Crimetime 1201 – Titelfoto © HR
Neue Ermittlungserkenntnis: „Halt’s Maul“ ist die große Schwester von „Scheiße!“
Zürcher Früchte ist ein Fernsehfilm aus der Kriminalreihe Tatort der ARD und des ORF. Der Film wurde vom Hessischen Rundfunk produziert und am 12. Februar 1978 erstmals ausgestrahlt. Es handelt sich um die Tatort-Folge 85. Für Kriminalhauptkommissar Bergmann ist es der erste Fall, in dem er ermittelt.
Der erste Fall Bergmanns erreichte mit 24,91 Millionen (Marktanteil: 69,00 %[1]) Zuschauern bei der Erstausstrahlung die dritthöchste Zuschauerzahl aller bisher ausgestrahlten Tatortfolgen.[2]
Wir sind noch nicht ganz über den Ärger darüberhinweg, dass uns gerade der HR-Tatort mit der höchsten Zuschauerquote aller Zeiten durch die Lappen gegangen ist („Kennwort: Gute Reise“) – aufgrund einer technischen Panne, also nehmen wir den mit der dritthöchsten Quote, und das ist „Züricher Früchte“ (69 % Marktanteil bei Erstausstrahlung). Offenbar ist dieser Film aber auch derjenigemit der dritthöchsten Tatort-Quote überhaupt. Sicher, damals gab es nur zwei Programme zur Auswahl, aber die Zuschauerzahl von fast 25 Millionen, damals fast ausschließlich im Westen erreicht. Die Zahl der damals im Westen vorhandenen Fernsehgeräte haben wir leider nicht finden können. Außerdem dürfte dieser Film derjenige mit den meisten „ü“ im Titel sein. Alles andere steht in der Rezension.
Handlung (1)
Das Verbrecher-Trio Peter May, Helmut Pauly und Dieter Stroess aus Frankfurt versuchen, an den, von Henry Brandl hinterzogenen, Millionenbetrag auf einem Zürcher Bankkonto zu gelangen. Im Affekt wird versehentlich einer der Ganoven, Peter May, erschossen. Daraufhin trennen sich die beiden Verbliebenen und Pauly fährt allein nach Zürich. Er trifft sich mit Brandl im Hotel und offeriert ihm sein Wissen über dessen „Zürcher Früchte“ und erpresst ihn. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen erklärt er ihm, dass dessen Frau in seiner Gewalt wäre und sein Freund sie bewachen würde. Dementsprechend holt Brandl in Begleitung von Pauly 400.000 SFr von seinem Konto, mit denen der Gannove verschwindet und sich zum Flughafen begibt, um nach Rio de Janeiro zu fliegen.
Waldarbeiter finden inzwischen die Leiche von May und Kriminalhauptkommissar Bergmann ermittelt nun in seinem ersten Fall an der Seite des Assistenten Robert Wegener. Nachdem sie die Identität des Toten klären können, stoßen sie schnell auf den Papierfabrikanten Brandl, dessen Firma in letzter Zeit häufig von May angerufen wurde. Ebenso finden sich Fingerabdrücke in der Wohnung, die sie Dieter Stroess zuordnen können. Als dieser erfährt, dass er gesucht wird, taucht er unter. Da sein Kumpel Pauly nicht wieder aufgetaucht ist, muss er vermuten, dass dieser sich mit der Beute abgesetzt hat und will sich nun notgedrungen auf eigene Faust Geld beschaffen. Beim Versuch sich mit jemanden zu treffen, wird er aus dem Hinterhalt von einem Unbekannten erschossen (weiter: Inhaltsangabe in der Wikipedia).
Rezension
In den 1970ern waren Tatort-Premieren noch Events, auch dadurch, dass es nur zwei Programme gab. Und ein paar Dritte, aber die kamen dem Hauptsender der ARD natürlich zur Sonntagabend-Premiumzeit nicht mit Krachern in die Quere. Die heutigen Marktanteile von 20-30 % für neue Tatorte sind bei gegebenem Medien-Überangebot sehr beachtlich, insbesondere, weil sie selbst nach einer unglaublichen Inflation in den letzten Jahren mit mehr als 40 neuen Filmen im Jahr zu diesem Überangebot beitragen. In den 1970ern gab’s einen neuen Krimi pro Monat und Schluss.
