Briefing 476 Geopolitik, Gesellschaft, Demokratie in Gefahr, Autokratien werden zahlreicher
Über die Demokratie in Gefahr schreiben wir häufiger, zum Beispiel
- Vor wenigen Tagen hier: „CDU-Klage: Sie haben es so gewollt.“ (Lobbycontrol + Kurzkommentar) | Briefing 475 und hier: Der nächste US-Präsident: Trump oder Biden? | Briefing 473
Und man kann vor allem eines herauslesen, gleich ob die Vorgänge das Inland oder das Ausland betreffend: Es werden Frontalangriffe gegen die Demokratie gefahren. Und das in klassischen Demokratien, zu denen auch die BRD mittlerweile zählt und von Parteien, die einst diese Demokratien mitbegründet haben.
Wie viel schwieriger ist es also für instabile Gesellschaften, die im starken Wandel begriffen sind, sich in Richtung Demokratie zu orientieren? Es muss ja beinahe so kommen, wie es sich derzeit entwickelt. Hinzu kommen Vorgänge wie die sogenannte Präsidentschaftswahl in Russland, bei der ein Autokrat klar zeigt, dass er auf die Demokratie scheißt, beklatscht von anderen Autokraten und harten Diktatoren. Dass es also in den Schwellen- und Transformationsländern in Sachen Demokratie nicht vorangeht, liegt auf der Hand und daran sind vor allem zwei Faktoren schuld, die einander bedingen:
- große Diktaturen wie Russland und China gewinnen weltweit an Einfluss,
- der Westen wird seiner Vorbildrolle in Sachen Demokratie immer weniger gerecht.
Wie aber sieht es derzeit konkret aus, dort, wo die Systeme für Veränderungen in jede Richtung besonders anfällig oder geeignet sind?

Diese Statista-Grafik wurde unter einer Lizenz CC BY-ND 4.0 Deed | Namensnennung-Keine Bearbeitung 4.0 International | Creative Commons erstellt und wir geben sie unter gleichen Bedingungen wieder. Folgend der Statista-Begleittext dazu, dann weiter mit unserem Kommentar.
74 der 137 von der Bertelsmann Stiftung im Rahmen des Bertelsmann Transformation Index untersuchten Schwellen- oder Transformationsländern, die 1989 noch kein OECD-Mitglied waren, sind gemäßigte oder harte Autokratien. Diese Einschätzung ergibt sich aus einer Analyse von 18 Indikatoren in den Bereichen „freie Wahlen und politische Beteiligung“ sowie „Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats und des Staats sowie die Akzeptanz, Repräsentativität und die politische Kultur des demokratischen Systems“. Erreicht ein Land einen Indexwert von vier von zehn Punkten oder weniger, gilt es als Autokratie. Damit zeigen erstmals in der Geschichte des Index mehr untersuchte Länder autokratische als demokratische Züge. Für diesen Wandel waren lediglich vier Jahre nötig, wie unsere Grafik zeigt.
Noch 2020 standen 63 Autokratien 74 defekten oder sich konsolidierenden Demokratien gegenüber, das Verhältnis hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt seit 2012 nicht wesentlich geändert. Neuzugänge bei den autokratischen Staaten sind unter anderem Benin, El Salvador, Tunesien und Papua-Neuguinea. Russland rutscht eine Kategorie nach unten und wird im Vergleich zur letzten Ausgabe des Index von 2022 als harte Autokratie bewertet, ebenso wie Simbabwe, Guatemala und Mali.
Neben dem Zustand der Demokratie bewertet der Bertelsmann Transformation Index entsprechende Länder in zwei weiteren Teilindices hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Fortschritte und der „Qualität politischer Steuerung von Transformationsprozessen“. Auf dem Gesamtindex, der politische und wirtschaftliche Transformation vereint und den untersuchten Länder forschrittliche, begrenzte und gescheiterte Transformation bescheinigt, belegen Estland, Taiwan und Litauen die ersten Ränge, während sich Eritrea, Syrien und Yemen am untersten Ende befinden.
Selbst, wenn die westlichen Demokratien im Inneren perfekt wären, aber es nicht zu einer anständigen, fairen postkolonialen Politik gegenüber anderen Staaten käme, wäre die Situation nicht zu meistern. In der EU sorgt vor allem die arrogante französische Politik dafür, dass keine neue gemeinsame Strategie für eine gleichberechtigte Zukunft aller Staaten entwickelt werden kann, und in Deutschland ist man zu bequem, um eigenständiger zu handeln. Von den USA gar nicht zu reden. Es ist nur allzu logisch, dass sich viele Staaten der Erde von diesem größeren oder kleineren Imperialismus nicht mehr länger dominieren lassen wollen. Es ist verführerisch, für die leider allermeist korrupten Eliten dieser Staaten, mit der Antihaltung dem außenpolitischen Handeln des Westens gegenüber auch die Demokratieform des Westens für obsolet zu erklären. Dass ein Andocken an China oder / und Russland es nicht besser macht, gilt zwar für die Bevölkerungen, nicht aber für die Eliten, die von diesen Ländern gestützt werden.
