Crimetime 1203 – Titelfoto © ORF / Cult-Film, Bernhard Berger
Der Polizist aus Wien und der Minarettstreit von Telfs
Baum der Erlösung ist der Titel des 717. Tatort-Krimis. Chefinspektor Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) wird in seinem 20. Fall mit zwei aufeinanderprallenden Kulturen konfrontiert, was die Aufklärung des Mordes an einer jungen Türkin und ihrem Tiroler Freund nicht einfacher gestaltet. Der ORF-Fernsehfilm nach einem Drehbuch von Felix Mitterer wurde am 4. Januar 2009 erstgesendet. Besondere Aufmerksamkeit, insbesondere in Österreich, erregte er durch die Verarbeitung des realen Minarettstreits von Telfs in der Krimihandlung.
Der ORF bettete den Film in einen Themenabend „Islam“ ein. Mit 1,039 Millionen Zuschauern und 35 % Marktanteil[2] erreichte der Tatort in Österreich eine ungewöhnlich hohe Einschaltquote.[3]
Harald Krassnitzer hatte sich nach eigenem Bekunden darauf gefreut, diesen Tatort machen zu dürfen, in dem so direkt wie in kaum einem anderen Bezug auf einen politischen Realstreit genommen wurde. Alles ist echt, die Personen und die Handlung sind keineswegs zufällig gewählt. Auch wurde on location gefilmt, das Minarett im Film ist genau dasjenige der echten Eyüp-Sultan-Moschee, die 1979 bereits eröffnet wurde, aber erst 2006 das Minarett bekam. 15 Meter hoch, nicht, wie ursprünglich geplant, beinahe 30. Weiteres zum Film steht in der Rezension.
Handlung (1)
Die türkische Familie Özbay sitzt trauernd am Tisch. Plötzlich trommelt die junge Melisa ihrem Vater auf die Brust und schreit: „Du sollst sie dir anschauen“, und dann: „Katil! Katil!“ (türkisch für „Mörder“) Melisa meint, auch sie habe einen Tiroler Freund, und als Vater und Bruder empört und aufgebracht reagieren, ergänzt sie, dass man sie nicht in den Tod drängen werde. Als ihr Bruder zuschlagen will, wird das von der Mutter unterbunden. Kurz zuvor hatte man Melisas Schwester Ayşe Özbay erhängt an einem Baum aufgefunden. Dieser Baum wird in der Bevölkerung, speziell unter den Migranten, nur Der Baum der Erlösung genannt, da sich hier innerhalb des vergangenen Jahres schon weitere vier junge Menschen aufgehängt haben, die zwangsverheiratet werden sollten. Es stellt sich heraus, dass Ayşe sich nicht selbst umgebracht hat und außerdem, dass sie schwanger war. Chefinspektor und Sonderermittler Moritz Eisner wird nach Telfs beordert, um sich des Falls anzunehmen. Die örtlichen Polizisten Franz Pfurtscheller und der junge türkischstämmige Polizist Vedat Özdemir werden ihm zur Seite gestellt. Pfurtscheller erklärt Eisner am Baum der Erlösung, dass die türkischen Mädchen sich verlieben würden, ihre Väter aber bereits andere Ehemänner für sie ausgesucht hätten und, wie er das sehe, sich noch einige an diesem Baum aufhängen würden.