Der Fairness halber muss gesagt werden, die Inszenierungen waren damals nicht um das Vierfache sorgfältiger, weil so viel weniger Ausstoß war. Es gab Fälle, die heute als Klassiker gelten oder gelten sollten und solche, bei denen man sich ein wenig fremdschämt. Die Qualitätsschwankungen waren unwesentlich geringer als heute.
Die frühen hessischen Tatorte mit dem dezidierten Kommissar Konrad hatten etwas Eigenes, und obwohl er in manchen Filmen eine eher untergeordnete Rolle spielte, war sein Spiel für die dichte Atmosphäre dieser Filme wesentlich. Auch die Verbrecherfiguren waren oft sehr präzise oder ausführlich gezeichnet (wir denken an den letzten Tatort „Die Rechnung wird nachgereicht“). Was damals schon manchmal fragwürdig war: Die Handlungskonstruktionen. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass ein Krimi spannend und logisch zugleich sein kann, aber es auch so umzusetzen, war immer schon eine hohe Aufgabe.
Und auf dem Gebiet hat „Zürcher Früchte“ seine Meriten. Abgesehen davon, dass der Zufall auch hier immer mal wieder an der richtigen Stelle aushilft, denken wir uns die handelnden Pesonen weg, formen die rudimentären Menschen psychologisch ein wenig mehr aus, und es funktioniert immer noch. Einer haute mit 400.000 Mark ab und hier gelingt endlich mal der Flug in die Ferne; die anderen wurden überführt oder getötet. Dass einer der Verbrecher davonkommt, geht am Ende fast unter, weil das Ende dann doch einen Glaubwürdigkeitsschaden aufweist. Aber der Reihe nach.
Schön zunächst, dass Tatort immer wieder bildet. In den 1970ern gab es also auch schon die Steuerflüchtigen, die sich in der Schweiz versammelten, was ja auf beiden Seiten der Grenze in den letzten Jahren für einige Aufregung gesorgt hat. Jenseits der Grenze vor allem deshalb, weil diesseits der Grenze der Unmut über die Steuerhinterzieher und ihre immerhin eine Art Deutsch sprechende Lieblingsoase zunahm. Vom Wackeln des Bankgeheimnisses war in den 1970ern noch keine Rede, da musste ein Hinterzieher schon durch Mitwisser erpresst werden,, um überhaupt in die Fänge des deutschen Staates zu geraten. Zumindest, wenn er so grundgeschickt war wie dieser Herr Brandl, der die stärkste Figur im Film ist. Am Ende wird er das Opfer seiner eigenen Sekretärin, aber sowas soll’s geben, dass eine langjährige Mitarbeiterin etwas von illegalen Transaktionen mitbekommt oder ihr das Wissen sogar anvertraut wird. Eine ganz wichtige Lehre für alle: Niemals niemanden etwas wissen lassen, wenn es nicht aus technischen Gründen unabdingbar ist. Das Wissen des Bankiers ist unabdingbar, auch wenn dieser natürlich nicht nachfragt, ob das Geld auch brav versteuert ist, das in der Schweiz zur Einlagerung kommt. Was geht’s ihn an? Dass sein Haus in den Verdacht gerät, dass etwas durchgesickert ist, also wirklich. Da ist Brandl dann doch nicht auf dem Posten, auch wenn er den alerten Pauly mit der geringen Summe so gut reinlegt, die er an ihn weitergibt. Schweizer Banken leben davon, nicht nach der Herkunft der Gelder zu fragen, die man ihnen anvertraut. Diskretion ist unser Geschäftsprinzip, hieß es mal in einem anderen Krimi süffisant.
Dass eine kleine Verbrecherbande so inhomogen besetzt ist wie diejenige in „Zürcher Früchte“ ist denkbar, denn einer muss ja dabei sein, der den Plan ins Wanken bringt, und dass jemand mitmachen darf, weil man sich kennt und nicht genug Leute mit besseren Verbrechereigenschaften kennt, wieso nicht auch das. Aber kennt man sich auch gut genug und weiß einander einzuschätzen? Gier, und das zeigen uns ja die Tatorte exemplarisch, frisst sich bei gierigen Menschen durch alles Zwischenmenschliche wie eine Raupe und vernichtet das Blatt, das man als Teambasis ansehen kann und findet nicht über einen dünnen Zweig zurück zur nächsten Nahrungsquelle, sondern plumpst ins Nichts. Zumindest im klassischen Krimi, in dem das Verbrechen sich nicht lohnt. So stirbt sogleich einer der drei Erpresser, der zweite ist ständig überfordert und brüllt immer „Halt’s Maul“, und das finden wir viel schlimmer als Schimanskis legendäre, wenige Jahre später startende „Scheiße“-Ära, weil es nicht einen Umstand konstatiert, also feststellend-prollig, sondern aggressiv-prollig gegenüber anderen. Heinz W. Kraehkamp spielt den Stroess, der immer die Fassung verliert, wirklich als lebensechteste aller Figuren und raucht beinahe so viele Zigaretten, wie er Dialogsätze hat. Tragisch, dass der Schauspieler vor drei Jahren an Lungenkrebs gestorben ist.
