truppen in die Ukraine „zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zwischen Russland und der Nato“ führen könnte.

Es sind natürlich längst beratende Kräfte in der Ukraine, und zwar von mehreren NATO-Ländern, aber keine  Kampftruppen, und das kann einen entscheidenden Unterschied machen. Für uns sind die Bodentruppen ein Teil des Ukraine-Dilemmas: Will man einen Sieg Russlands sprichwörtlich mit aller Gewalt verhindern? Dann müssen Bodentruppen wohl sein. Gegenwärtig wird so getan, als ob immer mehr Waffen und Munition ausreichen würden, um die Ukraine zu retten, aber das sehen wir anders. Russland hat nicht nur waffenseitig mindestens gleich große Möglichkeiten, es kann auch immer neue Streitkräfte in die Ukraine schicken. Wir erinnern uns daran, dass Putin noch keine Generalmobilmachung angeordnet hat, weil er das Narrativ aufrecht erhält, es handele sich gar nicht um eine Krieg, sondern um eine militärische Strafaktion, als sei die Ukraine ein von Mütterchen Russland zu züchtigendes, ungezogenes Kind.

In der Ukraine wurde die Zahl der toten Soldaten von Präsident Selenskyi in der vergangenen Woche erstmals benannt: 31.000. Westliche Beobachter schätzen sie doppelt so hoch ein, ohne damit russische Propaganda stärken zu wollen. Es gilt weiterhin, dass die  Ukrainer:innen viel klüger kämpfen und daher nicht einmal halb so hohe Verluste zu verzeichnen haben wie die russische Armee. Man geht im Moment davon aus, dass die Ukraine 900.000 Mann unter Waffen hat. Zum Vergleich: In Deutschland waren es während der Hochphasen des Ersten und Zweiten Weltkriegs jeweils mehr als 7 Millionen, und trotzdem hatte das Land keine Chance gegen die zunehmende Überlegenheit der Gegner. Zu den Gegnern der Ukraine zählt momentan auch die Reihe von Staaten, die Moskau mit militärischem Gerät unterstützen. Anders als bei der Ukrainehilfe des Westens können wir nicht beziffern, wie umfangreich diese Hilfe ist, aber sie scheint sich genau auf das zu konzentrieren, was benötigt wird, insbesondere im zunehmend wichtigen Drohnenkrieg, der auch zu einem technologischen Wettrüsten geworden ist.

Die Demokratien können da nicht so schnell sein und auch dies ist ein Teil des Dilemmas: Will man bei den Hilfen wirklich so bedenkenlos liefern, was die Industrie hergibt oder sie eigens ausbauen für einen Krieg wie diesen, wie Diktaturen das problemlos tun können, weil die Herrscher nicht auf die Stimmung der Bevölkerung achten müssen?

Ebenjene Stimmung der Bevölkerung ist in Deutschland in letzter Zeit nie so sehr auf der Seite von Olaf Scholz gewesen wie bei der Bodentruppenfrage. Aktuell sind genau zwei Drittel (66,6 Prozent) eindeutig gegen die Entsendung. Nur 12 Prozent sind eindeutig dafür. Auch wenn es populistisch klingen mag: Die Befürworter dürfen gerne selbst die Waffe in die Hand nehmen und dort mitmachen, sofern sie Männer sind. Bei den Männern sind nämlich 14,3 Prozent dafür und nur 62 Prozent eindeutig dagegen. Wieder einmal sind Frauen also besonnener und denken eher an das Leid im Krieg, können sich offenbar auch besser in die Mütter getöteter Soldaten versetzen, als Männer das bezüglich der Söhne können.

