Briefing 471 Wirtschaft, Gesellschaft, Bahnstreik, GDL, Claus Weselsky, Streikrecht, Arbeitnehmerrechte
Heute, auf der Arbeit, war der Bahnstreik auch ein Thema. Weil einige mit der Berliner S-Bahn kommen, und die gehört zur Deutschen Bahn AG, und die wird bestreikt. Forderungen zur Änderung des Streikrechts liegen angesichts der Unannehmlichkeiten, die die aktuellen Ausstände für viele mit sich bringen, offenbar auf der Hand. Oder etwa nicht? Jedenfalls hat Civey daraus, erstaunlich spät übrigens, eine Umfrage gemacht.
Civey-Umfrage: Sollte das Streikrecht Ihrer Meinung nach reformiert werden? – Civey
Begleittext aus dem Civey-Newsletter
Gestern fand der sechste Bahnstreik in der laufenden Tarifrunde zwischen der Deutschen Bahn (DB) und der Lokführergewerkschaft GDL statt. Hauptstreitpunkt zwischen den Konfliktparteien ist die Wochenarbeitszeit. Die GDL fordert eine Senkung von 38 auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich für Angestellte in Schichtarbeit. Mit Verweis auf den Personalmangel wies die DB die Forderung bisher zurück. Mittlerweile würde die DB eine schrittweise Reduktion auf 36 Stunden bis 2028 akzeptieren, der GDL reicht das laut ARD nicht.
Die CDU-Bundestagsabgeordnete Connemann fordert, das Streikrecht im Bereich der kritischen Infrastruktur einzuschränken. Dazu zählen etwa der ÖPNV, die Energie- oder Wasserversorgung oder Krankenhäuser. Konkret schlug sie gestern im rbb ein verpflichtendes vorgelagertes Schlichtungsverfahren vor Streiks in diesen Bereichen vor. Ein Schutz vor Feiertagen sowie eine 48-stündige Ankündigungsfrist waren weitere Forderungen. Jeder Streiktag würde ihr zufolge 100 Millionen Euro kosten und somit die Wirtschaft belasten.
Die Bundesregierung lehnt Änderungen am Streikrecht ab. „Wir mischen uns in Tarifverhandlungen grundsätzlich nicht ein“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag laut dpa. „Es gibt Tarifautonomie in Deutschland. Die gilt auch, wenn es unbequem wird.“ Das Arbeitsgericht Frankfurt scheint das ähnlich zu sehen. Die DB hatte erfolglos versucht, den gestrigen Streik gerichtlich zu stoppen. Das Gericht entschied laut ntv am Montag, dass die Streiks recht- und verhältnismäßig sind.
Der neue Gottseibeiuns des Kapitals und des ihm hörigen, also überwiegenden Teils der Presse, heißt Claus Weselsky und ist Chef der Lokführergewerkschaft GDL. Interessanterweise steht in der Wikipedia-Seite über ihn noch gar nichts zu den aktuellen Streiks. Claus Weselsky – Wikipedia.
Auf der anderen Seite müssten bei dem Begriff „Reform“ bei jedem Menschen, der nicht zu den Kapitalisten zählt, die Alarmglocken läuten. Seit Jahrzehnten wird dieser eigentlich progressive Terminus missbraucht, um die Schlechterstellung der arbeitenden Mehrheit voranzutreiben.
Wie kontrovers dieser Gewerkschafter auch immer sein mag, wir warnen dringend davor, das Streikrecht auszuhöhlen. Noch ist der Schutz der Arbeitnehmerrechte in Europa besser als irgendwo sonst auf der Welt. Und egal, ob man den aktuellen Bahnstreik okay oder überzogen findet, mit der Ahnahme des Organisationsgrades Arbeitnehmer nimmt auch deren Macht im Kampf gegen die Interessen des Kapitals ab und die Fähigkeit von Gewerkschaftlern, die „Arbeitgeber“-Seite unter Druck zu setzen. Außerdem verdienen Lokführer nun nicht so viel, dass es keine berechtigen Forderungen mehr geben würde. Auch die Arbeitszeitverkürzung ist progressiv.