Am anderen Ende der emotionalen Temperaturskala steht das Ermittlerduo Bergmann und … wie hießt der Assistent? Wegener. Wie Paul Wegener, der berühmte Stummfilmstar. Den assoziiert man also und ist entsetzt. Die dröge Vorstellung, die beide Kriminaler geben, war auch für die damalige Zeit großes Unterstatement, vor allem Wegener wirkt dermaßen hölzern, dass wir von Absicht ausgehen müssen. Dummerweise ist die Absicht nicht parodistisch genug ausgeführt, obgleich Wegener so einen schönen Schüler-Kapuzenmantel trägt, der in war für jene, die nicht einen Parka bevorzugten (Bundeswehr-Ausführung, auch mit Kapuze), oder die vielleicht sogar individuell gekleidet waren. Da Hunold später in vielen Serien erfolgreich war, gehen wir davon aus, dass er hier tatsächlich so dirigiert wurde, dass er wirkt wie ein verklemmter Sekundaner. Bergmanns Art hingegen fällt vor allem deshalb auf, weil man daran gewöhnt ist, dass der markig-kumpelhafte Konrad in Hessen die Fälle löst – jedenfalls war das im Jahr 1978 noch so, als „Zürcher Früchte“ erstmalig gezeigt wurde.
Das Ende des Films kommt unerwartet, obwohl man als Tatortzuschauer immer alle Figuren im Blick behalten und über sie nachdenken muss, denn meist kommen sie nicht umsonst vor. So auch Brandls Sekretärin, die immerhin von der Synchronsprecherin von Schneewittchen in „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937), zweite Synchronfassung 1966, gespielt wird und die zum Ende hin eine wichtige Rolle spielt. Warum das so ist, wird im Grunde zu spät eingeführt, auf diese Schiene konnte der Zuschauer nicht durch Nachdenken kommen. Und vor allem, dass diese unscheinbare Frau eine Kunstschützin erster Kajüte ist, das hätte sich wenigstens aus einem Umstand erklären sollen, der in ihrer Person begründet ist. So wirkt es etwas albern, wie sie Stroess bei Nacht und aus einiger Entfernung präzise mit zwei Schüssen ins Herz dem Jenseits übereignet.
Finale
Wir müssen uns nicht verbiegen und „Zürcher Früchte“ zu einem Ereignistatort hochstilisieren. Aber wir dachten immer wieder: Diese Handlung eignet sich für eine Neuverfilmung im heutigen Stil doch recht gut. Das wäre überhaupt eine Idee, einigermaßen gute Drehbücher aus den alten Tatort-Zeiten noch einmal zu verwenden. Ob das vertraglich ginge, entzieht sich unserer Kenntnis, aber angesichts der Tatsache, dass heutige Filme oft nur Varianten und Zusammensetzungen früherer Werke sind, könnte man auch gleich hingehen und sagen: Das machen wir nochmal, aber besser, dramatischer, emotionaler, visuell expressiver. Vor allem: Das Thema Steuerhinterziehung ist so aktuell wie je und vielleicht würde ein Stroess heute anstatt „Halt’s Maul“ gar nichts mehr sagen, sondern die Frau des erpressten Brandl schlagen oder seine Freundin misshandeln, weil sie doch wieder auf den Strich geht. Wenn schon unkontrolliert, dann richtig.
5,5/10
© 2024 Der Wahlberliner, Thomas Hocke (Entwurf 2015)
(1), kursiv und tabellarisch: Wikipedia
| Regie | Heinz Schirk |
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| Drehbuch | Wolfgang Fechtner |
| Produktion | HR |
| Kamera | Manfred Lowak |
| Schnitt | Elke Herbener |
| Premiere | 12. Feb. 1978 auf Das Erste |
| Besetzung | |
sowie Eckard Rühl, Dieter Rummel, K.H. Staudenmayer, Maja Scholz, Jochen Rühlmann, Sascha Zinty |
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