Martin Greiner, der einheimische Freund Ayşes, wird vermisst und schließlich mit eingeschlagenem Schädel in einem See aufgefunden. Ayşes älterer Bruder Serkan hatte sich in jener Nacht, etwa zur Todeszeit der jungen Frau, auffällig bei Edith Greiner, Martins Mutter, in deren Lokal nach ihrem Sohn erkundigt. Er wollte wissen, ob er ihr denn heute nicht im Lokal helfe – als habe er sich ein Alibi verschaffen wollen. (…)
Rezension
An dieser Stelle müssen wir anlässlich der Republikation des Textes im Jahr 2024 ergänzend vorausschicken, dass das Folgende weitgehend aus der Ursprungsfassung von 2015 übernommen wurde, aber nicht notwendigerweise den Stand bezüglich der Migration und der Anteile von Menschen mit Migrationshintergrund in den Ländern Deutschland und Österreich wiedergibt, gleiches gilt für den Stand der Debatte um die Migration. Der Text stammt noch aus der Zeit vor der Fluchtbewegung nach Deutschland ab Herbst 2015, wurde ursprünglich schon im Jahr 2013 verfasst, wurde aber im „alten“ Wahlberliner während der Millionenwanderung im Herbst 2015 / Winter 2015/16 wiederum einige Monate später veröffentlicht. Wir erwähnen das, weil gerade damals eine erhebliche Veränderung der Situation eintrat.
Prozentual leben in Österreich tatsächlich mehr Muslime als in Deutschland (1), das hat uns ein wenig überrascht, nehmen wir doch die Aufregung, die es auch drüben bezüglich Glaube, Integration, Kultur gibt, als eher übertrieben wahr, angesichts der Übersichtlichkeit des Landes und der auf uns vergleichsweise friedlich wirkenden Zustände. Allerdings ist ein Problem ja immer eins für den, der es hat und ein Anteil von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund von 20 % an der Einwohnerzahl, wie in Telfs, ist beachtlich. Die Österreicher fühlen sich weniger als wir der Nazi-Vergangenheit verpflichtet, andererseits sind sie grundsätzlich dezenter im Umgang, das gleicht sich vermutlich aus und lässt auch einen Kulturkampf und eine „Überfremdungs“-Kontroverse zu. Vielleicht liegt es eben gerade an der Überschaubarkeit, dass man besser pointieren kann als in der deutschen Gemengelage, wie wir sie als Mainstream-Medienkonsumenten und als Nichtangehörige einer ethnischen Minderheit so wahrnehmen, wie wir sie in Berlin täglich vor Augen sehen – zu differenziert, um sie in medienwirksame Schlagworte zu fassen.
In Berlin leben mehr Muslime als die zweitgrößte österreichische Stadt, Graz, an Einwohnern zählt. Naturgemäß ist auch das islamische Leben hier sehr vielfältig und die Integrationsstufen, die Art der Religionsausübung und die soziokulturelle Praxis dieser vielen Menschen lassen sich nicht auf einen Nenner bringen oder gar in enge Klischees stopfen.
Hintergrund
Felix Mitterer schrieb das Drehbuch, das auf authentisches Geschehen zurückgeht. Unter Regie von Harald Sicheritz wurde der Film im Sommer 2008 in Telfs und Umgebung sowie in Wien gedreht.
2005 wurde ein kontrovers diskutierter Antrag der ATIB (Türkisch Islamische Union für Kulturelle und Soziale Zusammenarbeit in Österreich) auf Bau eines Moscheeturms in der österreichischen Gemeinde Telfs in den Medien zum Minarettstreit von Telfs stilisiert.
Im Zentrum des Streits standen der Bürgermeister der Gemeinde Stephan Opperer und der FPÖ-Politiker Gerald Hauser. Teile der nichtmuslimischen Bevölkerung Telfs hatten Vorbehalte gegen den Bau des Turms, die Gründung einer Bürgerinitiative gegen das Vorhaben folgte. Das in der Planung befindliche 20 Meter hohe Minarett genügte jedoch vollends den Bestimmungen der Bauordnung Tirols, weshalb Bürgermeister Opperer den Standpunkt vertrat, dass es für eine Untersagung des Baus keine rechtliche Grundlage gäbe. Diese Haltung brachte ihm u.a. Morddrohungen ein. Die Kontroverse nahm laut Medienberichten Ausmaße eines „regelrechten Kulturkampfes“ an.[3] Um die emotionsgeladene Stimmung in Telfs zu beruhigen, wurde schlussendlich verhandelt, den Turm fünf Meter niedriger zu bauen. Die Baubewilligung beinhaltete des Weiteren die Auflage, dass auf am Turm angebrachte Lautsprecher zu verzichten sei.