Man darf sich von Lobbyisten des Kapitals nicht einreden lassen, wir müssten jede Woche und das ganze Leben lang immer mehr arbeiten, um am Ende wieder dort zu landen, wo es zu Beginn der Industrialisierung mal angefangen hatte, nämlich bei 12 bis 15 Stunden wöchentlich, ohne freie Samstage und natürlich ohne Rentenansprüche und für einen lächerlichen Lohn. Das einzige, was wohl nicht mehr werden könnte wie früher, sind die überharten körperlichen Arbeitsbedingungen. In Deutschland sinkt die Produktivität, sonst wäre es gar kein Thema, Arbeitszeitverkürzungen auch als Teil einer Logik anzusehen, die in Zukunft weiterhin immer mehr menschliche Arbeit überflüssig machen wird.
Wieder einmal versuchen die Neoliberalen, die Arbeitnehmerrechte weiter zu beschädigen, die ohnehin in der Defensive sind und benutzen dazu die aktuelle Streiklage, man kann auch sagen, ein Typ wie Claus Weselsky, auf den man sich einschießen kann, kommt ihnen gerade recht. Und es funktioniert, nicht weniger als 44 Prozent der Abstimmenden wollen tatsächlich die einzige Möglichkeit von Arbeitnehmern, sich dem Totaldurchgriff des Kapitals entgegenzustellen, nämlich das Streikrecht, aufbrechen. Natürlich sind ein paar dabei, die damit nichts anderes als ihre eigenen Interessen vertreten, aber auch viele Arbeitnehmer:innen, die auf dieses Spiel hereinfallen.
Nur 27 Prozent verstehen aktuell, worum es wirklich geht und warum man es der SPD hoch anrechnen muss, dass sie das Streikrecht nicht antasten will, auch nicht für den ÖPNV, der somit ein Dosenöffner für weitere Schwächungen der Arbeitnehmerrechte wäre.
Wären Streiks für die Bevölkerung nicht unangenehme, wären sie wirkungslos, das muss man einfach verstehen, wenn man selbst Arbeitnehmer ist. Auch wenn man irgendwo tätig ist, wo man sich darüber ärgert, dass man keine starke Organisation, möglicherweise gar keine, hinter sich hat, sondern als Einzelkämpfer versuchen muss, das beständige Sägen einer rechten Mehrheit an sozialen Tatbeständen abzuwehren. Es kann nicht danach gehen, ob es einem gerade selbst taugt, wenn Arbeitnehmer kämpfen, sondern man muss das Ganze und die Solidarität mit anderen Arbeitnehmer:innen im Blick behalten.
Viele werden sich nicht mehr daran erinnern, welche Macht die Gewerkschaften, verbunden mit Namen wie dem DGB-Vorsitzenden Vetter und dem IG-Metall-Chef Loderer einst hatten. Daran gemessen ist die GDL tatsächlich klein. Wirkungslos ist sie nicht, weil sie einen Nerv trifft, und der heißt Transportwesen. Dadurch hat sie eine über ihre Größenordnung hinaus wirksame Position. Sie erinnert aber auch daran, dass es schlecht bestellt ist um den Organisationsgrad von Arbeitnehmer:innen und damit um ihre Möglichkeiten, ihre Rechte zu schützen und zu stärken. Zu vieles hängt von der Politik und deren Wohlwollen ab.
Symbolisch dafür stehen die vielen Gewerkschaftler:innen der letzten Jahrzehnte, die in die Politik gewechselt sind und dort teilweise arbeitnehmerfeindlich gehandelt haben. Claus Weselsky hingegen hat das Angebot der Deutschen Bahn abgelehnt, auf die andere Seite überzulaufen und als Manager für sie zu arbeiten.
Das Streikrecht in Deutschland ist ohnehin eingeschränkt, weil es keine Generalstreiks gegen darf, weil nicht politische Maßnahmen bestreikt werden dürfen, sondern Gegenstand immer konkrete Lohnforderungen und andere branchenbezogene Arbeitskampfelemente wie die Arbeitszeitgestaltung sein dürfen. Das AG Frankfurt hat nach unserer Auffassung richtig entschieden, als es auch die aktuellen Bahnstreiks zuließ. Wir haben mit „eindeutig nein“ bezüglich der von interessierter Seite geforderten Aufweichung des Streikrechts gestimmt.
TH
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