Diese grundsätzliche Überlegung, dass immer die einfachen Menschen für die Machtpolitik anderer den Kopf hinhalten müssen, spielt natürlich auch bei unserer Ablehnung eine Rolle. Auch der Ukrainekrieg hätte sich bei besserer Diplomatie vermeiden lassen, aber man ließ es eben darauf ankommen. Der zweite Aspekt: Wie auch immer man eine direkte Kriegsbeteiligung der NATO definiert, wenn man Wladimir Putin heißt, beim Einsatz von Bodentruppen wäre sie unzweifelhaft nach allen Maßstäben einer Kriegsbeteiligung gegeben. Wir glauben zwar weiterhin nicht, dass dies einen Atomkrieg auslösen würde, aber die Ausdehnung von Kampfhandlungen auf andere Länder halten wir für überwiegend wahrscheinlich. Es versteht sich aber on selbst, dass eine territoriale Ausweitung vermieden werden muss.

Das Argument, was passiert, wenn man Putin in der Ukraine nicht mit allen Mitteln stoppt, steht im Raum, aber wir sind nach wie vor der Ansicht, dass er kein NATO-Land überfallen würde. Mit den Ländern, die im Moment zwischen Baum und Borke sitzen, Moldawien und Georgien vor allem, könnte es freilich anders aussehen und natürlich spielt bei den Überlegungen, einen weiterehin negativem Kriegsverlauf für die Ukraine betreffend, eine Rolle, dass prinzipiell im 21. Jahrhundert die gewaltsame Verschiebung von Staatsgrenzen nicht mehr toleriert werden sollte. Die Ausstrahlungswirkung des Ukrainekriegs auf andere gefährliche Situationen, wie etwa die zwischen China und Taiwan, ist für uns schwer einzuschätzen, jeder Konflikt steht für sich. Aber der Westen hat sich dieses Dilemma auferlegt, entweder mit der Ukraine zu siegen und als moralisch zweifelhaft wahrgenommen zu werden, oder sie aufzugeben und als moralisch zweifelhaft und feige angesehen zu werden. Viele Punkte kann man international mit diesem Krieg nicht machen, gleich, wie man damit seitens der NATO-Länder umgeht.

Selbstverständlich hat uns auch gestört, von wem und zu welchem Zeitpunkt die Forderung nach Bodentruppen kam. In Frankreich ist Politik immer noch in kolonialem Überlegenheitsdenken verhaftet, gegenüber Deutschland kommt noch der alte Komplex hinzu, der aus vielen Kämpfen miteinander herrührt, die bei näherer Betrachtung seit hundeten von Jahren nie zugunsten Frankreichs ausgingen oder ausgegangen wären, wenn man nicht massiv Hilfe von außen erhalten hätte.

Sicher bestimmt das alles die Haltung von Emmanuel Macron, hinzukommt ein für die Politik des Landes auch nicht gerade untypische, aufgeblasene persönliches Gepräge. Damit darf man aber keine Weltpolitik machen, nicht im Jahr 2024, und wir würden kleinen Ländern im Baltikum sehr dazu raten, sich diesem Spin nicht bedenkenlos anzuschließen. Gerade dort muss strikt auf die Grenzen zwischen Verteidigung und Offensive geachtet werden, damit man Russland keinen Vorwand dafür liefert, eben doch ein NATO-Land anzugreifen, weil dies als Verteidigungshandlung deklariert werden könnte. Dann wäre nämlich der Bündnisfall gegeben und auch Deutschland würde mit im Boot sitzen, und zwar an einer vorderen Stelle, an der man leicht getroffen werden kann.

Wir haben uns gestern ein wenig mit der amerikanischen Logistik in Deutschland befasst: Wir glauben danach eher weniger als zuvor, dass die USA, egal, was ein künftiger Präsident Trump sagt, Deutschland einfach fallenlassen wird, nur, weil es ein paar Promille vom 2-Prozent-Ziel der NATO entfernt ist. Deutschland ist mit großem Abstand die wichtigste Logistikstation für die USA in Europa. Das  nach Trumps Hauruck-Methode zu ändern, wäre extrem aufwendig, selbst für US-Verhältnisse.