Im März 2006 wurde die Moschee mit einem Gebetsturm ergänzt. Er ist der erste Bau eines Minarettes in Tirol.
Der Minarettstreit machte die Gemeinde Telfs überregional bekannt und zum Gegenstand von zahlreichen Artikeln und Reportagen.
Der Autor Felix Mitterer verarbeitete den Minarettstreit in dem 2009 gesendeten Tatortkrimi Baum der Erlösung, der in Österreich in einen ORF-Themenabend über Integration eingebettet wurde. Der Krimi wurde von seinem Autor als „Aufruf zur Versöhnung“ angelegt. Anschließend an die Ausstrahlung des Krimis wurde eine in Telfs gedrehte Sendefolge von „Am Schauplatz“[4] ausgestrahlt, in der über das Miteinanderleben der unterschiedlichen Kulturen in dieser 15.000-Seelengemeinde, in welcher 3.000 mit türkischem Migrationshintergrund leben, berichtet. Es kamen sowohl Einheimische als auch Zuwanderer dabei zu Wort. Im Anschluss daran war eine Diskussionsrunde unter Leitung der Moderatorin Ingrid Thurnher über Integration, speziell der Moslems, in Österreich.
(Handlung, Besetzung, Stab: DAS ERSTE, Hintergrund überwiegend: WIKIPEDIA)
Rezension
In „Baum der Erlösung“ wird das Geschehen des Minarettstreits zugespitzt und mörderisch überzeichnet, aber wär’s anders, wär’s kein Tatort, und mit den im Film tödlichen Folgen für junge Menschen, die sich aus der Borniertheit der älteren Generation und dem ergeben, was sie an die Jungen vermittelt, lässt sich gut darstellen, wie schön das Leben miteinander sein könnte, wenn es nicht immer diese dumpfen Vorurteile einerseits und reaktionären Wertvorstellungen andererseits gäbe.
Keine Frage, dass dies nicht nur ein politisch dankenswert dezidierter und trotzdem im Rahmen der Möglichkeiten ausgewogener Film ist, er ist auch ein recht guter Tatort, der als Whodunnit seine Aufgabe recht gut erfüllt. Dass der blonde Bruder des in die hübsche Türkin Yasemin verliebten Christian sich am Ende als Mörder entpuppt, war aufgrund Ausschlussverfahrens nicht überraschend. Der dumpfe Vater durfte es genauso wenig sein wie einer der jungen Migrantensöhne. Das macht eine gewisse Vorhersehbarkeit, in dem Moment, wo oben auf dem Berg die Brüder erstmalig zusammen sichtbar sind, aber es ist trotzdem spannend.
Vor allem eben wegen des Kulturkampfes, der ein wenig kitischig darin endet, dass der verblendete Vater des ungleichen Brüderpaares sich neben Vater Özdemir auf den Gebetsteppich kniet. Der gewollte Aufruf zur Versöhnung ist damit eindeutig, die frauenfeindlichen Praktiken der Migrantenfamilie, die mit Religion gerechtfertigt werden, sind ebenso abgehandelt wie der dumpfe Fremdenhass und die jungen Menschen, die nationenübergreifend Liebe füreinander empfinden, sind eh die Zukunft. So weit, so gut. Und angesichts des grandiosen, erhebenden Bergpanoramas auch irgendwie stimmig, dass man am Ende wieder als Gefahrengemeinschaft an einem Strang zieht und gemeinsam Vorrichtungen gegen den Abgang von Lawinen baut oder im Maschinenbaubetrieb vor Ort nebeneinander arbeitet.