Die Situation ist grundsätzlich verfahren, weil der Westen nicht viel Werthaltiges anzubieten hat. Deutlich wird das an der Tatsache, dass ein panisches Herumreißen des Ruders in Richtung faire Kooperation von den plötzlich Umworbenen als opportunistisch wahrgenommen würde und dort, wo man es versucht, auch so wahrgenommen wird. Die geopolitischen Verhältnisse sind nachhaltig gestört und das mit Ansage. Man hat die Nachwendezeit, das vorläufige Ende des Kalten Krieges, nicht dazu genutzt, ein neues Kapitel von internationaler Kooperation aufzuschlagen, sondern war im Westen der Ansicht, für immer gewonnen zu haben. Also feierte man sich selbst und bemerkte nicht, wie viel Unmut das in weiten Teilen der Welt auslöste, wo alte Wunden weiterschwelten und neue hinzukamen. Der Terrorismus der 2000er fiel nicht vom Himmel, ebenso wie der Autokratismus der letzten Jahre keine Entwicklung ist, die man nicht hätte vorhersehen können. Deutschland ist besonders gefährdet, ökonomisch und demokratietechnisch gleichermaßen abzurutschen und damit an Einflussmöglichkeiten zum Guten zu verlieren.
Überschlägig betrachtet ist die Entwicklung des Landes schon seit 1990 schwach (im Grunde schon länger, aber viele der betrachteten Zeitreihen befassen sich aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit mit der Zeit seit der Wiedervereinigung). Wir haben die Zahl unserer Beiträge auch deshalb reduziert, weil wir langsam müde werden.
Es ist zu mühsam, jeden Tag darauf hinzuweisen, dass es auch an uns liegt, was passiert und wie alles, was wir tun, auch seine Wirkungen woanders hat, also den Schmetterlingseffekt darzustellen. Wir haben eben die Politik, die wir verdienen, und das politische Angebot ist so, wie wir es haben wollen, nicht umgekehrt. Das ist eben immer noch der Unterschied: Wer hierzulande eine solidarische Partei für Frieden und Fortschritt gründen will, die der herrschenden Politik etwas Werthaltiges und Zukunftsträchtiges entgegenstellt, ohne dabei verräterische ideologische Altlasten mit sich herumzuschleppen, kann das immer noch tun. Wenn es nicht passiert, ist das unser Versagen als Demokraten. Wir können also nicht andere Staaten und deren Menschen dafür schelten, dass sie einfach keine Lust haben, sich in unsere Richtung zu entwickeln, wenn wir selbst so wenig Lust an der Demokratie zeigen. Selbst, wenn wir die Demokratie viel lebendiger gestalten würden, wäre das kein Grund, sich überheblich zu zeigen. Aber so, wie die Dinge gegenwärtig laufen, sollten wir uns dafür schämen, dass wir uns immer wieder hochnäsig über andere Länder und die dortigen Zustände äußern.
Wir leben von einem Geschenk der Geschichte, von einem einmaligen Angebot, das gerade aus der Zerstörung der deutschen Zivilisation heraus entstanden ist und insofern das eigentliche Wunder der Nachkriegszeit darstellt. Wir gehen mit diesem Geschenk nicht sehr sorgsam um; wir gebieten denjenigen in der Politik, denen es nichts mehr wert ist, keinen Einhalt. Wenn wir das nicht können, wie sollen es Menschen in armen, krisengeschüttelten Ländern, die um ihre Existenz kämpfen, die nicht so viel Glück hatten, es sich mit ihren geringen ökonomischen Ressourcen erkämpfen? Es ist leider so, dass die Erfahrungen der Nazizeit langsam in Vergessenheit geraten, der Krieg mit allen Folgen. Zeitzeug:innen gibt es sehr wohl noch, denen sollte man zuhören. Und endlich Statistiken wie die obige auch als Warnung an uns selbst verstehen. Die Zivilisation entwickelt sich rückwärts und die Zeit der Geschenke ist vorbei.
Die Zeit, wieder zu kämpfen, wie es einst die Arbeiterbewegung getan hat, ist angebrochen. Wer das nicht versteht, hat keine funktionierende Demokratie verdient. Egal, ob sie einst erkämpft oder glücklich geschenkt wurde. Deutschland hat im Freedom-House-Freiheitsindex gerade wieder ein Minus zu verzeichnen. Einen Rückgang von 94/100 auf 93/100. Klingt winzig, ist auf dem Niveau aber schon gefährlich und kann aber zu weiteren Verlusten führen. Die State-of-the-Art-Demokratien in Skandinavien haben teilweise ihren 100-Punkte-Status verloren. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Wer solche Entwicklungen hinnimmt, der braucht sich über den Sieg des Autokratismus in Ländern, in denen die Bevölkerung nicht so viele Möglichkeiten hat, ihm entgegenzuwirken, wie das bei uns der Fall ist, nicht aufzuregen.
TH
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