Diese Position hat natürlich auch einen Nachteil: Deutschland ist hochgradig in jeden Krieg involviert, den die NATO führt oder den die Amerikaner führen. Das war bisher schon so, weil von deutschem Boden die Versorgung der US-Truppen im Irak, in Syrien, in Libyen, in Afghanistan erfolgt ist, es gab auch immer wieder Diskussion darüber, was von deutschem Boden aus geschehen, welche Waffen von hier aus eingesetzt oder geladen werden dürfen und welche nicht. Aber gleich, welches NATO-Land in der Ukraine Bodentruppen einsetzen sollte, Deutschland wäre mindestens, wie bisher diese wichtige logistische Drehscheibe, mit allen Gefahren, die lauern, wenn der Gegner Wladimir Putin heißt und sich wohl kaum scheuen würde, konventionell zurückzuschlagen, also diese Stützpunkte in Deutschland beispielsweise mit Drohnen anzugreifen, wenn es wirklich zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO käme, die territorial dann wohl auch über die Ukraine hinausginge.

Letztlich hat Olaf Scholz hier die Interessen der Bevölkerung seines eigenen Landes zu wahren. Das hat die Ampelregierung bisher zu wenig getan, aber auch Kanzler Scholz dämmert, dass er nicht immer weiter maximal unpopuläre Entscheidungen treffen darf, wenn die Ampel bei den nächsten Wahlen eine Chance auf Weitermachen haben will.

Während wir diesen Artikel geschrieben haben, hat sich das Abstimmungsverhalten leicht in die Pro-Bodentruppen-Richtung verlagert, mit einer eindeutigen Zustimmungsquote von jetzt 13,9 Prozent. Es gilt, was wir oben über die Befürworter geschrieben haben: Mal selbst ausprobieren, wie es sich anfühlt, im Kampf gegen einen Gegner wie Russland zu stehen, und es geht dabei nicht einmal um die Selbstverteidigung, sondern um ein anderes Land, über dessen Statur als Bastion der westlichen Werte im wilden Osten man mit Fug streiten darf.

Die geostrategischen Aspekte haben wir sehr wohl im Blick. Es hilft sowieso nichts. Ob der Westen sich jetzt erneut blamiert oder nicht, es wird künftig eine andere Politik mit der Mehrheit der Staaten in der Welt geben müssen, die nicht auf militärische Dominanz setzt, sonst sind weitere Konflikte vorprogrammiert. In ebenjener Welt, in der immer mehr Staaten über Atomwaffen verfügen. Natürlich könnte der Westen mit vereinten Kräften die Ukraine retten, aber zu welchem Preis? Das muss immer wieder neu ausverhandelt werden, anhand des Kriegsverlaufs und der bisherigen Verluste: Wie viel sind wir dafür bereit zu opfern als jenes Land, das ohnehin die größte Unterstützungsleistung erbringt, in Relation zu seinen wirtshaftlichen Möglichkeiten.

Schon im Jahr 2018, kurz nach der Wiedergründung des Wahlberliners, hatten wir uns übrigens dagegen ausgesprochen, dass die Bundeswehr überhaupt wieder im Ausland eingesetzt wird. Damals war das Afghanistan-Desaster noch nicht abgeschlossen und waren die Auslandsmissionen noch nicht mit so gravierenden möglichen Folgen verbunden, sondern galten als friedenssichernd, nicht als Kriegseinsätze. Diese Planspiele, die wir gerade sehen, sind nicht so zufällig und verwirrt, wie man denken mag: Sie sollen dazu dienen, den Diskurs generell in Richtung Kriegbereitschaft zu verschieben, und nicht nur in Richtung Verteidigungsbereitschaft. Dem stellen wir uns ungeachtet aller Kompromisse, die wir gegenüber älteren Darstellungen mit unserer Haltung zum Ukrainekrieg eingangen sind, nach wie vor entgegen.

TH


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