Auch die Aufnahme eines Wiener Ermittlers vor Ort ist ja immer wieder ein beliebtes Konfliktthema in den Österreichischen Tatorten, und da die Wiener tatsächlich ein wenig anders sind als die übrigen Österreicher, lässt sich daraus manch witziger Dialog schöpfen (der Innsbrucker Kollege sagt zu Eisner, Ihr Wiener seids eh alle Tschuschen). Wobei die Tschuschen früher eher für die nicht-deutschen, speziell südosteuropäischen Nationalitäten in der K. u. K.-Monarchie standen und der Begriff für eine bestimmte Art von fremd sein auf die Türken übertragen wurde, die in den letzten Jahrzehnten eingewandert sind.
Finale
Für uns gehört „Baum der Erlösung“, den man auch „Baum der Erkenntnis“ hätte nennen können, nicht nur zu den guten, sondern auch zu den wichtigen Tatorten, die einen Sonderplatz in der langen, mittlerweile 950 Filme umfassenden Liste einnehmen. Dass man hingegangen ist und einen politisch-kulturellen Streit so direkt angefasst hat, finden wir gut, weil mutig. Unseres Wissens gibt es keinen deutschen Tatort, der anlässlich religiös-weltanschaulicher Thematik im Zusammenhang mit Migration so wenig fiktionalisiert.
Zumindest ist es bei uns aber auch so, dass manche Verbandsfunktionäre es nicht so mit der Kritikfähigkeit haben und sofort Protest einlegen, sobald auch nur in Maßen etwa ein vordemokratischen Geschlechterbild ins Visier genommen wird. Das kann schon einmal, wie in „Wem Ehre gebührt“, zu einer Verbannung des betreffenden Films in den Tatort-Giftschrank führen. Die weniger direkte und eben mehr fiktionalisierte Variante des Themas von „Baum der Erkenntnis“ ist u. a. im nicht giftschrankgefährdeten und daher schon mehrfach wiederholten Tatort „Schatten der Angst“ zu sehen, den wir bereits für den Wahlberliner rezensiert haben.
Eigentlich ist das ein sehr sympathischer und mit humanistischem Appell versehener Ansatz, wie in „Baum der Erlösung“ an das bestimmende kulturelle Thema unserer Zeit herangegangen wird, und einen Appell an die Vernunft und ans Zusammenwirken aller muss man schon aus Vernunftgründen unterstützen, in einer Zeit, in der wir unsere Kräfte zunehmend für die echten Herausforderungen brauchen, die sich aus der schwelenden Wirtschaftskrise ergeben. Wäre das aber so einfach wie es logisch ist, zu sagen, dass wir einander brauchen, dann gäbe es schon längst ein globales Bewusstsein in ökonomischer und politischer Hinsicht anstatt anhaltender Haarspaltereien und Egoismen – und fortwährender Spannungen, die tatsächlich zu Todesfällen aufgrund irrationaler religöser oder nationaler Überhöhungen führen können.
Die vorliegende Rezension ist der Tandem-Beitrag zum aktuellen Wien-Tatort „Gier„.
(1) Stand zur Zeit der ursprünglichen Verfassung der Rezension im Juni 2013, der Tenor des Beitrags entspricht ebenfalls den Erkenntnissen dieser Zeit und berücksichtigt nicht neueste Entwicklungen bis zur formalen (Juni 2015) oder realen Publikation (Januar 2016). Allerdings ist jetzt auch ein guter Zeitpunkt für die Veröffentlichung. Gerade bei dieser Rezension betonen wir, dass wir bei der Überarbeitung zwecks Publikation keine Inhalte dieses vor zweieieinhalb Jahren verfassten Textes geändert haben.
© 2024, 2015 Der Wahlberliner, Thomas Hocke
| Regie | Harald Sicheritz |
|---|---|
| Drehbuch | Felix Mitterer |
| Produktion | |
| Musik | |
| Kamera | Thomas Kiennast |
| Schnitt | Ingrid Koller |
| Premiere | 4. Jan. 2009 auf ORF |
| Besetzung | |
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